Hamburg. Polizei-Pressesprecherin Sandra Levgrün über Einsätze, die im Gedächtnis bleiben, ihren Werdegang – und ihren Lieblings-“Tatort“.

Sie wird gerufen, wenn’s heikel wird. Wenn die Polizei sich erklären muss. Oder rechtfertigen. Wenn ein Einsatz schiefgelaufen ist. Oder ein auf brisante Inhalte zurechtgestutzter Handyfilm viral geht und eine Empörungswelle auslöst. Oder wenn – wie zuletzt in Winterhude – die Polizei bei einem Einsatz einen Menschen erschießt. Dann ist Sandra Levgrün gefragt. Die Polizeirätin ist die erste Frau überhaupt, die die Pressestelle der Hamburger Polizei leitet. Levgrün ist das Gesicht der Hamburger Polizei.

Pressesprecherin Sandra Levgrün kommt aus Scharbeutz

Scharbeutz – was viele Städter ihren Sehnsuchtsort nennen, ist für junge Leute von dort alles andere: klein, eng, langweilig, spießig. „Ich habe dort Abitur gemacht und anschließend noch eine Verwaltungsausbildung“, sagt Levgrün. Bodenständig nennt sie es, vor dem ersehnten Neustart noch einen Beruf erlernt zu haben.

Aber klar war: Sie will weg. Weg vom Land, um in der Großstadt einen Beruf zu finden, in dem man „spannende Dinge erleben kann“. Da lag die Polizei ganz weit vorn. Angekommen ist Levgrün 1996 in Bremen, „das Auswahlverfahren war schneller abgeschlossen“. Auch wenn Bremen aus Sicht mancher Hamburger alles ist, nur keine Großstadt, der jungen Frau von der Ostsee war’s erst einmal groß genug, bis im Jahr 2000 der Wechsel nach Hamburg gelang.

Der Musterlebenslauf einer Schutzpolizistin

Die Stationen hier lesen sich wie im Musterlebenslauf einer Schutzpolizistin: Bereitschaftspolizei, Jobs an Polizeiwachen, Einsatzführerin (im Kommissariat 33 am Wiesendamm), Arbeit im Führungsstab. Dann bricht der klassische Werdegang: Levgrün wird Büroleiterin des Polizeichefs, erst bei Werner Jantosch, später dann bei Ralf Martin Meyer ein zweites Mal.

Zwischenzeitlich arbeitete sie in der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit 38 Mitarbeitern, deren Leitung sie vor 15 Monaten schließlich übernahm. Mit dem neuen Job ging’s dann auch gleich in Lockdown und Quarantäne. Lockdown für das Team, vorsorgliche Quarantäne für die neue Chefin nach einem Skiurlaub in den Alpen.

Pressestelle arbeitete im Zweischichtprinzip

Für die Pressestelle galt fortan ein Zweischichtprinzip: Die eine Hälfte der Mitarbeiter arbeitete im Präsidium, die zweite Hälfte im Homeoffice. Nach einer Woche wurde gewechselt, begegnet sind sich die beiden Gruppen nie. So wäre zumindest ein Team bei einem Corona-Ausbruch arbeitsfähig geblieben.

Sie sind oft die Ersten an einem Unfallort mit schwer verletzten Opfern, überbringen Angehörigen Todesnachrichten oder werden um Hilfe für misshandelte Frauen und Kinder gerufen. Die psychische Belastung von Polizistinnen und Polizisten ist – neben der körperlichen Beanspruchung durch Schichtdienst und Wochenendarbeit – sehr stark, belegen Studien und Befragungen Betroffener. Wie geht man mit diesem Druck um? Wie wird man die Bilder im Kopf wieder los?

