Hamburg. Hamburgs Bürgermeister spricht im Abendblatt-Interview über die Delta-Variante, seine eigene Impfung – und wann alle Maßnahmen fallen.

Bürgermeister Peter Tschentscher ist durch die Corona-Pandemie häufiger Gast in Talkshows und gefragter Interviewpartner großer deutsche Medien geworden. Zugleich verfolgt der Mediziner intensiv die Fachdebatten zur Ausbreitung der Virusvarianten. Für das Sommer-Interview hat er sich eine Stunde Zeit genommen, um zu erklären, wo Hamburg heute steht, was auf die Stadt zukommen könnte – und welche Entscheidungen ihm in der Pandemie besonders schwerfielen.

Hamburger Abendblatt: Wir sitzen hier zum Interview entspannt im Bürgermeister-Amtszimmer. Hätten Sie das vor zwei Monaten für möglich gehalten?

Peter Tschentscher: Ja. (Pause)

Das war jetzt eine Antwort im Stil ihres Vorgängers Olaf Scholz.

Tschentscher: Schon im April habe ich gesagt, dass wir es ab Mai mit dem Fortschritt der Impfkampagne und durch den saisonalen Effekt leichter haben. Über Ostern hatten wir sehr hohe Inzidenzen, konnten sie aber mit einer konsequenten Strategie senken. Ich bin froh, dass sich diese Erwartungen erfüllt haben.

Geht Ihnen nach mehr als 15 Monaten in vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie manchmal die Kraft aus?

Tschentscher: Nein, die Kraft nicht. Aber ich hoffe schon, dass wir jetzt durch sind. Wir müssen auf den September und Oktober blicken, das ist die Phase, in der es saisonal noch einmal schwierig werden könnte. Deswegen gilt: Möglichst rasch weiterimpfen! Wir sind auf jede Impfstoff-Lieferung angewiesen und setzen sie umgehend ein. Die neuen Virusvarianten haben noch einmal Unsicherheit gebracht. Anfang des Jahres hat uns die britische Mutation sehr zurückgeworfen, jetzt gibt es die sogenannte Delta-Variante, die in Indien zuerst entdeckt wurde. Sie ist noch infektiöser, deshalb blicken wir aufmerksam auf diese Mutation.

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Mit Sorge?

Tschentscher: Ja, auch mit Sorge. Wir müssen insbesondere im Innenbereich weiterhin vorsichtig sein – dort, wo Aerosole zu einem höheren Ansteckungsrisiko führen als im Freien. Deshalb gilt bei Zusammenkünften in geschlossenen Räumen weiterhin Maskenpflicht, Testen, auf Hygiene- und Abstandsregeln achten.

Wo stehen wir nach Ihrer Auffassung jetzt in der Pandemie?

Tschentscher: Ich denke, wir sind zu drei Vierteln durch, aber auch die Reststrecke eines Marathonlaufs kann noch einmal anstrengend sein. Deshalb dürfen wir nicht jede Vorsicht fallen lassen, sondern müssen an den kritischen Stellen aufpassen. Wir beobachten insbesondere die Ausbreitung der Delta-Variante, weil diese in Großbritannien gerade die Inzidenz wieder nach oben treibt. Experten sagen, dass diese Mutation noch ansteckender ist als die bisher bekannten.

Peter Tschentscher im Interview mit Matthias Iken und Insa Gall im Bürgermeister-Amtszimmer des Rathauses.
Peter Tschentscher im Interview mit Matthias Iken und Insa Gall im Bürgermeister-Amtszimmer des Rathauses. © Unbekannt | Marcelo Hernandez

Ist sie wirklich infektiöser?

