Hamburg. In den Fünfziger bis Achtziger Jahren lebten wir im Schatten einer ständigen Gefahr – aber wir lebten nicht schlecht. Ein Blick zurück.
We share the same biology Regardless of ideology What might save us, me, and you Is if the Russians love their children too
1985 schrieb der britische Musiker Gordon Matthew Thomas Sumner, besser bekannt als Sting, einen Song, der zu einer Hymne in Zeiten des Kalten Krieges wurde – „Russians“. Er sang davon, dass „in Europa und in Amerika das Gefühl der Hysterie wächst/Erzogen, auf alle Drohungen zu reagieren, die die Sowjets ausstoßen“ und wir zwar nicht die Ideologie, aber die Biologie teilen. Stings Botschaft: „Was uns retten könnte, mich und dich, ist, dass die Russen ihre Kinder auch lieben“.
Krieg gegen die Ukraine – er ist nicht mehr kalt
Das klang für unsere Ohren damals zutiefst wahr, später fanden wir es etwas kitschig, und nun ist es wieder aktuell. Der Kalte Krieg ist zurück, dieser schwer erträgliche Wiedergänger längst vergangener Zeiten. In der Ukraine ist dieser Krieg längst heiß, täglich sterben Menschen, Soldaten wie Zivilisten, Not und Elend erobern das Land – so wie im vergangenen Jahrhundert in zahllosen Stellvertreterkriegen, in Afghanistan oder Chile, in Angola oder Vietnam.
Mit dem Kalten Krieg kehrt auch die Angst zurück. Die Welt scheint plötzlich ein gefährlicher Ort zu sein. Vor zwei Wochen diskutierten wir noch aufgeregt über Gendersterne, nun fürchten um wie die Zukunft des Planeten. Die Aufregung ist auch deshalb so groß, weil wir aus unseren Träumen gerissen wurden und verschreckt auf eine Welt blicken, die sich offenbar viel weniger verändert hatte, als wir in den vergangenen Jahren illusionierten.
Kriegsangst ist vielen Menschen noch bekannt
Trösten wir uns: Viele kennen es schon – wer in den Fünfziger, Sechziger, Siebziger oder Achtzigerjahren jung war, erinnert sie noch, die elementare Kriegsangst. Sie steckte uns in den Knochen, drang aus allen Poren, beherrschte unsere Gedanken und Gefühle. Sie war Teil der Nachrichten, der Kultur, des Alltags. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, sogar an die Angst.
Mitte der Achtzigerjahre horteten die beiden Supermächte USA und die Sowjetunion sowie die damaligen Atomstaaten China, Frankreich, Großbritannien und Indien rund 70.000 Atomsprengköpfe – heute sind es weltweit „nur“ noch 13.000 – allerdings sind mit Pakistan, Israel und Nordkorea weitere Atommächte hinzugekommen. Die Welt ist vielleicht nicht sicherer geworden, unsicherer aber auch nicht.
Nena stürmte mit „99 Luftballons“ die Charts
Aber reisen wir zurück in eine Zeit, die Jüngere heute nur noch als modische Verirrung erinnern. Es war eine Zeit der Angst, Aufrüstung und Atomkrieg waren nicht nur Teil der politischen Debatte, sie wurden Teil der Popkultur. Der Hamburgerin Nena gelang das Kunststück, mit ihrem Song „99 Luftballons“ („99 Jahre Krieg ließen keinen Platz für Sieger/Kriegsminister gibt’s nicht mehr und auch keine Düsenflieger) mit einem deutschsprachigen Song die Charts in den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu stürmen.
Die 17-Jährige Nicole trällerte sich mit ihrer weißen Gitarre und dem schlichten Schlager „Ein bisschen Frieden“ sogar auf den Chanson-Olymp. Ob „Leningrad“ von Billy Joel, „Cruise Missiles“ von Fischer Z, „Forever Young“ von Alphaville oder „Mad World“ von Tears for Fears – sie alle besangen ein Leben im Schatten des gefühlten Todes, verliehen einem manisch-depressiven Lebensgefühl zwischen Weltschmerz und Weltuntergang Ausdruck.
