Hamburg. Die Mission wäre fast gescheitert. Einjährige Expedition durch die Arktis soll Aufschlüsse über Klimawandel geben. Ein Rückblick.
Es war eine Forschungsreise der Superlative: 20 Nationen hatten sich zusammengetan zur größten Arktis-Expedition, die es je gab. Auf ihrer gut einjährigen Reise drifteten die Wissenschaftler von September 2019 bis Oktober 2020 an Bord der „Polarstern“ festgefroren an einer Eisscholle durch die zentrale Arktis, in Regionen, die in der Polarnacht nahezu unerreichbar sind.
Ihre Mission: Daten sammeln für die Bewältigung eines Menschheitsproblems – den Klimawandel. Für viele der insgesamt 442 Wissenschaftler an Bord wurde es zum größten Abenteuer ihres Lebens. Denn die Arktis, eiskalt, kontrastarm und lebensfeindlich, kann auch große Emotionen auslösen.
„Es gab viele Momente, in denen man ehrfürchtig wurde“, sagt der Leiter der Expedition, der Atmosphärenphysiker und Klimaforscher Markus Rex. Und offenbar gebe es da oben in der Arktis ein unentdecktes Virus. „Die Natur ist so einzigartig und besonders, dass es einen immer wieder dorthin zieht.“ Rex beschreibt seine Erlebnisse während der 389 Tage dauernden Forschungsreise mit dem Namen MOSAiC in einem Buch: „Eingefroren am Nordpol. Das Logbuch von der ,Polarstern‘“ ist soeben bei Bertelsmann erschienen.
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Nachdem die „Polarstern“ im Herbst 2019 vom norwegischen Tromsö aus aufgebrochen ist, nimmt sie zunächst Kurs auf das Meer nördlich von Sibirien. Dort suchen Rex und sein Team nach einer geeigneten Eisscholle, mit der das Schiff durch die Zentralarktis driften soll. An der Auswahl der richtigen Scholle, auf der eine ganze Wissenschaftsstadt mit zahlreichen Messstationen aufgebaut werden sollte, hängt maßgeblich der Erfolg der Mission.
Anfang Oktober 2019 ist sie nach vielen Hubschrauber-Erkundungsflügen und intensiven Beratungen gefunden. Was Rex dann sieht, beschreibt er in seinem Buch so: „Wie ein ferner Planet liegt die Scholle am nächsten Morgen um uns herum. Und nicht nur die weite, weiße Ebene und die bizarren Eisformationen, die sich auf ihr abzeichnen, wecken Assoziationen an einen fremden Himmelskörper. Tatsächlich hat noch nie zuvor ein Mensch diesen Boden betreten.“
150 Tage lang haben Wissenschaftler und Crew in der aufziehenden Polarnacht nur Dämmerung und Dunkelheit um sich herum. Die „Polarstern“ ist ihre sichere Festung, als die Temperaturen auf bis zu - 40 Grad sinken. In den Messstationen auf dem Eis sammeln die Wissenschaftler wertvolle Proben, entnehmen Wasser aus großen Tiefen, machen Messungen in großer Höhe. Abwechselnd übernehmen sie die Eisbären-Wache, insgesamt nähern sich 58-mal Eisbären dem Schiff oder den Messstationen. Einige Male müssen sie mit Signalpistolen vertrieben werden.
An Bord lenken sich die Forscher mit Tischtennis-Turnieren, Kino- und Grillabenden sowie Festen in der bordeigenen Bar Zillertal ab. Einmal vergnügt sich eine 40-köpfige Gruppe mit einem mehrtägigen Gesellschaftsspiel, bei dem es darum geht, einen „Mörder“ zu fassen, der nur „zuschlagen“ darf, wenn er eine Person allein in einem Raum antrifft. Die Isolation macht erfinderisch. „Es war eine unglaublich faszinierende, internationale Stimmung an Bord“, erinnert sich Rex. Er ist nach Hamburg gekommen, um sein Buch im Planetarium in der NDR-Reihe „Der Norden liest“ vorzustellen und über die Expedition zu berichten.