Tschentscher: In Großbritannien macht sie jedenfalls einen zunehmend großen Anteil der Infektionen aus und verdrängt die britische Variante. Das haben wir Anfang des Jahres bei uns mit der britischen Variante schon einmal erlebt; erst waren es einzelne Fälle, Woche für Woche stieg der Anteil und schließlich lag er bei über 90 Prozent. Derzeit werden in Deutschland und auch bei uns in Hamburg jede Woche mehr Erkrankungen mit der Delta-Variante nachgewiesen. Ich gehe davon aus, dass ihr relativer Anteil in den kommenden Wochen stetig zunimmt. Es kommt darauf an, dass unsere Sicherheitsmaßnahmen ausreichen, um die Zahl der Neuinfektionen insgesamt niedrig zu halten. Deshalb achten wir bei einem Nachweis der Delta-Variante auf besonders konsequente Quarantänemaßnahmen. Das ist anstrengend für die Betroffenen, kann aber helfen, die Ausbreitung zu verlangsamen. Letztlich geht es darum, mit den Impfungen jetzt schneller zu sein als die Ausbreitung neuer Virusvarianten. Denn die gute Nachricht lautet: Nach bisherigen Erkenntnissen schützt eine vollständige Impfung auch gut vor den neuen Varianten.

Dann wird es demnächst keine weitergehenden Lockerungen geben?

Tschentscher: Wir haben in allen Bereichen schon große Öffnungen vollzogen. Inwieweit wir in den kommenden Wochen weitere Einschränkungen zurücknehmen können, hängt davon ab, ob die Inzidenz auf dem jetzt niedrigen Niveau stabil bleibt. Wichtig ist, dass wir keine vierte Welle bekommen. Anders als im vergangenen Herbst haben wir jetzt den zunehmenden Impfschutz und die Möglichkeit, Schnelltests einzusetzen, um Infektionsketten früh zu erkennen und damit größere Ausbrüche zu verhindern.

Fürchten Sie, dass wir wie im vergangenen Sommer, als wir recht entspannt auf die Pandemie blickten, einen Rückschlag erleben werden – auch weil viele Reisende das Virus mitbringen?

Tschentscher: Die Reisetätigkeit war im vergangenen Jahr ein zusätzlicher Faktor, nicht so sehr im Sommer, aber dann im Herbst, als aus Tschechien und Österreich sehr viele Einträge nach Deutschland kamen. Ich habe damals frühzeitig auf die unsicheren Test- und Quarantäneregeln für Reiserückkehrer hingewiesen. Jetzt ist die Lage besser: Die Bundesregierung hat die Risikogebiete definiert, warnt davor, in diese Länder zu reisen und schreibt Testungen und Quarantäne bei der Rückkehr nach Deutschland vor.

Derzeit heben in Fuhlsbüttel immer mehr Ferienflieger ab. Sehen Sie das mit Sorge?

Tschentscher: Derzeit nicht, weil wir Vorkehrungen getroffen haben. Reiserückkehrer aus Virusvarianten- oder Hochinzidenzgebieten müssen schon beim Einsteigen in den Flieger einen Test vorweisen und Quarantänevorschriften einhalten. Es gilt die Empfehlung, möglichst nicht in solche Länder zu reisen.

Die Fortschritte bei den Impfungen haben den Optimismus beflügelt. Jetzt stockt es. Wann ist da Besserung in Sicht?

Tschentscher: Es geht Tag für Tag immer noch schneller voran als im Januar oder Februar. Wir liegen bei der Impfquote im Ländervergleich in Hamburg nur deshalb hinten, weil wir in den letzten Monaten Woche für Woche weniger Impfstoff bekommen haben, als es unserem Bevölkerungsanteil entspricht. Das macht sich bemerkbar, selbst wenn wir mit unserer Quote der verimpften Dosen vorne liegen. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat auf meinen Wunsch hin zugestimmt, dass die fehlenden Impfstofflieferungen jetzt ausgeglichen werden.

Das heißt, Sie haben dort auf den Tisch gehauen.

Tschentscher: Ich habe jedenfalls sehr deutlich darauf hingewiesen, dass das nicht akzeptabel ist. Alle sollen in Deutschland gleichermaßen Anteil am Impffortschritt teilhaben. Deshalb ist es gut, dass wir bereits eine erste Ausgleichslieferung bekommen haben und weitere folgen. Da wir diesen Impfstoff immer unmittelbar verimpfen, werden wir im Ranking der Bundesländer auch weiter nach oben rücken.

Wann erwarten Sie konkret, dass es weiter vorangeht?