Psychische Belastung bei Polizisten sehr stark

Routine hilft, man wird härter, lernt auszuhalten und auszublenden. Aber so ganz funktioniert das doch nicht. „Es gibt diese Einsätze, die sich in die Erinnerung eingebrannt haben, die einem ans Herz gegangen sind“, sagt Levgrün. Wie der vor dem Weihnachtsabend, zu dem sie und Kollegen gerufen wurden, als ein Mann versuchte, seine Frau zu töten. Die Mutter kam schwerstverletzt ins Krankenhaus, der Vater in Untersuchungshaft – und die beiden kleinen Kinder in Obhut der Polizei. „Wir haben an der Wache versucht, ihnen den Heiligabend zu retten. Aber das funktionierte natürlich nicht“, erinnert sich Levgrün.

Da war der Fall der jungen Frau, die bei einem Verkehrsunfall so schwer verletzt wurde, dass der Notarzt empfahl, die Eltern zu alarmieren, um sich wenigstens noch von ihrer Tochter verabschieden zu können. „Nur: Die Mutter hat das Unerhörte, was wir ihr sagten, einfach nicht wahrhaben wollen. Sie hat zunächst nicht akzeptiert, wie es um ihre Tochter stand“, sagt Levgrün.

Man lerne mit der Zeit, das Erlebte nicht mehr so nah an sich heranzulassen. „Aber man muss schon sehr genau auf sich und die Kolleginnen und Kollegen aufpassen“, sagt Levgrün. Aufpassen, nicht abzustumpfen, aber auch aufpassen, dass solche Fälle einen nicht irgendwann einholen und zum Trauma werden.

Levgrün: „Mein Partner ist auch bei der Polizei"

Misshandelte Kinder, missbrauchte Frauen, Opfer von Unfällen oder Überfällen – was davon schleppt man mit nach Hause? „Mein Partner ist auch bei der Polizei, und mit ihm habe ich einen Gesprächspartner, sofort und unmittelbar, einen, der die Situation nachfühlen kann“, erzählt Levgrün – und dass sie schon Silberhochzeit hätten feiern können, hätten sie sich getraut damals.

Mit ihm kann sie über die Belastungen des Jobs sprechen, „aber auch nicht allzu viel“. Dafür haben sie zu viele Hobbys – wie mit einem Katamaran Regatten zu segeln bis hin zu Weltmeisterschaften. 25 Jahre gingen sie dem zeitintensiven Hobby nach, jetzt ist das Segel- gegen ein Motorboot getauscht worden. „Schnell auf dem Wasser Entspannung zu finden funktioniert mit dem Motorboot in der Lübecker Bucht deutlich einfacher“, sagt Levgrün. Was sie sonst noch macht? Joggen, Ski fahren – und Krimis gucken; am liebsten „Tatort“ (vor allem die aus Münster) und „Polizeiruf 110“ (vor allem die aus Rostock mit Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner).

Menschliches Leid so unmittelbar zu erleben ist enorm belastend. Und doch vermisst Levgrün die Arbeit im Streifendienst, wo man halt auch jeden Tag ganz wunderbare Dinge erlebe, schwärmt Levgrün. „Weil man ganz oft wirklich Freund und Helfer ist und im richtigen Moment den Menschen eine Stütze sein kann.“ Jetzt bekommt sie stattdessen die Fälle gefiltert auf den Schreibtisch, um sie zu kommunizieren. Nur bei größeren Einsätzen ist Levgrün oder einer aus ihrem Team vor Ort.

Levgrün war beim Einsatz in Winterhude vor Ort

Wie zuletzt an der Hebebrandstraße in Winterhude. Ein Mann hatte „Allahu Akbar“ gerufen, „Gott ist groß“, dabei Passanten mit dem Messer bedroht. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, dann eine Elektroschockpistole, um den 36-Jährigen zu stoppen – erfolglos. Als der Polizisten mit dem Messer bedrohte, schoss einer mehrfach. Jede Hilfe für den Flüchtling kam zu spät. „Um mir ein Bild vom Tatort zu machen, um nah dran an den Informationen und den Kollegen zu sein, fahre ich zu solchen Einsätzen.“

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Einen Karriereplan habe es nie gegeben, sagt Levgrün. Auf keine ihrer Funktionen habe sie bewusst zugesteuert, auch nicht auf den Job als Sprecherin. „Aber in der Nachschau ist diese Aufgabe fast schon logisch und konsequent.“ Denn es habe sie schon immer das Bedürfnis angetrieben, den „Menschen da draußen zu erzählen, was die Polizei alles Gutes tut“.

