Hamburg. Die Stadt hat nach einem Corona-Ausbruch 120 Obdachlose isoliert. Die Verantwortliche Katrin Wollberg spricht über die Situation.

Das Virus griff um sich, bevor die Schwächsten der Gesellschaft geschützt werden konnten: Nach Abendblatt-Informationen soll in der kommenden Woche mit der Corona-Impfung von 800 Obdachlosen begonnen werden – derzeit kämpft die städtische Gesellschaft Fördern & Wohnen jedoch noch mit den Folgen eines schweren Ausbruchs in der Notunterkunft an der Friesenstraße.

120 Obdachlose sind in einer Reserveunterkunft an der Schmiedekoppel in Quarantäne, werden bewacht, beobachtet und auf eine Infektion getestet. Nach 42 Fällen an der Friesenstraße wurden zuletzt auch acht Bewohner aus anderen Unterkünften positiv getestet.

Die zuständige Bereichsleiterin von Fördern & Wohnen, Katrin Wollberg, spricht im Interview über die „sensible Situation“ im Quarantänequartier – und bezieht auch Stellung in der Debatte, ob mehr Obdachlose in leer stehende Hotels einquartiert werden sollten.

Hamburger Abendblatt: Frau Wollberg, die Linksfraktion in der Bürgerschaft hat zuletzt kritisiert, der schwere Ausbruch in der Unterkunft an der Friesenstraße sei absehbar gewesen. Hat sie recht?

Katrin Wollberg: Wir haben gleich zu Beginn der Pandemie ein Hygienekonzept etabliert, das auch sehr wirksam ist. Es sind hier immer Abwägungen zu treffen: Jeder Mensch, der einen Schlafplatz braucht, soll diesen auch bekommen. Deshalb haben wir eine Testpflicht für die Bedürftigen am Eingang immer abgelehnt. Wir nehmen jedoch Temperaturmessungen und auch regelhafte Tests auf freiwilliger Basis vor. Nun hat sich erstmals eine Situation ergeben, in dem es eine klare Häufung von Fällen gab.

Wachleute am Eingang des Quarantänequartiers in Niendorf.
Wachleute am Eingang des Quarantänequartiers in Niendorf. © Michael Arning | Michael Arning

Wann war Ihnen klar, dass Sie es mit einem Ausbruch zu tun haben?

Wollberg: Wir hatten immer wieder bei den Schnelltests einzelne positive Fälle. Anfang der Woche hat eine Testung von etwa 90 Klienten dann sechs positive Tests ergeben. In diesem Moment wussten wir sofort, dass wir entschieden handeln müssen. In den folgenden Tagen wurde dann auch eine Infektion bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern von Fördern & Wohnen und Sicherheitsleuten festgestellt.

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Wie geht es den Betroffenen?

Wollberg: Wir haben glücklicherweise bislang keine Fälle von schweren Verläufen, etwa mit hohem Fieber. Die Situation ist dennoch weiterhin sehr sensibel, und wir behalten die Bewohner auch nachts im Blick. Die zeitlich unterschiedlichen Verläufe einer Covid-19-Infektion sind bekannt. Es ist auch klar, dass eine Quarantäne etwas mit den Menschen macht. Das gilt für Otto Normalbürger, für unsere Mitarbeiter – und auch für obdachlose Menschen, teilweise in einem besonderen Maße.

Vor der Verlegung in die Quarantäne nach Niendorf randalierten einzelne Bewohner.

Wollberg: Wir haben eine sehr bunte Mischung von Menschen in den Unterkünften. Die eigene Situation zu verdrängen ist für viele obdachlose Menschen eine Überlebensstrategie. Sie haben nun aber nicht mehr den festen Tagesablauf, der ihnen dabei helfen kann – etwa jeden Tag im Pik As zu frühstücken und sich später mit anderen obdachlosen Menschen im öffentlichen Raum zu treffen, bevor es abends in die Unterkunft an der Friesenstraße geht. Auch die Angst vor einer schweren Infektion sitzt natürlich tief. Wir müssen ihnen klarmachen, dass wir auch in dieser Situation für sie da sind und sie versorgen. Das braucht auch Geduld.