Am 16. November 2019 kündigt sich ein Sturm an
Am 16. November 2019 kündigt sich ein Sturm an, eigentlich kein Grund zu großer Beunruhigung. „Doch plötzlich ein lauter Knall, ein Schlag geht durch das Schiff, in einem Ruck wird es hin und her geworfen und zittert danach unter unseren Füßen“, schreibt Rex in seinem Logbuch. Direkt vor ihnen hatte sich im Eis so großer Druck aufgebaut, dass es bricht und die Schollen meterhoch aufstellt. Ein komplett neues Eisgebirge entsteht.
Durch die Drift wird das Wissenschaftscamp auf dem Eis verschoben. Schnell sichern die Teams so gut es geht die Messstationen auf dem Eis oder bergen Instrumente. Bald umtost der Sturm die „Polarstern“, nimmt jede Sicht. „Er heult an dem Schiff und rüttelt daran; wir sind mitten im Nirgendwo des arktischen Eises völlig auf uns gestellt“, schreibt Rex. Doch die Wissenschaftler bleiben gelassen. Als der Sturm vorbei ist, müssen viele Stromleitungen repariert und Messstationen wiederhergestellt werden. Doch bleibenden Schaden hat der Sturm nicht angerichtet.
Falls die Forscher glauben, das Schlimmste sei überstanden, haben sie nicht mit Corona gerechnet. Die Pandemie macht im Frühjahr dieses Jahres die gesamte Logistik der zweiten Expeditionshälfte zur Makulatur. An Bord der „Polarstern“ sind Forscher und Mannschaft zwar vor dem Virus so sicher wie kaum sonstwo in der Welt. Doch der geplante Austausch der Wissenschaftler und vor allem die Versorgung des Schiffes ist nicht mehr wie geplant möglich.
Die Landepisten für die Versorgung aus der Luft sind auf der Scholle präpariert, doch der internationale Flugverkehr kommt praktisch zum Erliegen, Reisen sind stark reglementiert, und Spitzbergen, von wo aus die Flugzeuge starten sollen, ist gesperrt. Ein Abbruch der 140 Millionen Euro teuren Expedition, die zehn Jahre lang vorbereitet worden war, steht im Raum. „Es war ein Albtraum“, erzählt Rex dem Abendblatt. „Zwischenzeitlich dachte ich, es sei vorbei mit dieser Expedition. Das hing am seidenen Faden.“ Sie hätten nie aufgegeben, nach Lösungen zu suchen. „Es gab aber Tage, wo ich nicht darauf gewettet hätte, dass wir das hinbekommen“, so Rex. „Das wäre eine Katastrophe gewesen.“
Sieben Menschen werden mit Flugzeugen herausgeholt
Das aktuelle Forschungsteam muss länger als geplant an Bord bleiben. Einen Lagerkoller bekommen aber nur die wenigsten, erzählt Rex. „Die Mehrheit des Teams war zufrieden mit der Situation oder hat sich sogar gefreut. Die allermeisten Wissenschaftler wollten gern länger an Bord bleiben, um länger ihre Messungen durchführen zu können.“ Die Plätze waren ja begehrt gewesen. „Es wären gern dreimal so viele Forscher mitgekommen, wie wir Platz hatten.“
Einige Wissenschaftler machen sich aber große Sorgen um Familien und Freude zu Hause oder müssen zwingend zurück. So starten zwei mit TwinOtter von Nord-Kanada und über Nord-Grönland zur „Polarstern“ und holen sieben Menschen nach Hause. „Allein, dass so etwas möglich war, gab den anderen, die blieben, ein gutes Gefühl“, sagt Rex. Auf dem Rückflug bleiben einige Sitze leer. „Alle, die geblieben sind, haben dies aus freien Stücken getan.“ Am Ende steuert die „Polarstern“ einen Fjord bei Spitzbergen an. Hier trifft sie sich mit den Schiffen „Sonne“ und „Maria S. Merian“, die mit frischen Lebensmitteln und neuen Wissenschaftlern (nach deren Quarantäne) von Bremerhaven aus gestartet waren. Mission gerettet.
