Hamburg. Dr. Pedram Emami wundert sich über die Debatte. Im Abendblatt-Interview beklagt er die “ewige Nichtentscheidung“ der Politik.

Kommt die Impfpflicht gegen das Coronavirus? Wird sie nur für Menschen im Gesundheitswesen gelten, für Ältere – und wie wird sie durchgesetzt? Auch in Hamburg sind Ärzte und Experten über die Frage uneins. Dr. Pedram Emami weist als Präsident der Ärztekammer und wichtige Beraterstimme für politische Entscheidungsträger auf die Tücken dieses scharfen Schwerts in der Pandemiebekämpfung hin. Und er beklagt die „ewige Nicht-Entscheidung“.

Hamburger Abendblatt: Warum muss man überhaupt in einer Pandemie über eine Impfpflicht diskutieren? Nachdem ein Impfstoff entwickelt war und die Pandemie bereits ein Jahr dauerte mit schweren Folgen für Millionen Menschen, das Gesundheitssystem und erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden – warum hat man die Impfpflicht gegen das Coronavirus nicht einfach schnell umgesetzt?

Dr. Pedram Emami: Zumindest Anfang 2021 gab es keine sichere Datenlage hinsichtlich einiger Details, die für diese Entscheidung wichtig gewesen wären. Das konnte ich ja noch verstehen. Dennoch war es sicher eine politische Fehlentscheidung, eine wie auch immer geartete Impfpflicht von vornherein kategorisch auszuschließen und nicht rechtzeitig zu diskutieren.

Auch wenn man politischen Widerstand befürchtet, kann man doch epidemiologisch das Gebotene tun?

Emami: Deswegen liegt mir sehr viel daran, transparent zu unterscheiden: Was ist eine fachliche Empfehlung, was eine politische Entscheidung. Allein die klare Kommunikation erleichtert die Akzeptanz in der Bevölkerung und verhindert den Schaden in der Glaubwürdigkeit von Politik und Medizin/Wissenschaft.

In anderen Ländern ist ohne Impfpflicht die Impfquote höher, ist die Bereitschaft zum Impfen und Boostern deutlich größer. Womit hängt das zusammen? Nur mit höheren Todeszahlen zu Pandemiebeginn zum Beispiel in Spanien und Italien?

Emami: Ich bin kein Soziologe, aber ich bilde mir ein, dass die schlimme Ausgangslage in Südeuropa bei deren Bevölkerung (bis zu einem gewissen Grad) eine höhere Impfbereitschaft erzeugt hat. Ich glaube aber, dass wir in Deutschland insgesamt gerne lang und ausgiebig Dinge diskutieren, was grundsätzlich gut, aber nicht immer der Dringlichkeit angemessen ist. Das Thema Impfung ist auf eine politische Dimension reduziert, die gesundheitliche/medizinische ist aus dem Fokus geraten.

"Höhere Impfquote durch offizielle Einladung für alle"

Wie hätte man konkret eine höhere Impfquote erzielen können?

Emami: Am einfachsten wäre es am Anfang gewesen: Alle hätten eine offizielle Einladung zu einem konkreten Impftermin bekommen. Ich behaupte einfach mal: Da wäre die Impfquote schneller viel höher gewesen als so, wie wir das gemacht haben. Der Fairness halber muss man aber auch sagen, hier in Hamburg haben wir bei den Erwachsenen mittlerweile eine super Quote. Bei näherer Betrachtung ist nicht alles so schlecht, wie öffentlich manchmal dargestellt.

Ist also ein eher zentralistisches Gesundheitssystem am Ende in der Pandemie effektiver?

Emami: Die Frage ist nicht zentral vs. dezentral, sondern konsequent vs. inkonsequent.

Einfache Frage: Sind Sie für eine Impfpflicht? Und wenn ja: zunächst für bestimm-te Altersgruppen oder Berufsgruppen?

Emami: Die Frage ist nicht einfach, weil da der Zeitpunkt, die Variantenbildung in der Zukunft und die Frage vorhandener und wirksamer Impfstoffe ebenso eine Rolle spielen, wie die Auswirkung hoher Impfquote auf die weitere Entwicklung der Pandemie. Diese kann ich als Nicht-Fachmann so nicht beantworten. Für mich steht aber außer Zweifel, dass jeder individuell sicher von einer Impfung profitieren würde. Ich habe mich aber auch früh (Anfang 2021) öffentlich dazu geäußert, dass ich mir eine Impfpflicht für Gesundheitsfachberufe und Angestellte in vulnerablen Bereichen sehr gut vorstellen kann und grundsätzlich richtig finde.

Impfpflicht: Was alles ungeklärt ist

Wie sollte man eine Impfpflicht sanktionieren? Mit Bußgeldern? Über die Krankenkassen?

Emami: Das ist eher eine juristische als eine medizinische Frage. Entsprechend bin ich nicht der richtige Ansprechpartner.

Es gibt gar kein Impfregister. Was wurde im Hinblick auf eine Impfpflicht noch verschlafen?

