Hamburg. Der Gedächtnispreis geht an die Hamburger Initiatorinnen eines Elternkursus, der Mütter und Väter feinfühliger macht.

„Mein Ziel ist es, Kinder durch sichere Bindungen stark zu machen“, sagt Vera Berndt. „Auf das Fundament der ersten drei Jahre im Leben eines Kindes baut seine gesamte Entwicklung auf“, sagt Dagmar Brandi. Die beiden Frauen haben sich vor drei Jahren zusammengetan und ein gemeinsames, ehrenamtliches Projekt gestartet: den Elternkursus „Sicherer Hafen“. Dafür erhalten sie heute den Yagmur-Gedächtnispreis.

„Das ist ein Herzensprojekt“, sagt Vera Berndt, die vor fünf Jahren die Berndtsteinkinder Stiftung gegründet hat. „Ich selbst durfte Liebe, Familie und Selbstbestimmung erfahren. Das ist ein großer Luxus, der mir jeden Tag bewusst ist.“ In Hamburg gebe es augenfällig viel Kinderarmut, materielle und besonders emotionale Armut, diese gehe einher mit mangelnder Feinfühligkeit. Und das trifft dann oft die Schwächsten in der Gesellschaft.

Vera Berndt hat mit Dagmar Brandi eine starke Verbündete gefunden

Vera Berndt hat vor drei Jahren mit Dagmar Brandi eine starke Verbündete gefunden. Die Kinderärztin hatte sich nämlich mit der Babyambulanz „Von Anfang an“ bereits auf die Förderung von Eltern mit Kindern bis drei Jahren spezialisiert. Ihre Zielgruppe reicht von psychisch kranken oder stark belasteten Eltern und Alleinerziehenden bis hin zu Familien ohne besondere Belastung. Denn: „Selbst sogenannte Wunschkinder bringen viele junge Eltern absolut an ihre Grenzen.“ Laut Untersuchungen empfinden 30 Prozent der Eltern beim ersten Kind zu viel Stress und fühlen sich psychisch beeinträchtigt.

Was braucht mein Baby? Wie geht Erziehung? Wie werde ich eine gute Mutter, ein guter Vater? Diese Fragen haben sich Eltern auch früher schon gestellt. „Aber früher hatte man mehr Personal“, sagt Dagmar Brandi. Heute seien Eltern oft isoliert, überliefertes Wissen sei verloren gegangen, es gebe weniger soziale Verbände, mehr berufstätige Mütter. Dazu kommen plötzlicher Schlafmangel und die neue Aufgabe, rund um die Uhr verfügbar zu sein. Und eine unglaublich hohe Erwartungshaltung. „Der Anspruch an die Mütter ist heutzutage enorm, alles soll perfekt sein, aber das geht eben nicht“, sagt Martina von Uexküll, Vorstandsvorsitzende der Babyambulanz.

Je sicherer die Eltern, desto einfacher der Alltag mit Kind

Die Folge seien eine zunehmende Verunsicherung junger Eltern im Umgang mit ihren Babys und Kleinkindern. In einer aktuellen Studie vom Nationalen Zen­trum Frühe Hilfen (NZFH) stellen Kinderärzte fest: Die Anzahl von Familien mit psychosozialen Belastungen in den Praxen nimmt zu. Mit erheblichen Folgen für die Babys, die auf den Umgebungsstress oft mit Schreien, Trinkschwierigkeiten oder starker Unruhe mit Schlafschwierigkeiten reagieren.

„Mit dem Elternkursus möchten wir erreichen, dass Mütter und Väter im Umgang mit ihrem Kind sicherer werden“, sagt Projektkoordinatorin Meike Kollmeyer. Die Formel lautet: Je größer die Sicherheit der Eltern, desto einfacher wird der Alltag mit dem Kind. In den Kursen geht es darum, den Stress zu reduzieren, die Lebensfreude zu steigern, gelassener zu werden, die Welt aus Kinderaugen zu betrachten, nicht bei jeder Kleinigkeit in Panik zu geraten.

Kinder sollen einen sicheren Hafen haben

All das lernen Eltern im „Sicheren Hafen“ bestenfalls schon während der Schwangerschaft und dann 20 Monate lang. Der Kursus, der mittlerweile an elf Standorten in Hamburg angeboten wird, umfasst vier Gruppentreffen und elf Einzelberatungen bei den Eltern zu Hause. Er ist grundsätzlich kostenlos, wer es sich leisten kann, zahlt 25 Euro im Monat. Noch gibt es freie Plätze. Bei den Treffen werden auch Videoaufnahmen gemacht. Beim Wickeln, beim Spielen, beim Füttern. Anschließend werden die Filme zusammen angeschaut. „Seht mal, passt euer Verhalten in dieser Situation zum Bedürfnis des Kindes?“ Es gehe auch darum, anhand der kleinen Filme Wissen zu vermitteln.

Die Entwicklungspsychologische Beratung (EFB), die im „Sicheren Hafen“ bisher mehr als 160 Familien erfahren konnten, wurde an der Universität Ulm ursprünglich zum Kinderschutz entwickelt. Es geht um Prävention und darum, dass Kinder einen sicheren Hafen haben, wenn Stürme und Unwetter drohen. Einen Hafen, den die dreijährige Yagmur nicht hatte, als sie von ihrer Mutter über Monate misshandelt wurde und im Dezember 2013 starb. Todesursache waren innere Blutungen infolge eines Leberrisses. Bei der späteren Obduktion wurden außerdem Verletzungen weiterer Organe und des Gehirns, ein schlecht verheilter Bruch des linken Armes über dem Ellenbogengelenk, Brandnarben und mehr als 80 Hämatome festgestellt.

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Michael Lezius, der 2015 die Yagmur-Gedächtnisstiftung gegründet hat und die diesjährige Gedenkveranstaltung im Rathaus wegen Corona absagen musste, freut sich über die Entscheidung der unabhängigen Jury: „Kinder brauchen eine frühkindliche Bindung an ,kompetente‘ Eltern, denn das Urvertrauen kann nur entstehen, wenn Erziehung von den physiologischen Bedürfnissen des Kindes her gedacht wird.“

Vera Berndt, Dagmar Brandi und ihr neunköpfiges Team bedeutet der Preis sehr viel. „Eine große Anerkennung, dass wir durchgehalten haben. Eine wichtige öffentliche Aufmerksamkeit, weil unsere Arbeit zu hundert Prozent durch Spenden finanziert wird.“ Und ein Schritt hin zu ihrem Ziel: eine Regelversorgung mit den Kursen durch die Krankenkassen.