Hamburg. Priester sollen Jungen sexuell missbraucht haben. Heße werden elf Pflichtverletzungen vorgeworfen. Kardinal Woelki reagiert.
Der Strafrechtler Björn Gercke hat dem heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße elf Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von Missbrauchsvorwürfen im Erzbistum Köln vorgeworfen. Das sagten Gercke und die Rechtsanwältin Kerstin Stirner am Donnerstag bei der Vorstellung ihres 800 Seiten starken Gutachtens.
Heße war vor seiner Berufung nach Hamburg Personalchef und Generalvikar im Erzbistum Köln. In dieser Funktion musste er sich mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Priester auseinandersetzen. Heße bestreitet bisher die bereits in anderem Zusammenhang gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Nach dem Urteil der Gutachter sind jedoch elf Pflichtverletzungen nachweisbar. Davon seien sieben Pflichtverletzungen nicht ordnungsgemäß bearbeitete Missbrauchsfälle gewesen.
Erzbischof Heße bietet Papst seinen Amtsverzicht an
Heße gab bereits am Nachmittag eine persönliche Erklärung ab. Er habe immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, ihm sei jedoch bewusst, dass er Fehler gemacht habe.
Die externe Untersuchung sei unverzichtbar gewesen. "Ich habe immer gesagt, dass ich mich den Untersuchungen stellen werde", sagte Heße. "Ich habe mich nie an Vertuschung beteiligt." Er sei dennoch bereit, seinen Teil der Verantwortung für das Versagen des Systems zu tragen. "Um Schaden vom Amt und vom Erzbistum abzuwenden, biete ich dem Papst meinen Amtsverzicht an und bitte ihn um die sofortige Entbindung von meinen Aufgaben", so der Erzbischof.
Sexueller Missbrauch im Erzbistum: Woelki reagiert
Auch der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp, der 2004 Generalvikar in Köln wurde, steht mit auf der Liste der Beschuldigten. Der 53-Jährige soll sich mit acht Pflichtverletzungen schuldig gemacht haben. Zudem wird Schwaderlapps Vorgänger als Generalvikar, der ehemalige Dompropst Norbert Feldhoff, in dem Gutachten beschuldigt – dem emeritierten Feldhoff werden 13 Pflichtverletzungen vorgeworfen.
Schwaderlapp hat bereits kurz nach Vorstellung des Gutachtens dem Papst seinen Amtsverzicht angeboten. Unmittelbar nach der Präsentation hat ihn Kardinal Rainer Maria Woelki zudem vorläufig von seinen Dienstpflichten entbunden. „Daher möchte ich auch aus der Situation der Stunde heraus und auch auf der Grundlage dessen, was ich hier gerade gehört habe, die gerade Genannten, Weihbischof Schwaderlapp und Herrn Offizial Assenmacher, mit sofortiger Wirkung vorläufig von ihren Aufgaben entbinden“, sagte Woelki. Günter Assenmacher ist als Offizial unter anderem für kirchengerichtliche Angelegenheiten zuständig.
Gutachter stellen Hinweise auf 202 Beschuldigte fest
Bei Kardinal Woelki sehen Gercke und sein Team dagegen keine Pflichtverletzungen. „Medial wäre es für uns am einfachsten gewesen, Herrn Woelki hier zum Schafott zu führen“, sagte der Strafrechtler. Dafür gebe es aber keine Grundlage. Gercke sagte, zu derselben Einschätzung sei auch das von Woelki unter Verschluss gehaltene Münchner Gutachten gekommen, ebenso der Vatikan.
Gercke hat in seinem Gutachten zum Umgang des Erzbistums Köln mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs Hinweise auf 202 Beschuldigte festgestellt. Es gehe um das erste Gutachten dieser Art, in dem ungeschwärzt auch die Namen von Verantwortlichen genannt würden, sagte Gercke.
24 Pflichtverletzungen von Kardinal Meisner
Zusammen mit seinem Team hat er in den vergangenen Monaten die Kirchenakten von 1975 bis 2018 ausgewertet. Insgesamt stellten die Gutachter 75 Pflichtverletzungen fest, die von acht lebenden oder verstorbenen Verantwortlichen begangen worden seien.
