Hamburg. Nachdem sein Bruder (15) in der Elbe ertrunken war, stach Selciuc S. dessen besten Freund nieder. Memati I. überlebte nur knapp.

Wer Memati I. sieht, einen scheinbar gesunden jungen Mann, käme kaum auf den Gedanken, dass er dem Tod vor einem guten halben Jahr gerade noch von der Schippe gesprungen ist. Dass er weiterhin unter Schmerzen leidet, dass er schief läuft und manchmal schlecht träumt. „Neun Stiche“, sagt der 17 Jahre alte Zeuge am Mittwoch dem Vorsitzenden Richter Georg Halbach, habe ihm Selciuc S. mit einem Messer versetzt. Dann zeigt er auf die linke Seite, auf die rechte Seite und auf seinen Rücken. „Da hat er mich erwischt.“

Es war knapp. Memati hatte einen Pneumothorax erlitten, die Leber und das Rückenmark waren verletzt. Neun Stunden lag er im Koma, sieben Stunden wurde er operiert, einen Monat musste er im Krankenhaus bleiben. „Arbeiten Sie wieder?“, fragt Halbach. „Nein. Ich soll mindestens zwei Jahre nicht schwer heben“, sagt Memati I.. Bei einem, der vom Metallsammeln lebt, kommt das einem Beschäftigungsverbot gleich. Zurzeit unterstützt ihn allein seine Familie.

Prozess Hamburg: Selciuc S. stach auf 16-Jährigen ein

Am 19. Juni 2021 stach Selciuc S. den damals 16-Jährigen auf dem Kalischer Platz im Harburger Phoenix-Viertel nieder – weil er glaubte, dass Memati seinen 15 Jahre alten Bruder Selcin am Tag zuvor nicht aus der Elbe vor dem Ertrinken gerettet hatte. Er habe sich an ihm rächen wollen, sagte der 19-Jährige beim Prozessauftakt am vergangenen Donnerstag.

Die Staatsanwaltschaft legt ihm versuchten Mord zur Last, geht aber davon aus, dass er wegen einer psychischen Störung zum Tatzeitpunkt nicht schuldfähig war. Sie strebt daher keine Gefängnisstrafe an, sondern die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Selciuc S. will das keinesfalls: Er habe keine „Stimmen gehört“, die ihm die Attacke befohlen hätten. Er wolle nicht ins Krankenhaus. „Ich will in den Knast.“

„Doch Selcin ist ins Wasser gegangen“

Sein Opfer, ein nun 17 Jahre alter Junge mit leichtem Bartwuchs, zählt sich zu den besten Freunden des ertrunkenen Selcin. Wie er am Mittwoch im Zeugenstand erklärt, wisse er nicht, warum die Rache des Bruders ausgerechnet ihn traf. „Vielleicht weil ich so eng mit Selcin befreundet war?“ Am 18. Juni, so Memati I., fährt er mit seinem älteren Bruder und Selcins Onkel zum Falkensteiner Ufer, dort treffen sie andere Jungs aus Harburg, auch Selcin. Sein Bruder habe noch alle gewarnt, nicht zu schwimmen. „Doch Selcin hat sich sofort bis auf die Unterhose ausgezogen und ist ins Wasser gegangen“, sagt er. Ein guter Schwimmer sei sein Freund nie gewesen.

Memati geht zum Auto, um sich umzuziehen. Als er an den Strand zurückkehrt, sieht er seine Freunde im Wasser, während Selcin von der Strömung fortgerissen wird. Dramatische Szenen spielen sich ab: Beim Versuch zu helfen gerät Selcins Onkel in Lebensgefahr, ein Polizist muss ihn an einer Sicherungsleine aus der Elbe ziehen. Drei Tage später sieht ein Motorbootfahrer Selcins Leiche bei Wedel im Wasser treiben.

Memati mit „Lügen“ konfrontiert

Richter Halbach hält dem Zeugen ein Vernehmungsprotokoll der Polizei vor. Darin steht, dass auch er ins Wasser gesprungen sei, um Selcin zu helfen. Das passe aber nicht zu seiner Aussage, jetzt und hier vor Gericht, wonach er am Ufer geblieben sei. Ob er bei der Polizei gelogen habe? Vielleicht habe er ja besser dastehen wollen. Memati I. schüttelt den Kopf: „Nein. Habe ich nicht.“

Von „Lügen“ des Zeugen hatte schon der Angeklagte gesprochen: Mit anderen Männern sei Memati I. kurz nach dem Badeunfall in der Wohnung seiner Eltern in Harburg aufgetaucht. Da habe Memati zunächst geleugnet, bei dem Unglück dabei gewesen zu sein. Wenig später habe er eine andere Geschichte erzählt: Er habe Selcin noch festgehalten, habe aber seine Hand loslassen müssen, um nicht selbst in Lebensgefahr zu geraten. Selciuc S. sagte, er habe sich rächen wollen – für diese Lüge, aber auch dafür, dass Memati seinen Bruder im Stich gelassen habe. Er habe „das Kind“ verletzen, aber nicht töten wollen.

Memati I. spürte plötzlich Stiche

Memati I. ahnte wohl nicht, wie heftig es in Selciuc S. brodelte, als er ihm am folgenden Nachmittag – aus seiner Sicht zufällig – auf dem Kalischer Platz begegnete. Er setzte sich auf einen Stein, um einen Döner zu essen. Selciuc stand etwas entfernt, habe geweint, mit Bekannten geredet und sich „für eine Minute“ entfernt, so der Zeuge. Plötzlich habe er Stiche gespürt. Ihm sei schwarz vor Augen geworden, er habe gehört, wie sein Schwager rief „du hast ihn gestochen“ und wie Selciuc brüllte: „Mund zu, sonst kriegst du auch ein paar Stiche.“

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Selciuc S. hat den Angriff gestanden, die Situation vor Gericht aber anders dargestellt: Er habe kurz vor der Attacke mit Memati gesprochen, dessen T-Shirt nach hinten gezogen und hindurchgestochen. Er sei überzeugt gewesen, vor allem Stoff und den Jungen „nur einmal“ erwischt zu haben. Auf Nachfrage des Gerichts kann sich Memati I. nicht erinnern, dass Selciuc ihn am T-Shirt zog. Und so berichtet es auch sein Schwager, ebenfalls Zeuge: „Ich habe kurz woanders hingeschaut. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie er Memati an der Schulter hielt und von hinten auf ihn einstach.“ Später habe er mit seinem T-Shirt versucht, die Blutung des Jungen zu stillen.

Prozess Hamburg: Urteil steht noch aus

Ob das Gericht die Tat als versuchten Mord wertet, hängt entscheidend davon ab, ob es von einer heimtückischen Attacke ausgeht. Musste der Junge damit rechnen? Gab es Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff? Der Schwager sagt, dass er Selciuc S. nicht als aggressiv wahrgenommen habe.

Sekunden vor der Attacke habe er gehört, wie er zu Dritten sagte: „Mein Bruder ist im Wasser.“ Dann habe er, unvermittelt und wortlos, auf Memati eingestochen. Nach der Tat habe er den Flüchtenden verfolgt. Als er ihn zur Rede stellen wollte, habe sich der 19-Jährige, mit dem Messer in der Hand, zu ihm umgedreht: „Willst du dasselbe erleben?“ Der Prozess wird fortgesetzt.