Tschentscher: Das hängt von den Liefermengen der Hersteller ab. Leider gibt es bei Curevac, Astrazeneca und Johnson & Johnson Rückschläge in der Zulassung oder Produktion. Insgesamt waren von der Bundesregierung für das dritte Quartal über 120 Millionen Dosen angekündigt, das wären pro Woche acht bis zehn Millionen. Derzeit liegen die Lieferzusagen für die ersten Juliwochen eher bei jeweils drei bis vier Millionen Dosen. Auch in der Vergangenheit sind die Impfstofflieferungen hinter den Ansagen der Bundesregierung zurückgeblieben. Deshalb bin ich skeptisch, was die Prognosen angeht. Aber es bleibt dabei: Wir setzen jeden Impfstoff, der geliefert wird, unmittelbar ein.

Sie selbst sind noch nicht geimpft worden?

Tschentscher: Nein, noch nicht. Ich finde die Priorisierung wichtig. Das heißt, der Impfstoff muss zunächst denen zur Verfügung stehen, die ihn am dringendsten benötigen. Bisher war ich noch nicht an der Reihe. Aber jetzt, wo die Priorisierung für die letzten Teilgruppen der Stufe 3 geöffnet ist, zu denen ich gehöre, lasse ich mich in der kommenden Woche impfen.

Da sind Sie recht zurückhaltend. In vielen Betrieben wird jeder geimpft.

Tschentscher: Das Problem ist, dass es mittlerweile sehr viele Impfstellen gibt, aber alle zu wenig Impfstoff haben. Bei Hausärzten und in Betrieben ist die Priorisierung aufgehoben. Gleichzeitig warten noch viele Personen auf einen Impftermin, die medizinisch eine höhere Dringlichkeit haben. Das ist die Folge, wenn man die Priorisierung aufhebt, aber nicht genügend Impfstoff zur Verfügung stellt.

Frustriert Sie das Thema?

Tschentscher: Nein. Wir kommen ja insgesamt gut voran, und unser Impfzentrum geht weiterhin nach der medizinisch sinnvollen Priorisierung vor. Wir können froh sein, dass es sehr wirksame Impfstoffe gibt und es jeden Tag vorangeht.

Wann nimmt die Impfkampagne wieder mehr Fahrt auf?

Tschentscher: Die Bundeskanzlerin hat zugesagt, dass alle bis zum Ende des Sommers ein Impfangebot bekommen. Ich gehe davon aus, dass das möglich ist.

Sie sprachen von den hohen Inzidenzen im Frühjahr, als harte Maßnahmen beschlossen wurden. War es ein Fehler, nicht früher gehandelt zu haben?

Tschentscher: Ja, der Bund und viele Länder haben zu spät gehandelt. Wir haben in Hamburg noch vor Ostern entschieden, eine nächtliche Ausgangsbeschränkung einzuführen. Bundesweit hat es dann noch drei Wochen gedauert, bis die Notbremse einschließlich Ausgangsbeschränkungen beschlossen wurde. Während bei uns die Infektionszahlen schon deutlich sanken, sind sie bundesweit noch gestiegen und dann erst mit einer entsprechenden Verzögerung gesunken. Das hat zu mehr Infektionen und Todesfällen geführt. Zeit ist kritisch in einer Pandemie. In Hamburg haben wir nicht gezögert, bis wir eine Inzidenz von 200 erreichen und auch noch die Schulen hätten schließen müssen. Unser Konzept der Corona-Maßnahmen – erweitert um die Ausgangssperre – hat einen sofortigen, sehr starken Effekt gehabt. Diejenigen, die behaupten, dass die Zahlen ohnehin gesunken wären, weil der Frühling ja kam, sollten sich die Zahlen ansehen: Der Frühling kam in Hamburg nicht früher als anderswo, aber die Inzidenz ist bei uns drei Wochen früher zurückgegangen als deutschlandweit. Das war die Folge unserer Entscheidung zur Ausgangssperre.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

In Schleswig-Holstein ist sie auch gesunken, obwohl Ihr Amtskollege Daniel Günther einen ganz anderen Kurs gefahren ist.