Die mit Abstand schwersten Vorwürfe machten die Gutachter dem 2017 verstorbenen Kölner Kardinal Joachim Meisner. Diesem seien 24 Pflichtverletzungen und damit fast ein Drittel aller Fälle vorzuwerfen. Auch dem 1987 verstorbenen Kardinal Joseph Höffner seien Pflichtverletzungen vorzuwerfen, befanden die Gutachter.
Priestern wird sexueller Missbrauch vorgeworfen
Die Opfer waren laut Gutachter mehrheitlich Jungen. Bei 63 Prozent der Beschuldigten handele es sich um Kleriker, also Priester. In knapp 32 Prozent der Fälle habe es sich um sexuellen Missbrauch gehandelt, in gut 15 Prozent um schweren sexuellen Missbrauch. Die anderen Fälle stuft Gercke unter anderem als Grenzverletzungen und sonstige sexuelle Verfehlungen ein.
Ob und welche Konsequenzen das Gutachten hat, ist noch offen. Der Kölner Kardinal Woelki will dies in den kommenden Tagen mit den kirchlichen Gremien in Köln diskutieren und am Dienstag weitere Konsequenzen benennen. Er hatte auch für sich selbst bei der Feststellung von Fehlverhalten Konsequenzen angekündigt.
Katholische Jugend Hamburg: Heße soll Amt ruhen lassen
Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Erzbistum Hamburg bezeichnete die Ergebnisse als "schockierend". Diese bestätigten jedoch die Befürchtungen der BDKJ. Es sei davon auszugehen, dass das wirkliche Ausmaß sexualisierter Gewalt noch viel größer ist.
"Mit Spannung erwarten wir daher, wie sich Erzbischof Heße zu den Ergebnissen verhalten wird", teilte die BDKJ am Nachmittag mit. "Da nun sogar weitergehende Schritte notwendig sein könnten, erscheint es uns unerlässlich, unsere Forderung an Erzbischof Heße zu bekräftigen, dass er sein Amt ruhen lassen solle."
Missbrauchsbeauftragter: Ausmaß ist „erschreckend“
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung hat das Ausmaß der Vorwürfe als erschreckend bezeichnet. Er sei froh, dass die „Zeit des unerträglichen Wartens“ auf die Untersuchung nun ein Ende habe, erklärte Johannes-Wilhelm Rörig. Das Gutachten sei ein wichtiger von vielen weiteren Mosaiksteinen der Aufarbeitung. Das auf Basis der Aktenlage „gezeichnete Ausmaß des Missbrauchs und der Pflichtverletzungen kirchlicher Verantwortungsträger“ sei allerdings „erschreckend“.
„Ich hoffe sehr, dass die unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche mit ganzer Energie und mit uneingeschränktem kirchlichem Aufklärungswillen in allen deutschen Bistümern weiter vorangetrieben wird“, erklärte Rörig.
Gercke: Aktenführung des Kölner Bistums mangelhaft
Ein erstes Gutachten einer Münchner Kanzlei war von Kardinal Woelki unter Verschluss gehalten worden, wofür er rechtliche Bedenken anführte. Dieses Verhalten Woelkis hatte eine Vertrauenskrise im größten deutschen Bistum ausgelöst.
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Gercke hat die Aktenführung des Bistums als äußerst mangelhaft kritisiert. „Wir haben erhebliche Mängel im Hinblick auf die Organisation des Aktenbestands sowie der Aktenführung im Erzbistum festgestellt. Wir haben bei einigen Akten den Eindruck gewonnen, dass Aktenbestandteile fehlten, da die Verfahrensführung nicht nachvollziehbar war“, sagte er.
Die Auswertung der Akten von 1975 bis 2018 habe unter anderem ergeben, „dass sich Jahrzehnte offenbar niemand getraut hat, solche Fälle zur Anzeige zu bringen“, kritisierte Gercke.