Atomkrieg war eine reale Bedrohung
Wir konnten dem drohenden Atomkrieg nicht entkommen, selbst wenn wir es gewollt hätten. Er drohte von Zeitschriftencovern, Postern, Plakaten, ja selbst in Kinderbüchern. Wir kannten noch zwei Pilze – den Fliegenpilz und den Atompilz. Gudrun Pausewang – auch sonst nicht unbedingt die Verfasserin von Gute-Laune-Romanen - schockte uns Jugendliche mit „Die letzten Kindern von Schewenborn“ – einem Roman, in dem der Atomkrieg ein hessisches Dorf heimsucht und Tod und Verderben bringt. Heute würde man mit einem derartigen Plot sämtliche Pädagogen und Kinderschützer gegen sich aufbringen, damals regnete es Preise wie den Buxtehuder Bullen, den Zürcher Kinderbuchpreis oder den Gustav-Heinemann-Friedenspreis, in vielen Klassen waren „Die letzten Kindern von Schewenborn“ Schullektüre.
Im deutschen Kino lief „The Day After – Der Tag danach“, ein amerikanischer Fernsehfilm, der die Folgen eines fiktiven Atomkriegs in den Vereinigten Staaten plastisch erzählt. 1983 füllte er mit der Nachrüstungsdebatte europaweit die Lichtspielhäuser. Kurz zuvor hatte uns „War Games“ erschüttert, kurz danach der Zeichentrickfilm „Wenn der Wind weht“ – übrigens freigegeben ab 6 Jahren. Der Untergang, er war ein Blockbuster.
Der Atomare Winter war unsere fünfte Jahreszeit
Über Monate war Franz Alt mit seinem Büchlein „Frieden ist möglich“ unangefochtener Tabellenführer der Bestsellerlisten. In den Buchläden stapelten sich die Sachbücher über die atomare Gefahr regalweise – ob Horst-Eberhard Richters „Alle redeten vom Frieden“, die „Nukleare Nacht“ von Paul R. Ehrlich und Carl Sagan oder von Jonathan Schell. „Das Schicksal der Erde. Gefahr und Folgen eines Atomkrieges.“ Unser Alltag glich mitunter einer Dystopie. Der Atomare Winter war unsere fünfte Jahreszeit. Wir wussten, wie schnell eine Kurz- oder Mittelstreckenrakete fliegt und dass eine Pershing 2 ihr Ziel in acht Minuten erreicht hätte. Dementsprechend malten wir uns aus, was wir in diesen letzten acht Minuten unseres jungen Lebens noch schnell erleben wollten.
Das war mehr als pubertäre Hysterie: In den Achtzigerjahren wurde die Atomkriegsuhr, die die Gefahren des Kalten Krieges versinnbildlichen sollte, gleich dreimal vorgestellt und stand schließlich auf 11:57 Uhr: Die Entspannungspolitik war zu Ende gegangen, alle Abrüstungsgespräche stockten und mit der geplanten Aufstellung von SS 20 und Pershing 2 beschleunigte sich das Wettrüsten abermals. 1983 schrammt die Welt zweimal kurz am Atomkrieg vorbei, es war eine Zeit maximaler Aufgeregtheit: Die Nato-Nachrüstung hatte Massenproteste ausgelöst, sowjetische Abfangjäger hatten am 1. September 1983 eine südkoreanische Passagiermaschine über der Insel Sachalin abgeschossen.
Stanislaw Petrow verhinderte einen Atomkrieg
Am 26. September 1983 hätte es dann fast den Atomkrieg aus Versehen gegeben, die Welt verdankt ihr Überleben einem gewissen Stanislaw Petrow. Er war wachhabender Offizier der sowjetische Luftüberwachung und hatte einen Befehl ignoriert: Obwohl sein Warnsystem anfliegende Raketen gemeldet hatte, verzichtete er auf den nuklearen Gegenschlag. Satelliten hatten an diesen Herbsttag die Reflexionen von Sonnenstrahlen an Abschussrampen in den USA als Start von fünf Interkontinentalraketen gedeutet. Zwei Monate später missverstand der Warschauer Pakt das NATO-Atomkriegsmanöver Able Archer 83. Demnach sollen manche das Manöver als verdeckten Atomangriff gedeutet haben. Die großartige Serie „Deutschland 1983“ erzählt von diesen hysterischen Monaten.