Tschentscher: Nein. Flächenländer wie Schleswig-Holstein haben es in einer Pandemie leichter, weil sie nicht so eng besiedelt sind. Schon in den ersten Corona-Wellen hat sich gezeigt, dass die Metropolen vor den größten Problemen stehen, weil dort viele Menschen auf engem Raum zusammenleben und viel Mobilität besteht. Dort kann sich das Virus am schnellsten verbreiten. Deshalb können wir uns nicht mit Flächenländern vergleichen, sondern mit Städten wie Frankfurt, Köln, Berlin oder Nürnberg, in denen es in den kritischen Phasen der Pandemie immer sehr viel höhere Zahlen gegeben hat.

Viele haben den „Lockdown light“ im November 2020 als Fehler bezeichnet. Sie auch?

Tschentscher: Die Wissenschaftler und die Bundesregierung haben den Ländern im Oktober 2020 empfohlen, den November-Lockdown so durchzuführen, wie es dann auch geschehen ist. Das Konzept war, Wirtschaft und Bildung nicht weiter zu beschränken, aber den kompletten privaten und Freizeitbereich zu schließen. Es hat gewirkt, aber eben nicht ausreichend, sodass der Lockdown verlängert und im Dezember sogar noch verschärft werden musste.

Sie selbst galten zu Beginn der Pandemie eher als Bremser mancher Maßnahmen und sind dann ins Team Vorsicht gewechselt. Woher kommt der Sinneswandel?

Tschentscher: Sie können eine Stadt wie Hamburg nicht von einem Tag auf den anderen auf null fahren. Dennoch haben wir die Maßnahmen im Frühjahr in sehr schneller Folge in Kraft gesetzt. Die ersten Empfehlungen von Experten und der Bundesregierung waren, Kitas und Schulen vollständig zu schließen. In Hamburg haben wir dennoch darauf geachtet, wenigstens eine Notbetreuung anzubieten – für Eltern, die einfach keine Möglichkeit hatten, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Wir haben im ganzen Verlauf der Pandemie jeweils das konsequent beachtet, was der aktuelle Wissensstand war.

War die Politik in der Corona-Pandemie Gestalter oder Getriebene?

Tschentscher: Als im September und Oktober viele noch relativ sorglos waren, habe ich angetrieben. In Hamburg haben wir mit als Erstes Alkoholverkaufsverbote und Sperrstunden für die Gastronomie beschlossen. Im März habe ich gebremst und mich in der Ministerpräsidentenkonferenz gegen Lockerungen gestellt. Es war – wie sich hinterher gezeigt hat – eindeutig falsch, in eine Phase der ansteigenden Infektionsdynamik hinein Öffnungen zu beschließen. Seit Ende Mai/Anfang Juni habe ich in Hamburg für schnelle Öffnungsschritte gesorgt, denn wir dürfen und wollen jede Beschränkung nur so lange aufrechterhalten, wie sie nötig ist.

Das klingt so, als hätte Hamburg immer alles richtig gemacht. Sehen Sie in der Rückschau bei sich keinerlei Fehler?

Tschentscher: Wer macht schon immer alles richtig? Von den Grundentscheidungen und der Strategie in Hamburg bin ich aber weiterhin überzeugt. Wir sind konsequent und vernünftig durch diese Zeit gekommen, nicht zuletzt, weil die Strategie breit getragen wurde – vor allem von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, aber auch von vielen Institutionen, den Kirchen und großen Teilen der Opposition.

Sie haben einmal Rudolf Virchow als Vorbild bezeichnet. Der Berliner Arzt hat gesagt: „Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für eine dauerhafte Volksgesundheit“. Um diese drei Dinge muss man sich Sorgen machen …

Tschentscher: Virchow hat viele kluge Dinge gesagt, auch dass Politik im Grunde Medizin im Großen ist. Gesundheit hängt in hohem Maße davon ab, wie die Lebensbedingungen der Menschen sind und das Gemeinwesen organisiert ist. Das hat sich in der Pandemie bestätigt: Deshalb ist die Politik besonders gefordert. Gesundheitsschutz und ein starker Staat haben viel miteinander zu tun. Deshalb werden wir das öffentliche Gesundheitswesen nun noch besser organisieren als vor der Pandemie. Wir brauchen personell und technisch gut ausgestattete medizinische Einrichtungen und Gesundheitsämter.

