Hamburg. Sebastian Johnston hat mit Vivere GmbH Hunderte von Produkten erfunden und trifft damit immer einen Trend. Wie funktioniert das?

Große Erfindungen nehmen dem Menschen entweder Arbeit ab (das Rad, der Pflug, das Auto etc.) oder befriedigen seine Bedürfnisse. Sebastian Johnston hat schon mehr als 700 Bedürfnisse befriedigt. Seine Vivere GmbH stellt Produkte her, die alles abdecken, wonach Menschen im Internet suchen. Nicht die große Liebe zwar, aber alles, was fließt und rieselt, das kann die Company bauen. Bis zu 50 komplett neue Produkte pro Woche entwickelt sie, vom Anti-Stress-Spray über Ohren-Reiniger und Bonsai-Pflegemittel bis zum Teakholz-Säuberungsspray ist alles dabei, was irgendwie in den FMCG-Bereich gehört. Die Abkürzung steht für „Fast Moving Consumer Goods“, es handelt sich also um Konsumgüter, die regelmäßig benötigt und häufig gekauft werden wie etwa Reinigungsmittel und Körperpflegeprodukte.

Johnstons Team haut eine Erfindung nach der anderen raus und trifft damit komischerweise immer genau einen Trend, doch in Wirklichkeit sei das gar kein Hexenwerk, meint Johnston: „Eigentlich sind es die Daten, die die Sachen produzieren, nicht wir.“ Hä? Um das zu verstehen, haben wir uns mal umgeschaut in dem hanseatischen Daniel Düsentrieb-Startup.

Es liegt in der Wilhelmsburger Dratelnstraße, nah dran an den Autobahnen sowie dem Hafen, eine schnelle Logistik ist für diese Art des Unternehmens entscheidend. Der Eingang befindet sich neben einer Laderampe. Was fertig gestellt wurde, geht sofort seinen Weg. Lagerhallen kosten nur Geld, und wenn man vorher weiß, was die Konsumenten morgen brauchen, dann sind sie ohnehin unnötig. Im Flur stehen Produktneuheiten, ein Fahrrad und viele motivierende Sprüche in Leuchtschrift an den Wänden: „The world is yours!“ Oder „And now think even bigger!“. Alles auf Englisch, denn die „Vivere GmbH“ beschäftigt viele Mitarbeiter aus dem Ausland; Unternehmenssprache ist Englisch.

Das Team ist überdurchschnittlich international

Drei Inder kommen mit Wassermelonen vorbei, eine Italienerin grüßt, sie hat Kosmetikwissenschaften, Biochemie und Pharmazie studiert. „Gewisse Qualifikationen finden wir nur im Ausland“, erklärt Johnston. Sein Team ist überdurchschnittlich international, die Leute kommen aus 20 verschiedenen Ländern, was eine Rolle beim geplanten Wachstum spielt. In 14 Länder ist die Vivere GmbH bereits vertreten, darunter neben Europa in den USA, Kanada und Mexiko. Die Expansion nach China wurde wegen Corona nach hinten geschoben, soll aber der nächste „big step“ sein.

Was ist denn das? Die Produkte in den Regalen erkennt man nicht immer sofort, ganz einfach aus dem Grund, weil man nicht wusste, dass es so etwas gibt: Spray gegen Tränenflecken, Tropfen gegen Ohrverstopfungen bei Sportlern, Anti-Stress-Spray für Hunde, ein Rosenquarz Roll-On, Kakteenpflege etc.

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Manche Dinge evozieren die Frage, ob man sie wirklich braucht, doch die Antwort lauten bei allen: Ja! Sonst wären sie hier gar nicht erst entwickelt worden. Die Vivere GmbH produziert ausschließlich Consumer Goods, von denen es wissen: Da gibt es ein Bedürfnis. „Wir sehen den Markt, versuchen, ihn zu verstehen und bauen dann das bestmögliche Produkt als Antwort darauf“, erklärt der 37-Jährige. Und wie erkennt man ein Bedürfnis? Indem man Google und Amazon befragt. Johnston und sein Team benutzen verschiedene Tools, um die Suchvolumina der großen Plattformen zu ermitteln.

