Hamburg. Jens Kerstan zeigte sich hocherfreut: Zehn Prozent der Gesamtfläche Hamburgs stehen nun unter besonderem Erhalt – ein Rekord.

Vögel zwitschern, man hört Frösche quaken, die Sonne strahlt vom blauen Himmel, ein seichter Wind streicht übers satte Grün, und ein paar Meter weiter haben doch glatt Bieber an einem etwas versteckten Bächlein eine Bieberburg gebaut. Einzig die alle paar Minuten auftauchenden, nicht so leisen Flugzeuge trüben den idyllischen Eindruck, hier in den Kirchwerder Wiesen, nahe am Neuengammer Hausdeich.

Auch wenn die Flieger natürlich nicht vom Himmel verschwinden werden, dürften Flora und Fauna in dem Areal künftig deutlich mehr Ruhe vergönnt sein. Am Freitag hat Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) dort die geplante Erweiterung der beiden Naturschutzgebiete (NSG) Kirchwerder Wiesen und Boberger Niederung vorgestellt. Vermutlich im September wird der Senat sie offiziell beschließen – dann wächst das NSG Kirchwerder Wiesen um 287 Hektar auf 1144 Hektar und das NSG Boberger Niederung um 109 auf 464 Hektar.

Hamburger Naturschutzgebiete wurden ausgeweitet

Der Anteil der unter Naturschutz stehenden Landesfläche Hamburgs steigt so von 9,83 Prozent auf 10,35 Prozent – insgesamt 7818 Hektar. „Das entspricht rund 11.000 Fußballfeldern“, sagt Kerstan. „Oder fast der Gesamtfläche von Föhr.“ Kein anderes Bundesland kann dann einen so großen Flächenanteil an Naturschutzgebieten vorweisen wie Hamburg. So hat Bremen nach Auskunft der Umweltbehörde nur 8,5 Prozent seiner Landesfläche unter Naturschutz gestellt, Berlin liegt mit 3,1 Prozent noch viel weiter hinten. Die Zielmarke von zehn Prozent plus hatten SPD und Grüne bereits im Koalitionsvertrag vereinbart. Um sie zu erreichen, galt es einige dicke Bretter zu bohren.

20 Hektar der neu unter strenge Aufsicht gestellten Flächen werden noch im Ackerbau genutzt. Für die betroffenen Landwirte wesentlich dürften die bundesgesetzlich verankerten schärferen Bestimmungen im Umgang mit Pflanzenschutzmitteln sein, die mit der Erweiterung in Kraft treten, sagte Christian Michalczyk, Biologe in der Umweltbehörde, dem Abendblatt. Schon bald startet die mit der Erweiterung verbundene Beteiligung der Öffentlichkeit, der Naturschutzvereinigungen sowie der Landwirtschafts-, Handels- und Handwerkskammer.

„Mein Ziel war es, die zehn Prozent zu knacken“

Die Freude über das erfolgreiche Projekt ist dem Umweltsenator, der vor wenigen Wochen noch mit einer Krebserkrankung zu kämpfen hatte, am Freitag deutlich anzumerken. „Mein Ziel war es, die zehn Prozent zu knacken“, sagt Kerstan. „Das ist ein Rekord, bei dem uns kein anderes Bundesland so schnell etwas vormacht – und es ist ein Erfolg, auf den wir lange hingearbeitet haben und auf den wir stolz sein können.“ Auch wenn der Platz in Hamburg begrenzt und der Städtebau eine „nachhaltige Herausforderung“ sei, müsse Naturschutz „ganz oben auf der Prioritätenliste“ stehen – auch mit Blick auf spätere Generationen, so Kerstan.

Auf 1144 Hektar erweitert werden die Kirchwerder Wiesen, das größte Gebiet in Hamburg sein, in dem sich die Natur geschützt entfalten darf. Die neuen Flächen fügen dem bestehenden Gebiet eine weitgehend offene Marschlandschaft hinzu. Typisch für das Terrain sind von Gräben durchzogenes Grünland, eingestreute Feuchtwälder, Gebüsche und Brachen.

Das letzte Refugium der Kreuzkröte wird geschützt

Ein Zuhause haben hier etwa die Zier­liche Tellerschnecke, der Moorfrosch, die Wasserfledermaus, Biber, Fischotter und Weißstorch gefunden. Wohl fühlt sich auch die Krebsschere, eine seltene Pflanze, die in stehenden Gewässern gedeiht und der Libellenart Grüne Mosaikjungfer eine Heimat bietet. Da der Klimawandel eine Häufung von Dürreperioden mit sich bringt, spielt auch die Regulierung der kleinen Gewässer im Naturschutzgebiet eine wichtige Rolle. Der Wasserstand kann durch Dreh-Kipp-Wehre angepasst werden, sie müssen zurzeit noch händisch bedient werden, sollen in Zukunft aber digital gesteuert werden, wie Kolja Bodendieck vom Naturschutzamt erläutert.

Die Erweiterungsflächen des NSG Boberger Niederung liegen vorwiegend im Billebogen und im Talraum der Bille. Im Bereich Billebogen gibt es Gräben und Kleingewässer, mithin ist das Areal das letzte Refugium der Kreuzkröte in Hamburg. Im Talraum der Bille mit seinen Wiesen, Weiden und Auwäldern finden sich Eisvogel, Bitterling und Sumpfschrecke.

Hamburger Naturschutzgebiete fast so groß wie Föhr

Auf Zuspruch stößt die Erweiterung der beiden Naturschutzgebiete beim Naturschutzbund Hamburg (Nabu). „Wir freuen uns, dass der Senat Wort hält und die Ergebnisse unserer erfolgreich verhandelten Volksinitiative „Hamburgs Grün erhalten“ nach und nach umsetzt“, sagt der Nabu-Vorsitzende Malte Siegert. „Die geplante Erweiterung der beiden Naturschutzgebiete und das Erreichen der Zehn-Prozent-Marke sind ein großer Erfolg für die Natur, denn die Flächenkonkurrenz in der Großstadt ist groß.“

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Und wie geht es weiter? Das erklärte Ziel von zehn plus ist erreicht, aber gibt es auch eine „Vision“? Kerstan bleibt auf Anfrage unverbindlich: „Natürlich müssen wir schauen, was noch geht in Zukunft.“ Alle Hamburger Naturschutzgebiete zusammengenommen sind jetzt fast so groß wie die Insel Föhr mit 8300 Hektar – Sylt mit seinen 9900 Hektar liegt da bereits fast in Schlagweite…