Hamburg. Benjamin Ondruschka ist der Nachfolger des Rechtsmediziners Klaus Püschel. Wie Quincy und Sherlock Holmes ihn inspirierten.

Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache.“ Wenn ein genialer Kopf wie Sherlock Holmes zu so einer Erkenntnis gelangt, muss etwas Wahres dran sein. Und wenn so ein Meisterdetektiv mit unbestechlicher Logik und analytischem Scharfsinn Rätsel des Lebens löst, kann das eine faszinierende Sogwirkung entfalten.

Für Benjamin Ondruschka waren die geheimnisvollen Fälle des Sherlock Holmes nicht nur fesselnd, sondern sie haben ihn früh inspiriert, der Wahrheit wissenschaftlich auf den Grund gehen zu wollen, mit detektivischem Spürsinn. Als Rechtsmediziner.

Ondruschka: Von Sherlock Holmes­ und Quincy inspiriert

„Zu Sherlock Holmes­ hat sich bald auch sein medialer Kollege Quincy gesellt“, erzählt Ondruschka. „Es hat mich beeindruckt, wenn dieser forensische Experte wieder mal die Ursachen von fragwürdigen Todesfällen herausfand und Tötungsdelikten eine völlig neue Wendung gab. Deshalb wusste ich schon früh, dass ich Rechtsmediziner werden will. Es ist mein absoluter Traumberuf. Ich mache das mit Leib und Seele“, sagt Benjamin Ondruschka.

Der gebürtige Leipziger ist seit 1. Oktober der neue Direktor des Instituts für Rechtsmedizin und damit Nachfolger von Klaus Püschel, der das Institut fast 30 Jahre lang leitete – und damit beinahe so lange, wie Ondruschka auf der Welt ist. Der neue Fachmann ist mit seinen 36 Jahren wohl Deutschlands jüngster Institutsdirektor. „Ich habe versucht, auf der Überholspur zu fahren“, erklärt der Experte das Tempo, mit dem er Karriere macht.

Seine Faszination für sein Metier erläutert der Neu-Hamburger so: „Es ist die reale Wahrheit, der man sich als Rechtsmediziner bestmöglich annähert, mit kriminalistischem Verstand und Scharfblick. Es ist nicht immer so gewesen, wie der Täter oder Zeuge es erzählt.“

Rechtsmediziner Ondruschka ist Optimist

Mit dynamischem Schritt nähert sich Ondruschka in seinem neuen Reich am UKE dem Besucher. Und hätten wir nicht die Corona-Krise und damit Zeiten, in denen man tunlichst den Mindestabstand einhält, wäre sein Händedruck sicherlich energisch zupackend, passend zu seiner Miene, die Tatendrang ausstrahlt, gepaart mit Offenheit und einem deutlich ausgeprägten, aber wohl entspannten Selbstbewusstsein.

„Ich bin ein optimistischer und lockerer Mensch“, sagt er von sich. „Man kriegt mich nicht schnell aus der Fassung. Und ich bin ein großer Freund von Kommunikation“, meint der Chef von gut 60 Mitarbeitern. „Aber wenn ich die Notwendigkeit sehe, dass etwas nach meinem Kopf laufen muss, kann ich das auch durchsetzen.“ Als Direktor des Instituts für Rechtsmedizin nach Hamburg zu kommen sei für ihn „eine große Ehre, weil es nicht nur eines der größten, sondern auch eines der relevantesten Institute unseres Fachs in Europa ist. Das ist auch das Verdienst von Prof. Püschel“, lobt der Leipziger seinen Vorgänger.

Doch bei aller Würdigung will der 36-Jährige definitiv eigene Akzente setzen: Er strebe an, dass das Institut unter seiner Ägide „eine große und blühende Zukunft hat“, erklärt Ondruschka. Seine Ideen entwickeln sich oft an seinem Schreibtisch, den er mit nach Hamburg gebracht hat und an dem früher seine Promotions- und Habilitationsarbeiten entstanden sind. Für beide forschte Ondruschka zum Thema Schädel-Hirn-Trauma, das bis heute einer der Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit ist. Diesen Bereich unter anderem labormedizinisch und biomechanisch noch intensiver zu erkunden sei in Hamburg „eine Nische“, der er sich widmen wolle.

Herzenwunsch des Rechtsmediziners: mehr Kinderschutz

Ein anderes Thema, das Ondruschka maßgeblich umtreibt, ist der Kinderschutz. Deshalb sei es ihm auch ein großes Anliegen, die Einrichtung eines Childhood-Hauses möglichst schnell unter Dach und Fach zu bringen. Das Konzept eines solchen Kinderschutzhauses: Ärzte, Richter, Polizisten und Jugendamt arbeiten bei der Betreuung und Untersuchung misshandelter Kinder unter einem Dach zusammen.

Seit Langem wünscht sich das Kinderkompetenzzentrum der Rechtsmedizin am UKE ein solches Childhood-Haus und konnte für sein angestrebtes Ziel in den vergangenen Monaten viel erreichen. „Ich hoffe, dass wir hier bald ein symbolisches Band zerschneiden können“, betont Ondruschka. Er freue sich auch sehr darauf, als Hochschullehrer zu unterrichten.