Sie erkennen beispielsweise, wenn jemand das Wort Hund eintippt, dass 28.461 Personen darunter auch „Pfoten säubern“ eingeben. Warum also nicht ein Produkt zur Pfotenpflege erstellen? Oder wenn viele Leute gleichzeitig nach „Sport“ und „Grip“ suchen, dann scheinen die Athleten ein Bedürfnis nach festem Halt beim Training zu haben. Da könnte man doch eine Lotion entwickeln. „Wir nutzen die Daten für unsere Produktideen. Wir sehen sogar Saisonalitäten, und wann in welchen Ländern was benötigt wird“, sagt Johnston. Daten stellen also den Kern der Entscheidungsfindung dar. Jeder neue Verbrauchertrend treibt die Geschäftsidee voran.

Unternehmen arbeitet mit Behindertenwerkstätten zusammen

Ist ein potenziell neues Produkt identifiziert, geht es in die Entwicklung. Der Flur des Unternehmens bildet dabei quasi die Schritte ab, die es durchläuft. Im ersten Büro links arbeiten die Designer, die die Idee konkretisieren. Ein Raum weiter sitzt das Brand-Management, sie spezifizieren das Produkt. Soll es als 50 oder 100 ml entstehen, was muss es können, was könnten die Inhaltsstoffe sein, was steht auf der Verpackung? Dann folgt das „Research“-Büro. Die Mitarbeiter dort arbeiten zur Hälfte an ihren Schreibtischen, zur Hälfte im Labor ein Stockwerk tiefer.

Das Forschungs- und Entwicklungsteam besteht aus Chemikern, Medizinern, Pharmazeuten, Bio-Chemikern, Biologen, Bio-Ingenieuren und Kosmetologen. Manche von ihnen können drei Doktortitel vorweisen. Bisschen einschüchternd, auf wie viel Know-how man hier in diesem 0815-Gebäude trifft. Vor lauter IQ scheint kein Platz für Normalsterbliche mehr zu sein, aber dann wackeln zwei Hunde des Weges und man beruhigt sich.

Weiter den Flur entlang analysiert das Data-Team alles, was die Company wissen muss. Wer kauft wann welche Marke wieso zu welchem Preis und für wen? „Maximale Erkenntnis“ nennt der Chef das Büro. Daneben sorgt die „Safety & Compliance“-Unit für die Sicherheit der Neuentwicklungen. Wieder ein Raum weiter sitzt die „Supply Chain“, die sich um die Lieferketten und den Einkauf der Rohstoffe kümmert und schließlich folgt „International Business“. In sieben Sprachen verkaufen die Kollegen ihre unzähligen Produkte, auf dem Schild an der Tür steht „Wolves of Dratelnstraße.“

Von der Laborforschung bis zur Online-Verkaufsoptimierung bleiben also alle Aufgaben in der Firma, nichts wird abgegeben, außer die Verpackung. In dem Punkt arbeitet das Unternehmen mit Behindertenwerkstätten zusammen. „Wir wollen nicht nur international sein, sondern auch integrativ“, sagt Johnston.

Ihre Firma entstand aus einer wortwörtlichen Schnapsidee heraus

Am Ende des Flurs liegt noch ein Büro mit der Bezeichnung „C Level aka The War Rom“. Wer arbeitet da? Militärstrategen? Ein Abteilung, die Waffen herstellt oder die Weltherrschaft plant. „Nee. Wir“, sagt Johnston und meint sich und den Mitgründer Christopher Glatzels sowie den dritten Kumpel und Chef im Bunde Johann du Toit. Johann und Christopher kennen sich seit 30 Jahren. Ihre Firma entstand aus einer wortwörtlichen Schnapsidee heraus. Bei einem Junggesellenabschied in Amsterdam dachten sich die beiden, wie gut es doch wäre, wenn es ein hilfreiches Anti-Kater-Mittel gäbe.