Emami: Wir haben es insgesamt versäumt, Daten zu erheben und diese auszuwerten. Das war ein kolossaler Fehler, der uns nicht nur viele Diskussionen beschert, sondern uns auch den Weg verbaut hat, durch Analysen im Nachgang auszuwerten, welche Maßnahmen mehr und welche weniger sinnvoll waren. Das wäre für zukünftige Epi- oder Pandemien extrem hilfreich gewesen.

Im Bundestag haben sich verschiedene Gruppen von Abgeordneten zu Initiativen für eine Impfpflicht zusammengeschlossen. Wie schätzen Sie die ein?

Emami: Ganz allgemein vermisse ich vor allem klare, konsequente Kommunikation und Tempo bei der Umsetzung. Und noch einmal: Es ist wichtig zu unterscheiden, was eine wissenschaftliche Empfehlung ist, was eine politische Maßnahme. Und dann muss klar erklärt sein, warum eine Maßnahme trotz einer Empfehlung anders oder gar nicht umgesetzt wurde. Fehlende Klarheit ist schlimmer als eine Fehlentscheidung. Zur laufenden parlamentarische Diskussion zur Impfpflicht will ich vor allem sagen: Es ist wichtig, dass die Abgeordneten sowohl alle medizinischen als auch alle juristischen Argumente berücksichtigen und dann auf dieser Grundlage ihre politische Entscheidung für oder gegen die Impfpflicht treffen.

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Aus der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hört man Stimmen gegen die Impfpflicht, viele niedergelassene Ärzte sind dafür. Wie soll man dieses Meinungs-Pingpong den Patienten erklären?

Emami: Da sollten auch wir uns um bessere Kommunikation bemühen. Unsere Aufgabe besteht darin, fachliche Fragen zu beantworten wie: Wie hoch muss die Impfquote sein, um die Pandemie zu überwinden? Oder bis zu welchem Zeitpunkt in der Pandemie ist eine hohe Impfquote notwendig beziehungsweise ab wann sind wir schon in der Endemie? Ist die Impfung in erster Linie Selbst- oder Fremdschutz oder beides? Daraus ergibt sich die Antwort nach der Höhe der notwendigen Impfquote und wann sie in welcher Altersgruppe erreicht sein soll. Mit welchen Maßnehmen die Politik das umsetzt, ist dann eine politische Frage und keine Frage ärztlichen oder medizinischen Sachverstandes. Da können wir höchstens noch sagen, inwiefern wir uns zum Beispiel als Ärzteschaft bei der Umsetzung einbringen können und/oder wollen.

Impfen als Eingrif in die körperliche Unversehrtheit?

Ist der Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit so groß, dass man eine ethisch-verfassungsrechtliche Frage aus einer Impfpflicht machen muss?

Emami: Es stellt sich bei jedem medizinischen Eingriff die Frage nach der Verhältnismäßigkeit versus Notwendigkeit. Das ist auch in meinem täglichen Arbeiten als Chirurg nicht anders. Und da die Wirkung der Impfung und die Natur dieser Erkrankung andere sind als z.B. bei Pocken oder Masern, gibt es zumindest eine gewisse Berechtigung nachzudenken. Sollte das Nachdenken aber weitere Monate oder Jahre dauern, muss man sich irgendwann fragen, ob die Angelegenheit dann nicht schon hinfällig ist. Und das ist tatsächlich aus meiner persönlichen Sicht das politische Hauptproblem: Die ewige Nicht-Entscheidung. Daran sind aber auch wir als Öffentlichkeit schuld, denn egal, was man beschließt, am Ende bedeutet es oft Ärger für die Entscheidungsträgerinnen und -träger.

Medizinische Interventionen wie Bluttransfusionen, Krebsbehandlungen, Medikamenten-Cocktails, die zum Teil ältere Menschen jeden Tag nehmen, sind doch erheblich schwerwiegendere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, oder? Das trifft selbstverständlich auch auf Raucher, Alkoholkonsumenten und andere zu. Oder ist das zu ketzerisch gefragt?

Emami: Ich verstehe die Vorbehalte genauso wenig. Selbst bei anderen lange bekannten Impfungen gibt es erklärte Gegnerinnen und Gegner, was mich schon seit Jahren verwundert und verärgert. Auf der anderen Seite finde ich die Art der Diskussionsführung um solche Menschen ohne Einsicht schwierig. Denn wie Sie sagen: Es gibt leider auch viele andere medizinisch uneinsichtige Menschen in der Gesellschaft: Dazu zählen auch Radfahrerinnen und Radfahrer ohne Helm, Risikosportlerinnen und -sportler und so weiter. Insgesamt sollten wir den polemisch-emotionalen Pegel in öffentlichen Diskussionen herunterschrauben und mehr auf Sachniveau diskutieren. Wenn die einen respektvoller sprechen und die anderen rationaler handeln würden, dann hätten wir vielleicht eher eine Chance, diese Krise in jeder Hinsicht halbwegs gut zu überstehen.