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Wie gehen Sie im Quarantänequartier mit Pegeltrinkern und anderen Suchtkranken um?

Wollberg: Bei den schwer Suchtkranken müssen wir den Sorgen begegnen, dass sie durch einen plötzlichen Entzug gesundheitlich zusammenbrechen könnten. Wir sagen Ihnen, dass sie Tabak bekommen und auch Alkohol vorhanden ist. Dass es genügend zu essen gibt und sie auch einen Nachschlag haben können, wenn sie wollen. Wir sind im Moment besonders froh, dass wir ein multikulturelles Team haben. Teilweise helfen sich die Bewohner auch gegenseitig. Es gibt in einer Unterkunft häufig eine klare Hierarchie unter den Bewohnern. Wenn dann einer, der angesehen ist, zum Beispiel seinen Mundschutz trägt und Ruhe ausstrahlt, hilft das allen.

Seit Langem gibt es Forderungen, dass mehr Obdachlose in Hotels untergebracht werden sollen. Ist das auch unter den Bewohnern ein Thema?

Wollberg: Nicht in dem Sinne, dass wir häufig danach gefragt werden. Wir erleben aber, dass Menschen wieder zu uns kommen, nachdem sie in einem Hotel waren. Einige waren nicht kompatibel, haben randaliert, waren vielleicht auch damit überfordert. Es ist im Einzelfall sehr gut, wenn die Unterbringung in einem Hotel gelingt. Wir müssen aber aufpassen, was mit jenen ist, die nicht in ein solches Schema passen. Vor allem dürfen wir nicht arrogant sein gegenüber der Bedürftigkeit. Die Vorstellung davon, was ihnen guttut, hat manchmal wenig mit der Realität zu tun.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Was meinen Sie?

Wollberg: Wir erleben das in der Praxis seit Jahren, dass gerade der Schritt in ein eigenes Zuhause sehr groß ist. Da hat dann ein Obdachloser eine schöne Wohnung, aber schläft nur auf dem Balkon, weil er sich innen beengt und ängstlich fühlt. Obdachlose Menschen brauchen häufig auch einander. Wie gehen wir damit als Gesellschaft um? Was machen wir auch mit den Ursachen von Obdachlosigkeit, beispielsweise den hoch prekären Arbeitsbedingungen für viele Betroffene? Das sind Fragen, die wir stärker in den Blick nehmen müssen. Die Probleme sind sehr individuell, deshalb müssen auch die Lösungen vielfältig sein. Bei allen Problemen muss man aber auch sagen: In Hamburg wird bereits viel für obdachlose Menschen unternommen, und das ist sehr gut so.

Hat die Corona-Pandemie die Situation der Obdachlosen verschlimmert?

Wollberg: Als im vergangenen Frühjahr auch Einrichtungen von freien Trägern schließen mussten, sind da durchaus Welten zusammengebrochen. Auch die Gemeinschaft, die so viel des Leides auffängt, war nicht mehr in dieser Form da. Ich glaube aber, es wird Jahre dauern, bis wir wirklich sehen können, was die Corona-Pandemie hier ausgelöst hat.

Wird es dann noch schwieriger, den Menschen von der Straße zu helfen?

Wollberg: Wie in der gesamten Gesellschaft wird es wohl einen Moment geben, wo alles überstanden ist und Euphorie herrscht. Ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass etwa Betroffene, die jetzt in einem Hotel untergebracht sind und sich dort auch wohlfühlen, daraus Kraft schöpfen und sich trauen, sich selber zu helfen. Es wird aber auch Rückschläge geben und psychische Folgen, die sich in dieser harten Zeit schleichend ausbilden. Es wird eine Herausforderung, darauf einzugehen.