Hamburg. Bei der Kriegszerstörung der alten Bibliothek am Speersort gingen unschätzbare Kulturgüter und ein kostbarer Bau für immer verloren.

Die massiven Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs kosteten rund 40.000 Menschen in Hamburg das Leben, Hunderttausende wurden obdachlos. Vor allem im Sommer 1943 versanken ganze Stadtteile in Schutt und Asche, und die zum Teil hastig hochgezogenen, oftmals eintönigen Neubauten prägen das Erscheinungsbild der Stadt vielfach noch heute.

Angesichts dieser Dimensionen kann es nicht verwundern, dass der Verlust einzelner Gebäude quasi in einem Sammelsurium von Schreckensmeldungen unterging. Anders formuliert: Zerstörungen kostbarer Kulturgüter, welche die Öffentlichkeit heute Monate oder sogar Jahre beschäftigen würden, mussten damals zur Kenntnis genommen werden – bevor man notgedrungen zur Tagesordnung überging, um irgendwie zu versuchen, das Alltagsleben in der Stadt einigermaßen aufrechtzuerhalten.

Verschwundene Orte: Stadtbibliothek in Hamburg

So gesehen ist der Untergang der Stadtbibliothek am Speersort nur ein Schaden von vielen – und auch wieder nicht. Denn ihr Verschwinden bedeutete gleich in mehrfacher Hinsicht einen unersetzlichen Verlust. Zum einen wurde damals eines der architektonisch schönsten und ungewöhnlichsten Gebäude des alten Hamburger Stadtbilds ausradiert.

Zum anderen brachten die Zerstörung und der spätere Abriss der verbliebenen Reste eine Zäsur in der langen Geschichte einer hoch bedeutenden Bildungseinrichtung. Vor allem aber: Bomben und Feuer vernichteten große Teile eines unersetzlichen Kulturschatzes, der über Jahrhunderte sorgsam zusammengetragen worden war. Das historische Gedächtnis der Stadt hat seitdem Lücken, die nie mehr gefüllt werden können.

Fegebank: „Verlust schmerzt noch heute!

„Der Verlust der alten Staats- und Universitätsbibliothek schmerzt noch heute“, sagt Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne), die sich exklusiv im neuen Abendblatt-Buch „Hamburgs verschwundene Orte“ dazu äußert. „Nicht nur, dass Hunderttausende Dokumente, Bücher und historische Unterlagen unwiederbringlich den Flammen zum Opfer gefallen sind; auch der Verlust des alten und vielfach gerühmten Bibliotheksgebäudes am Speersort fehlt dem Stadtbild seit den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs bis heute.“

Keimzelle der Bibliothek war das Johanneum von 1529 – die älteste höhere Bildungseinrichtung Hamburgs. Beheimatet war die Gelehrtenschule im ehemaligen Johanniskloster, das ungefähr dort stand, wo heute der Rathausmarkt liegt. Von 1613 an teilte sie sich die Räume mit dem Akademischen Gymnasium, das wiederum im weitesten Sinne die Vorläufereinrichtung der Universität war. Die Büchersammlung des Johanneums, die auch vom Akademischen Gymnasium genutzt wurde, entstand bereits unmittelbar nach 1529. Zum Bestand gehörten nicht nur gebundene Werke, sondern zum Beispiel auch kostbare Handschriften.

Umzug wurde irgendwann unverzichtbar

Daraus entstand 1751 die öffentliche Stadtbibliothek mit dann mittlerweile bereits rund 50.000 Bänden. Zunehmender Platzmangel machte schließlich einen Umzug unverzichtbar. Anfang Mai 1840 wurde dann das neue Gebäude am Speersort eingeweiht, nachdem das Johanneum seinen alten Standort im Johanniskloster aufgegeben hatte. Wer sich heute vor Ort umschaut: Es stand genau rechts vom heutigen Pressehaus. Der Neubau nach Plänen Carl Ludwig Wimmels (1786–1845) unter Beteiligung von Franz Gustav Forsmann (1795–1878) war so gestaltet, wie man sich damals vermutlich eine Heimstätte geistiger Tradition vorstellte: Das helle Haus im Palazzostil der florentinischen Spätrenaissance war U-förmig angelegt und bestand aus drei Baukörpern und einem Arkadengang.