Wie kreativ er bei der Vermittlung seines Fachs sein kann, hat Ondruschka beispielsweise bei einem Kongress in Rostock gezeigt. Seine Idee: aus gerichtsmedizinischer Sicht alle Folgen der in seiner Heimat populären Olsenbande-Filme zu untersuchen. Darin geht es um drei Gauner, die immer wieder versuchen, mit einem „großen Coup“ reich zu werden, daran aber stets aus skurrilen Gründen scheitern. „Die Liebe zu den Filmen wurde mir quasi von meinem Vater vererbt. Und so kam ich auf die Idee, anhand der Folgen zu erklären, wie die Forensik arbeitet.“

Karl May nicht nur gelesen, sondern auch untersucht

Dafür hat Ondruschka zusammen mit einem Forensischen Psychiater und einem Juristen alle 22 Stunden Filmmaterial unter die Lupe genommen, gewissermaßen seziert: Sind die gezeigten Verletzungen realistisch? Wie sind die Verbrechen juristisch zu bewerten? Trifft dieser Schlag überhaupt? „In manchen Folgen wären die Gauner schon nach wenigen Minuten tot gewesen, wäre es mit rechten Dingen zugegangen.“

Von dem bisher spannendsten Fall seiner Karriere erzählt der Rechtsmediziner mit besonderer Freude – und einem Blick zurück in seine Kindheit. „Ich bin seit frühester Jugend ein leidenschaftlicher Anhänger von Karl May. Ich habe seine Bücher verschlungen und bereits als Zehnjähriger voller Ehrfurcht an seinem Grab gestanden.“ 20 Jahre später war er wieder dort, diesmal auch als Fan – vor allem aber als Fachmann. Der Rechtsmediziner untersuchte den Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand bis ins Innerste.

„Die Obduktion von Karl May war ungeheuer faszinierend. Auch wenn es formal nur noch seine Gebeine waren“, sagt Ondruschka. „Es war die Gelegenheit, das persönliche Interesse mit der Wissenschaft zu verbinden.“ Als 102 Jahre nach dem Tod von May dessen Leichnam 2014 umgebettet wurde, nutzte Ondruschka diese Chance, um die sterblichen Überreste des Autors zu erforschen. „Sehr hohe Werte von Blei und Cadmium in den Knochen lassen darauf schließen, dass er vermutlich an einer Schwermetallvergiftung gestorben ist“, erzählt Ondruschka. „Vorher rankten sich um seinen Tod Mythen und Legenden. Wir hatten den ersten und wohl letzten objektiven Zugriff und eine wissenschaftliche Antwort.“

Kurios: Verstorbene töteten sich mit Polenböller

Ein anderer, ganz besonderer Fall war der eines Mannes, dessen Kopf geradezu zersprengt wirkte – und die Polizei vor ein Rätsel stellte. Ondruschka fand heraus, dass im Mund des Mannes ein Feuerwerkskörper explodiert war. Nachzuweisen war dies unter anderem durch eine Analyse von Rückständen chemischer Verbindungen, wie sie in sogenannten Polenböllern vorkommen.

Zwei Wochen später gab es einen nahezu identischen Fall. Diesmal hatte der Verstorbene einen Abschiedsbrief geschrieben, darin der denkwürdig-zynische Satz: „Mein Abgang soll ein Knaller werden.“ Als Rechtsmediziner, der diesen und anderen Rätseln des Todes auf den Grund geht, ist Ondruschka sehr bewusst, wie unerwartet der Sensenmann zuschlagen kann.

„Die allermeisten, die bei uns auf dem Seziertisch landen, wussten vorher nicht, dass das schon am nächsten Tag passiert.“ Für den 36-Jährigen selber hat das zur Folge, dass er erkennbare Risiken für die Gesundheit möglichst meidet. „Ich rauche nicht, weil ich sehe, was dabei mit Atemwegen und Lungen passiert. Ich trinke nicht, weil ich die alkoholtypischen Veränderungen der Organe kenne. Und ich fahre kein Motorrad, weil ich weiß, dass sich die Knautschzone bei Unfällen dann auf eine sehr dünne Schicht Haut beschränkt.“

Rechtsmediziner: die Arbeit ist ihm ein Vergnügen

Seine intensive Beschäftigung mit Verletzten und Misshandelten, mit Tod und Leid habe allerdings nicht seinen positiven Blick auf das Leben verändert, versichert der Rechtsmediziner. „Ich genieße das Leben, familiär und beruflich.“ Er habe sich sehr gefreut, nach Hamburg zu kommen, nicht nur wegen der spannenden beruflichen Aufgabe, sondern auch wegen der schönen Stadt. „Ich mag die maritime Seite von Orten. Wenn man am Fluss flanieren kann – und dabei ein frisches Fischbrötchen isst.“

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In seiner Jugend sei er als Handballer und Judoka aktiv gewesen, erzählt Ondruschka. Doch seit er beruflich stärker eingespannt ist und vor allem, seit der siebenjährige Sohn Emil und die zwei Jahre alte Clara die Familie vervollkommnen, sei Sport eher „zum Nebengewerbe geworden“. Er selber bezeichnet sich als „liebenden Familienvater“.

Mit den Kindern gehen seine Frau und er vor allem gern in den Zoo und in die Natur. „Das machen wir auch meist an unseren Urlaubszielen.“ Den neuen Chef-Posten und die Familie zeitlich unter einen Hut zu bringen scheint für Ondruschka kein Problem zu sein. „Ich stehe früh auf und kann sofort arbeiten, effektiv und ohne Pause.“

Im Übrigen: „Arbeit ist für mich keine Pflicht, sondern meist Vergnügen“, versichert er. Und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: „Der Tag hat bei mir manchmal 28 Stunden.“