1984 erschütterte der Scherz des ehemaligen Schauspielers und amtierenden US-Präsidenten Ronald Reagan die Welt: Auf seiner Ranch in Kalifornien sollt er eine fünfminütige Radio-Ansprache einsprechen – und machte als Übung einen Scherz: “My fellow Americans, I’m pleased to tell you today that I’ve signed legislation that will outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes.” („Meine amerikanischen Mitbürger, ich bin erfreut, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, welches Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“
Politik war unser Leben – weil es um unser Leben ging
Der Krieg war nicht nur in den Köpfen der Kinder, sondern auch der Präsidenten. Er war überall und allgegenwärtig, in den Gottesdiensten, Geschichtsstunden, am Stammtisch und beim Sonntagsbraten. Die NATO übte mit 65.000 Soldaten in Nordhessen den Ernstfall. Wir stritten wie die Kesselflicker um den richtigen Weg aus dem atomaren Overkill. „Lieber rot als tot!“ gegen „Lieber die Pershing im Garten als ‘ne SS20 aufs Dach“, riefen „Petting statt Pershing“ versus „Lieber ein Kalter Krieger als ein warmer Bruder“ (Franz-Josef Strauß).
Wir waren politisierter als die Generationen, die nach uns kamen. Politik war unser Leben, weil es um unser Leben ging. Wir strömten auf die Straße, bildeten Menschenketten oder demonstrierten im Bonner Hofgarten, wir trugen lila Tücher und verweigerten den Wehrdienst. In der Gemeinschaft der Friedensbewegung schöpften wir Trost und Mut. Wir ließen uns nicht unterkriegen, wir verhärteten nicht. Das weiche Wasser brach den Stein. Unter dem Pflaster lag der Strand. Dieses Engagement hat uns stark gemacht. Auch wenn wir später erkannten, dass der Frieden nicht vorrangig durch unseren Idealismus kam, sondern der Sozialismus an seinen inneren Widersprüchen scheiterte.
Krieg gegen die Ukraine bringt die Angst zurück
Wenn wir uns heute an die Achtziger erinnern, verblasst der Kalten Krieg. Wir denken nicht an „The Day After“ als das Kinoereignis, sondern an „E.T.“ oder „Otto“, wie haben nicht die boykottierten Olympischen Sommerspiele von Moskau und Los Angeles im Kopf behalten, sondern die Nacht von Athen, als der HSV 1983 im Pokal der Landesmeister Juventus Turin mit 1:0 schlug? Wir denken nicht an Ronald Reagan sondern an Schlaghosen und MTV. Gudrun Pausewang ist fast vergessen, Michael Ende wird noch gelesen. Die holländische Band Bots kennt niemand mehr, BAP gibt es immer noch.
Auch wenn der Krieg unsere Gedanken geprägt hat, er hat sie nicht vergiftet. Die Angst war ein ständiges Hintergrundrauschen, aber davor war Leben. Nach 1990 verschwand dieses Hintergrundrauschen – und plötzlich fast über Nacht, ist die Angst zurück, tritt in den Vordergrund und dominiert dieser Tage sogar unseren Alltag. Plötzlich finden wir die Ukraine nicht nur auf der Landkarte, sondern kennen die Orte, Brennpunkte, Kriegsschauplätze, spielen alle Eskalationen durch. Plötzlich sieht das 21. Jahrhundert verdammt alt aus.
Krieg gegen die Ukraine: Angst wird in den Hintergrund rücken
Aber die Erinnerung an die Achtzigerjahre kann auch Mut machen in diesen finsteren Tagen: Die Angst wird mit der Zeit wieder in den Hintergrund rücken. So wie in der Vergangenheit: Der Mensch vermag zu verdrängen. Wir hatten Angst und haben gelebt – vielleicht sogar intensiver, hungriger, wilder.
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Wir fürchteten uns und feierten doch, wir spürten das Dunkel und suchten das Licht, wir hatten Angst vor dem Morgen und genossen das Heute in vollen Zügen. Wir lachten, liebten, lebten. Und ein Trost an alle Nachgeborenen: Wir lebten nicht schlecht. Wir haben unseren Idealismus und den Glauben an das Gute nicht verloren. Und die Gewissheit: Die Welt kann eine bessere werden.