Ihr Ziel ist es, den Einfluss der Arktis auf das globale Klima besser zu verstehen — und den Klimawandel sehr viel genauer als bisher vorhersagen zu können. Denn kaum eine Region der Erde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so stark erwärmt wie die Arktis. „Was wir gesehen haben, war deprimierend“, erzählt Rex. „Wir haben selbst direkt am Nordpol völlig aufgeschmolzenes erodiertes Eis gefunden, von Schmelzwassertümpeln durchlöchert wie ein Schweizer Käse in einem Bereich, wo wir eigentlich dickes, auch teilweise mehrjähriges Eis haben sollten.“ Die Wissenschaftler konnten mit eigenen Augen sehen, wie das Eis verschwindet. „Das berührt einen selbst, nicht nur auf der rein rational-wissenschaftlichen Ebene, sondern auch ganz persönlich emotional. Dass diese fantastische Eislandschaft, die von unfassbarer Schönheit ist, zudem die Basis vieler indigenen Völker und uns ein Jahr lang eine Heimat war, verschwindet, ist deprimierend“, sagt Rex. „Wenn wir auch nur annähernd so weitermachen wie bisher, wird die Arktis im Sommer eisfrei werden.“
Genauen Aufschluss über die Prozesse soll nun die Auswertung der Daten liefern. „Wir bringen aus der Arktis einen Schatz an Daten zurück“, sagt Rex. Insgesamt sind es 140 Terabyte, Tausende Eisbohrkerne mit insgesamt sicherlich 10.000 Proben von Schnee und Eis, Ozeanwasser und Atmosphärenbestandteilen sowie Lebewesen. Die Auswertung wird mehrere Jahre dauern. Rex, Leiter der Atmosphärenphysik am Alfred-Wegener-Institut (AWI), hat die Koordination. „Die vielen Disziplinen, die wir an Bord hatten, haben zuvor oft nicht sehr eng zusammen gearbeitet. Das muss gut abgestimmt werden, damit wir den interdisziplinären Ansatz der Expedition weiter aufrechterhalten und das Gesamtsystem Arktis betrachten.“
Geschehen in der Arktis ist entscheidend für das Klimageschehen weltweit
Es geht darum, die komplexe Mechanik der ineinandergreifenden Prozesse besser zu verstehen. Klar ist nur, dass das Geschehen in der Arktis entscheidend ist für das Klimageschehen weltweit. „Der Temperaturkontrast zwischen der kalten Arktis und unseren wärmeren Breiten treibt das Hauptwindsystem der Nordhemisphäre an – das Westwindband. Dieser Westwind-Jetstream ist bestimmend für unser Wetter und Klima. Erwärmt sich die Arktis schneller als der Rest der Erde, nimmt der Temperaturkontrast zwischen Arktis und unseren Breiten ab, und der Motor für dieses Westwindband fängt an zu stottern“, erläutert Rex. „Wenn dies passiert, kommt es zu Wetterextremen – von Kaltluftausbrüchen aus der Arktis bis in unsere Breiten bis hin zu langen warmen und trockenen Phasen im Sommer.
Noch einmal zurück auf die „Polarstern“: Am 19. August, Tag 335 der Reise, erreicht die „Polarstern“ den Nordpol. Fast alle Expeditionsmitglieder haben sich auf der Brücke versammelt und starren gebannt auf die Koordinaten des Navigationscomputers. Plötzlich piepen die Fehlermeldungen im Navigationssystem, als der Kompass keine Richtung mehr melden kann: Hier geht es überall nach Süden. Auf der Brücke herrscht eine andächtig-ausgelassene Stimmung wie zu Silvester um Mitternacht. „Ein erhabener Moment“, so Rex.