Stichwort Bildung: Die Schulen schienen nicht immer vorbereitet zu sein auf sehr kurzfristig angekündigte Öffnungen. Hätte man da nicht besser planen und vorbereiten können?

Tschentscher: Eine Pandemie ist sehr schwer planbar. Es ist wie mit dem Wetter: Die nächste Woche kann man noch einigermaßen vorhersagen, aber je weiter es in die Zukunft geht, desto unsicherer wird es. So sind auch die Maßnahmen im Kampf gegen Corona nur schwer im Voraus vorhersagbar. Man kann ja auch keine Maßnahmen mit Terminen ankündigen, die dann gar nicht nötig sind. Das Schulsystem mit 250.000 Schülerinnen und Schülern und rund 25.000 Beschäftigten ist wie ein riesiges Containerschiff. Da ist es schwer, den Kurs kurzfristig zu justieren. Schüler, Lehrer und Eltern standen teilweise vor schwierigen Situationen, wenn neue Maßnahmen umgesetzt werden mussten, weil es ein so großes System ist und vieles voneinander abhängt. Aber es ist besser gelungen als in den meisten anderen Ländern, in denen der Unmut über die Situation an den Schulen noch viel größer war.

Das nehmen Eltern ganz anders wahr. Viele Kinder waren in Hamburg fünf Monate – von Mitte Dezember bis Mitte Mai – nicht in der Schule …

Tschentscher: Kitas und Schulen waren in vielen Ländern länger und teilweise auch vollständig – ohne Notbetreuung – geschlossen. Auch der Distanzunterricht lief bei uns deutlich besser, weil wir als einziges Bundesland bereits vor der Pandemie alle staatlichen Schulen ans Glasfasernetz angeschlossen hatten, das System technisch schnell ausbauen konnten und auch in der Digitalisierung insgesamt vorne liegen. Natürlich ist es schwer, ein so komplexes System wie das Bildungswesen unter Pandemiebedingungen am Laufen zu halten, aber es ist bei uns besser gelungen als an vielen anderen Orten in Deutschland.

Viele Nachbarstaaten, etwa die Schweiz oder Frankreich, haben in der Zweiten Welle die Schulen gar nicht mehr geschlossen – oder deutlich kürzer wie Dänemark …

Tschentscher: Die Maßnahmen und Inzidenzentwicklungen in anderen Ländern waren sehr unterschiedlich. Viele hatten leider Todesraten, die ich mir für Hamburg nicht wünsche. Kitas und Schulen waren für uns immer ein Prioritätsbereich – aber natürlich mussten wir auch dort Maßnahmen treffen, die an das Infektionsrisiko in der jeweiligen Pandemiephase angepasst waren.

Verschärft die Pandemie die soziale Spaltung? Die Bedingungen für den Fernunterricht etwa waren sehr unterschiedlich …

Tschentscher: Diejenigen, die wenig Wohnraum haben oder Berufe ausüben, die kein Homeoffice ermöglichen – an der Kasse im Supermarkt oder in den Verkehrsbetrieben zum Beispiel –, haben ein höheres Infektionsrisiko. Deshalb haben wir auch hier Prioritäten gesetzt, die Beschäftigten früher geimpft als andere und Schwerpunktpraxen für Impfungen in Stadtteilen eingerichtet, wo es nötig war. Wir haben auch in der Pandemie die ganze Stadt im Blick behalten.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Virchow nennt auch das Stichwort Wohlstand: Sie als langjähriger Finanzsenator kennen die Pandemiekosten, die eine Billion Euro überschreiten könnten. Werden Sie da nicht nervös?