 Die beiden schrieben eine Rezeptur auf einen Bierdeckel und suchten nach verschiedenen Lohnherstellern, doch die waren ihnen alle viel zu langsam, die Abstimmungen zu kompliziert. Ein halbes Jahr später hatten sie die erste Brausetablette in der Hand, die ungenießbar war. Es dauerte ewig, bis ihr Produkt „After Alc“ endlich auf dem Markt war. „Heute brauchen wir von der Idee bis zur internationalen Vermarktung nur acht bis zwölf Wochen“, sagt Johnston.

Die Jungs ließen „After Alc“ fünf Jahre lang einfach im Amazon Shop liegen und kümmerten sich um ihre eigentlichen Jobs. Johnston etwa betreibt gemeinsam mit seiner Frau das Yoga-Label „Hey Honey“ und führte zu der Zeit noch eine Software-Firma für Ticketing und Einlass-Management, das er 2017 an ProSieben verkaufte. „After Alc“ war quasi eine schlafende Schönheit, bis die beiden Freunde sich dazu entschieden, es richtig zu machen. Sie gründeten ihre Firma unter zwei Vorgaben: 1.

Sie wollen alles selbst machen. Das sorgt für kürzere Wege und Kosten, für mehr Expertise Inhouse. Die Qualität kann steigen, wenn man weniger stille Post spielt. Konsumgüterhersteller müssen normalerweise durch den Handel. Doch wer direkt an den Endkunden liefert, der kann Rossmann und DM umgehen und dadurch seine Erkenntnis erhöhen. „Viele Hersteller bleiben immer etwas blind, sie wissen nicht genau, was der Kunde wann zu welchem Preis kauft,“ sagt Johnston .“Wir haben direkten Kontakt und somit Fakten.“

Johnstons Firma kann klein – und auch richtig groß

Als zweiten wichtigen Punkt notierten die Gründer: „No Bullshit!“ Alle ihre Produkte sind tierversuchsfrei, vegan und genetisch unverändert und dürfen kein Mikroplastik sowie keine Mineralöle enthalten. Dafür zahlt der Kunde dann natürlich etwas mehr als im Drogeriemarkt. 250 ml des Geruchsneutralisierers „Neat Dog“ von der Marke „Belly“ kosten 13,99 Euro; in der gleichen Größe kann man das Kaktus-Wachstumsmittel von „Gartenglück“ für 12,99 Euro erhalten, und für 15 ml des Augenserums „ByYourRules“ werden 34,95 Euro fällig.

Auch die Verpackungen müssen recycelbar oder wiederverwertbar sein. Gerade bei Cremes von bekannten Herstellern sei es doch manchmal seltsam, warum 19 Inhaltsstoffe auf der Verpackung stehen, obgleich nur drei gebraucht würden, sagt Johnston: „Das sind alles sinnlose Füllstoffe, die häufig die Umwelt belasten.“

Außerdem sei das doch alles kein Hokuspokus, eine wirksame Creme könne man doch schnell zusammenbauen. Inzwischen scheint sich die Effizienz des Unternehmens rumgesprochen zu haben. Neben den eigenen 55 Marken und 700 Produkten (fast alle erhält man über Amazon) arbeitet sie für 25 externe Partner vom Beauty-Startup bis zum Dax-Konzern. Nicht jeder ist in der Lage, Innovationen zügig oder in kleinen Mengen zu produzieren. „Wir werden dann um Testprojekte gebeten“, so Johnston. Auch für Influencer entwickeln sie eigene Marken, allerdings nur für die ganz großen Player, die mindestens acht Millionen Follower haben.

Johnstons Firma kann klein – und auch richtig groß. In der Produktion, die sich unten im Gebäude befindet, entstehen teilweise bis zu 60.000 Stück einer Marke. Täglich. „Wenn wir nur eine Schicht fahren. Doch wenn im Winter wieder die Skiwachs-Saison kommt, dann können wir davon auch das doppelte herstellen,“ sagt Johnston. Schneller als die Konkurrenz sein, wie beim Abfahrtsrennen eben, es kann nur einen ersten Sieger geben.