Im linken Flügel an der Domstraße befand sich die Gelehrtenschule des Johanneums, im rechten die Realschule, die 1876 auszog. Das Hauptgebäude beherbergte das Akademische Gymnasium, die wissenschaftlichen Sammlungen und die Stadtbibliothek mit mittlerweile mehr als 200.000 Bänden. Das Akademische Gymnasium, das lange Zeit Mittelpunkt des wissenschaftlichen Lebens in Hamburg gewesen war, wurde 1883 per Gesetz aufgelöst.

1840 zog die Schule an den Speersort – mit ihren Büchern

Alle Versuche, es durch Reformen und neue Zielsetzungen attraktiver zu machen, waren letztlich gescheitert. Das Johanneum blieb noch bis 1914 am Standort Speersort, dann bezog es aus zunehmendem Platzmangel den nach Plänen von Fritz Schumacher (1869–1947) errichteten Bau an der Maria-Louisen-Straße 114, der auch noch heute Sitz der Gelehrtenschule ist. Beim Umzug wurde die Bibliothek des Johanneums mitgenommen, was sich als großes Glück erwies. Sie überstand den Krieg unbeschädigt und blieb erhalten.

Diese Lithografie (um 1840) zeigt das Johanneum – später zog die Staatsbibliothek in die Räume ein. 1943 wurde alles ein Opfer der Flammen.
Diese Lithografie (um 1840) zeigt das Johanneum – später zog die Staatsbibliothek in die Räume ein. 1943 wurde alles ein Opfer der Flammen. © unbekannter Künstler | Unbekannt

Am Speersort fand sich nach dem Auszug des Johanneums nun endlich Platz für die Stadtbibliothek, deren Bestände im Laufe der Zeit immer weitergewachsen waren. West- und Ostflügel wurden zügig für Bibliothekszwecke umgebaut. Mit der Gründung der Hamburgischen Universität übernahm die Bibliothek deren Versorgung mit wissenschaftlicher Literatur. Über das erste Hamburgische Hochschulgesetz wurde sie im Februar 1921 offiziell in „Staats- und Universitätsbibliothek“ umbenannt, was auch ihrem heutigen offiziellen Titel entspricht.

Commerzbibliothek zog zum Speersort

1919 zog die Commerzbibliothek, die Bibliothek der Handelskammer, mit 130.000 Büchern von der Domstraße ebenfalls zum Speersort, wo sie sich im Ostflügel einrichtete. Niemand konnte damals ahnen, dass sich dieser Umzug als fatale Entscheidung erweisen würde. Wie in einer Infoschrift von Klaus Gottsleben über ihren Werdegang nachzulesen ist, besaß die Staats- und Universitätsbibliothek 1919 unter den deutschen Bibliotheken die fünftgrößte Büchersammlung.

Historische Innenaufnahmen zeigen unter anderem Lese- und Büchersäle und einen Ausstellungssaal. Arbeitsplätze, Regale mit kleinen Galerien bis zur Decke, viel Licht durch die hoch liegenden Fenster – alles wirkt wie eine der klassischen Bibliotheken, die Besucher in Städten wie Weimar, Wien oder New York mit einer gewissen Ehrfurcht betreten.

Evakuierung der Bibliothek passierte zu spät

Es würde selbst einige Broschüren füllen, wollte man die unersetzlichen Bücher, Handschriften- und Kartenschätze, wissenschaftlichen Arbeiten und vieles mehr auflisten, die beim fatalen Luftangriff vom 24. auf den 25. Juli 1943 vernichtet wurden. Hinzu kommen noch die vielen Hilfsmittel, also über Jahrhunderte zusammengestellte Kataloge und Verzeichnisse, darunter zahlreiche Unikate. Immerhin 400 Kisten mit ganz besonders wertvollen Beständen konnten evakuiert werden, allerdings ging einiges davon infolge der Kriegswirren verloren. Da der damalige Direktor Gustav Wahl (1877–1947) unter anderem einen Schwerpunkt auf das handschriftliche Material gelegt hatte, erwies sich später der kulturelle Verlust für Hamburg bei Drucken und weiteren Hamburgensien als besonders hoch.

Heute ist klar: Die Evakuierung der Bibliothek wurde zu spät und wohl auch nicht entschlossen genug betrieben. Hinterher ist man allerdings immer schlauer. Fakt ist, dass wohl niemand damit rechnen konnte, welche enorme zerstörerische Kraft der Luftangriff entwickeln würde. 400 Holzkisten, die für den Abtransport der Commerzbibliothek-Bücher nach Sachsen angeschafft worden waren, standen schon vor Ort bereit – und verbrannten ebenfalls.