Tschentscher: Nein. Wir haben in der Pandemie natürlich höhere Ausgaben für Hilfsprogramme und Transferleistungen, zugleich sind die Steuereinnahmen zurückgegangen. Daraus ergibt sich für 2020 erstmals seit vielen Jahren wieder eine Neuverschuldung. Aber Hamburg ist aus einer Position der Stärke in die Pandemie gegangen, weil wir den Haushalt vorher in Ordnung gebracht und von 2014 bis 2019 insgesamt mehrere Milliarden Überschüsse erwirtschaftet haben. Ich bin sicher, dass wir nach der Pandemie an die gute wirtschaftliche Entwicklung anknüpfen und die Schulden wieder planmäßig tilgen können, wie es nach den Regelungen unserer Schuldenbremse vorgesehen ist. Die Pandemie ist eine schwere Belastung, aber sie wirft uns nicht um.

Stichwort Freiheit: Welche Freiheitseinschränkung ist Ihnen am schwersten gefallen?

Tschentscher: Die Ausgangssperre. Das ist schon eine starke Beschränkung der individuellen Freiheit, aber sie war in dieser Phase nötig und dann auch sehr wirksam. Die Polizei hat berichtet, dass sie sehr gut eingehalten wurde und auch andere Verstöße gegen die Verordnung – zum Beispiel Partys in Privatwohnungen oder Kellern – schlagartig abgenommen haben. Die Ausgangssperre hat sehr dazu beigetragen, die Inzidenz schnell zu senken und damit auch früher wieder aus den Corona-Maßnahmen auszusteigen. In einer Pandemie muss man konsequent handeln. Alles andere verlängert die Krise und macht die Sache noch schwerer.

Wann müssen alle Maßnahmen fallen? Wenn alle Erwachsenen ein Impfangebot bekommen haben?

Tschentscher: Ja. Wir müssen eine Impfquote erreichen, die das Corona-Virus vielleicht nicht ganz zum Verschwinden bringt, aber eine schnelle, epidemische Ausbreitung verhindert. Vielleicht müssen wir – wie bei der Grippe – immer mal wieder nachimpfen. Eine Überlastung des Gesundheitssystems mit vielen schweren Erkrankungen wäre dann aber nicht mehr zu befürchten. Im April sind wir haarscharf an dieser Grenze vorbeigeschrammt. Um das zu erkennen, brauchte man keine Statistik. Ein Besuch auf der Intensivstation hat ausgereicht, um zu sehen, wie ernst die Lage war. Wir mussten die Infektionsdynamik schnell und stark abbremsen.

Wann werden Sie als HSV-Fan das nächste Mal in einem voll besetzten Stadion sein?

Tschentscher: Ich hoffe, dass wir zum Saisonstart wieder Zuschauer im Stadion haben werden und auch mit größeren Besucherzahlen planen können. Die Zweite Liga ist inzwischen fast interessanter als die Erste Liga, wo es nur noch um die Frage geht, wann feststeht, dass der FC Bayern wieder Meister wird (lacht).

Die Zweite Liga startet in gut einem Monat: Wie viele Zuschauer wären das – halbe Besetzung, ein Viertel, weniger?

Tschentscher: Das wird von der Ausbreitung der Delta-Variante abhängen. Wir machen jeden Öffnungsschritt, sobald er vertretbar ist. Ich wünsche mir hohe Zuschauerzahlen, wenn die Infektionslage es zulässt. In der Kultur beginnen wir jetzt schon mit dem Schachbrettmuster – also einer halben Besetzung.

Bundeskanzlerin Angela Merkel vertritt in der Corona-Pandemie einen ähnlich vorsichtigen Kurs wie Sie. Bedauern Sie da ihren Abschied aus dem Amt im Herbst?

Tschentscher: So weit will ich nicht gehen. Aber Angela Merkel hat in den 16 Jahren einiges für unser Land geleistet – gerade in schwierigen Phasen wie der Flüchtlingskrise, der Finanzkrise und jetzt in der Pandemie. Das sind Situationen, in denen man erfahrene Personen im Kanzleramt braucht. Frau Merkel war im Umgang mit Corona konsequent – ich würde das nicht vorsichtig nennen, sondern eher vernünftig und konsequent. Mutig bedeutet in einer Pandemie schnell leichtsinnig. Das hat etwas mit naturwissenschaftlicher Logik zu tun: Wenn es Erkenntnisse zu Infektionsrisiken und Infektionsdynamik gibt, dann muss man auch konsequent danach handeln.