Es gibt zu wenig weibliche Führungskräfte bei der Polizei

Wenn sie einen Umstand bei der Polizei kritisiert, weiß sie sich in Einklang mit ihrem Chef und Förderer Ralf Martin Meyer. „Der Umgang mit Macht oder das Eingestehen von Fehlern fällt leichter bei Vielfalt in der Führung. Mit Frauen entwickeln Sie eine andere Diskussionskultur“, hat es der Polizeipräsident im Abendblatt-Interview formuliert.

Bei Levgrün klingt das so: „Es gibt zu wenig weibliche Führungskräfte bei der Hamburger Polizei.“ Es sind weniger emanzipatorische Überlegungen, die Levgrün dabei umtreiben: Sie ist davon überzeugt, dass die Polizei nur besser werden kann, wenn sie auch in den höchsten Führungsebenen weiblicher wird. Der Umgang wäre ein anderer, Konflikte würden anders gelöst, die Atmosphäre würde sich ändern. Wenn Männer konsequent Entscheidungen träfen und dabei auch mal energischer würden, nenne man das „starkes Führungsverhalten“; verhielten sich Frauen so, nenne man das – auch in Führungsrunden - „bestenfalls zickig“.

Vorwürfe zu strukturellem Rassismus gegen Polizei

Levgrün ist es ein großes Bedürfnis, „all die guten Dinge, die die Polizei macht, auch transparent zu machen. Je besser die Menschen verstehen, was wir machen und warum, umso besser wird das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Polizei.“

Dass bei einem Teil der Bevölkerung aber statt Vertrauen aufzubauen Misstrauen wächst, treibt Levgrün um. „Es macht mich wütend, wenn ich pauschale Vorwürfe eines strukturellen Rassismus bei der Polizei höre.“ Gegen Pauschalisierungen dieser Art oder auch gegen auf wenige Sequenzen zurechtgeschnittene Filmchen von Verhaftungen, die zeigten, wie Polizisten Gewalt anwendeten, aber ausblendeten, was zuvor passierte, könne man sich nicht wehren. „Aber solche skandalisierenden Handyfilme beschädigen das Vertrauen in die Polizei.“

Die Polizei steckt in der Defensive

Es sei „erst einmal sehr leicht, im Netz Vorwürfe gegenüber der Polizei zu verbreiten. Jeder packt noch sein Stück Empörung obendrauf, und so gehen Vorwürfe hunderttausendfach durchs Netz, ohne Chance auf Richtigstellung“, sagte Innensenator Andy Grote (SPD) dazu im Abendblatt. Das Pro­blem: Die Polizei steckt in der Defensive. Zu laufenden Ermittlungsverfahren darf sie kaum etwas sagen. Und wenn sie sich detailliert zu Vorwürfen äußern könnte, also nach Abschluss der Verfahrens, ist das Interesse erkaltet.

Und was kommt nach der Arbeit in der Pressestelle? Wenn sie die freie Wahl hätte, so in einigen Jahren, dann würde sie sehr gern „ein Polizeikommissariat leiten“, sagt Levgrün. „Es gäbe so viele Möglichkeiten, mit engagierten Bürgern und Organisationen vor Ort einen Stadtteil zu entwickeln und zu betreuen. Das wäre aus meiner Sicht der schönste Job bei der Polizei“, sagt die 46-Jährige.

Die Zeiten ändern sich. Während es die 20-Jährige mit Macht in die Großstadt drängte, verschieben sich mit Mitte 40 die Prioritäten. Wieder zurückzugehen in die Heimat an der Ostsee, „das kann ich mir sehr gut vorstellen“, sagt Levgrün. „Irgendwann.“