700.000 Bücher gingen verloren

Buchcover Hamburgs verschwundene Orte von Matthias Schmoock.
An 40 verschwundene Orte erinnert das Abendblatt-Buch, erhältlich im Handel, der Abendblatt-Geschäftsstelle und bei abendblatt.de/shop, 19,90 Euro. © Hamburger Abendblatt | Hamburger Abendblatt

Es war gleich der erste Luftangriff in jener Nacht, der die fatalen Brände auslöste. Eine Bombe traf den Lichtschacht des traditionsreichen Baus. Das durch Phosphorbomben entfachte Flammenmeer, dem vor Ort reichlich Nahrung geboten wurde, verbreitete sich in Windeseile durch alle Räume. Löschkräften gelang es nur, den Westflügel zu retten, und auch ein Teil der Arkaden blieb erhalten. Eine Zahl, die das Ausmaß dieser Katas­trophe deutlich macht: Von den 850.000 gesammelten Büchern gingen 700.000 bei den Luftangriffen und den anschließenden Bränden sowie beim Löschen für immer verloren.

Der Rest des Westflügels, der 1944 noch einmal von Bomben getroffen worden war, und die verbliebenen Arkadenteile wurden Anfang der 1950er-Jahre abgetragen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staats- und Universitätsbibliothek mussten in vielerlei Hinsicht wieder bei null anfangen. „Von der Nachkriegszeit bis heute werden an der Staats- und Universitätsbibliothek große Anstrengungen unternommen, den Bestand neu auf- und weiter auszubauen“, sagt Katharina Fegebank. „Die Stabi ist heute die größte wissenschaftliche Bibliothek des Stadtstaates Hamburg und der Metropolregion Hamburg. Sie versorgt dabei nicht nur die Angehörigen der Hamburger Hochschulen mit wissenschaftlicher Information, sondern alle Hamburgerinnen und Hamburger mit Informationen.“

Nur wenige Erinnerungen sind geblieben

Laut Fegebank sei die Stabi damit „eine Art papiernes Gewissen der Stadtgeschichte“. Durch die stetigen Digitalisierungsarbeiten bestehe außerdem für alle Interessierten die Möglichkeit, die historischen Bestände auch digital zu erkunden, seien es Nachlässe, die Hamburger Adressbücher oder Zeitungsbestände. Und die alte Bibliothek?

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Neben Fotos erinnern heute nur noch ein paar Zeitzeugenberichte an diesen verschwundenen Ort. In dem Buch „Mit dem Zeiger der Weltenuhr. Bilder und Erinnerungen“ schrieb der ehemalige Altonaer Stadtarchivar Paul Theodor Hoffmann (1891–1952): „Man durchschritt die einladenden Arkaden des alten Baues und gelangte über den mit Grün geschmückten Innenhof zu dem Hauptgebäude, in dem einem der eigentümliche Duft großer Büchersammlungen entgegenschlug.

Offiziell war von 28 Millionen Mark Verlust die Rede

Es war alles etwas veraltet und großräumig verwinkelt in diesem ursprünglich nicht für eine Bibliothek, sondern für die Gelehrtenschule des Johanneums geschaffenen Hause. Bilder und Plastiken verdienter Hamburger Wissenschaftler grüßten von den Wänden. Wie gut arbeitete es sich in dem alten, oft zu engen Lesesaal, wenn die Dämmerung über die Glasdecke hereinsank und die grünen Leselampen aufschimmerten! Dann leuchteten matt von den Wänden die rundum aufsteigenden Bücherreihen, und über die Tische gebeugt saßen viele fleißige Menschen, jung und alt.“

Der Verlust durch die Zerstörung von Gebäuden und Inventar wurde offiziell auf eine Million Reichsmark, der Verlust an Büchern auf 27 Millionen Reichsmark veranschlagt. Doch schon damals war klar, was heute immer noch gilt: Der Schaden lässt sich gar nicht in Geld beziffern.

Wunden aus dem Zweiten Weltkrieg noch nicht verheilt

Katharina Fegebanks Bilanz: „Auch viele Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind viele Wunden noch nicht verheilt. Es bleibt daher unser aller Aufgabe, die Bestände unserer Stadtgeschichte und wissenschaftlichen Schriften für die Nachwelt zu erhalten und sie auszuwerten, um noch mehr über unsere Stadtgeschichte zu lernen.“