Corona: Diese Testverfahren gibt es

  • PCR-Test: Weist das Virus direkt nach, muss im Labor bearbeitet werden – hat die höchste Genauigkeit aller Testmethoden, ist aber auch die aufwendigste
  • PCR-Schnelltest: Vereinfachtes Verfahren, das ohne Labor auskommt – gilt als weniger zuverlässig als das Laborverfahren
  • Antigen-Test: weniger genau als PCR-(Schnell)Tests, dafür zumeist schneller und günstiger. Laut RKI muss ein positives Testergebnis durch einen PCR-Test überprüft werden, ein negatives Ergebnis schließt eine Infektion nicht aus, insbesondere, wenn die Viruskonzentration noch gering ist.
  • Antigen-Selbsttest: Die einfachste Test-Variante zum Nachweis einer Infektion mit dem Coronavirus. Wird nicht von geschultem Personal, sondern vom Getesteten selbst angewandt. Gilt als vergleichsweise ungenau.
  • Antikörper-Test: Weist keine akute, sondern eine überstandene Infektion nach – kann erst mehrere Wochen nach einer Erkrankung sinnvoll angewandt werden
  • Insgesamt stellt ein negatives Testergebnis immer eine Momentaufnahme dar und trifft keine Aussagen über die Zukunft

Die großen Hoffnungen der SPD ruhen auf Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Doch die scheinen sich nicht zu erfüllen.

Tschentscher: Umfragen spiegeln aktuelle Stimmungslagen wieder. Erst kurz vor dem Wahltermin entscheiden sich viele Wählerinnen und Wähler konkret, wem sie ihre Stimme geben. Es geht bei der Bundestagswahl unter anderem um das wichtigste politische Amt in Deutschland. Die Kanzlerin steht nicht mehr zur Wahl, sondern Herr Laschet, Frau Baerbock und Olaf Scholz. Ich bin mir sicher, da werden viele nachdenklich und setzen am Ende auf Scholz. Vieles ist in den letzten 16 Jahren liegen geblieben, und vor uns liegen große Herausforderungen. Jetzt zählen politische Erfahrung und Führungskraft.

Die SPD wirkt aber wie festgetackert bei gut 15 Prozent ...

Tschentscher: Die persönlichen Umfragewerte von Olaf Scholz sind schon jetzt sehr gut. Wenn die Wahl näher rückt, treten die Spitzenkandidaten in den Vordergrund. Ich kenne Scholz seit Jahrzehnten, er ist der richtige Kandidat fürs Kanzleramt.

Die Pandemie hat Sie bundesweit bekannt gemacht. Greifen Sie aktiv in den Wahlkampf ein?

Tschentscher: Alle SPD-Ministerpräsidenten werden sich einbringen, weil es ja auch für die Länder um Vieles geht. Eine Bundesregierung, die große Ziele hat, aber nichts auf die Reihe bekommt, hilft uns nicht weiter.

Welche Koalition favorisieren Sie?

Tschentscher: Wir wollen eine Mehrheit jenseits der Union, aber eine, die von der SPD geführt wird. Das ginge mit einer Ampel, vielleicht auch mit Rot-Rot-Grün. Bei der Linkspartei stellen sich manche Fragen, wie verantwortungsvolle Politik gelingen kann. Olaf Scholz wird diese Fragen hart stellen. Ob eine Ampel möglich ist, hängt auch von der FDP ab. Ich erwarte, dass sie die Chance eines solchen Bündnisses erkennt: Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik schon gute sozial-liberale Bündnisse.

Was sagen Sie, wenn Olaf Scholz sie nach Berlin holen will?

Tschentscher: Mein Platz ist in Hamburg. Ich bin gerade als Bürgermeister mit einer großen Mehrheit im Amt bestätigt worden. Die Regierungsbildung in Berlin wird mit Scholz als Kanzler sehr kompetent erfolgen – auch ohne mich.