Hamburg. Langjähriger EU-Kommissar befürchtet große Wohlstandsverluste: „Wir sind wirtschaftlich schlechter als der HSV – ein Abstiegskandidat.“
- Günther Oettinger legt am 27. Mai im Hamburger Hafen-Klub einen fuirosen Auftritt hin
- Bei seiner Rede zeichnet er ein düsteres Bild für den Wirtschaftsstandort Deutschland
- Dabei nimmt er auch die Zuhörer in die Pflicht – unter anderem mit einer Sylt-Stichelei
- Zudem muss der HSV für einen wenig schmeichelhaften Oettinger-Vergleich herhalten
- Was der langjährige EU-Kommissar Oettinger über Homeoffice und Rentensystem sagt
Es war ein Weckruf, eine Warnung, stellenweise eine Philippika. Und hätte der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und langjährige EU-Kommissar nicht immer wieder lustige-satirische Elemente eingestreut, wären die Gäste im Hafen-Klub wohl noch betroffener nach Hause gegangen. Günther Oettinger schonte weder sich noch die Politik, noch die Unternehmen, noch seine Gäste.
Große Sorgen macht sich der 70-jährige CDU-Politiker um den Wohlstand in Deutschland. „Die Deindustrialisierung ist im vollen Gange“, sagte er und zählte Beispiele auf: BASF verdient hierzulande kein Geld mehr und investiert Milliarden in China, Miele geht nach Polen und Stihl in die Schweiz. Ein ganzes Bündel von Ursachen habe den Standort beschädigt. Für seine Hamburger Zuhörer fasste der VfB-Stuttgart-Fan es in die Worte: „Wir sind wirtschaftlich schlechter als der HSV, wir sind ein Abstiegskandidat.“
Oettinger in Hamburg: Kritik an Homeoffice und Rentensystem
Scharf kritisierte er, dass die Deutschen viel weniger arbeiten als ihre Nachbarn. „Wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, müssen wir mehr und länger arbeiten. Stattdessen reden wir von der Viertagewoche, früherer Rente und über ein Recht auf Heimarbeit.“ Dabei seien 70 Prozent der Jobs gar nicht im Homeoffice zu erledigen – weder in der Gastronomie, noch im Hafen noch im Krankenhaus.
Überfällig sei, das Renteneintrittsalter nach oben zu setzen. „Das entlastet die Rentenkasse doppelt – weniger Empfänger, mehr Einnahmen. Das ist unsere Generation den Jüngeren schuldig.“ Deutschland benötige mehr Arbeit und kluge Migration.
„Leider haben wir vor allem eine Einwanderung in die Sozialsysteme“, kritisierte er. Während in Dänemark 70 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge arbeiteten, seien es hierzulande nur 22 Prozent. „Das Bürgergeld setzt völlig falsche Anreize.“ Der Wohlstand sei keine Frage von einigen Euro mehr in der Tasche, sondern eine Überlebensfrage der Demokratie. Zudem zeige der Überfall Russlands auf die Ukraine, dass die Zeitenwende längst begonnen hat. „Wir haben einen Kampf der Systeme – Autokratien gegen die Demokratie.“
Oettinger: „Allein BASF benötigt aber mehr Energie als Dänemark“
Als langjähriger EU-Kommissar für Energie kritisierte er die deutsche Politik scharf. Schon 2013 hatte er gewarnt: „Deutschland ist so stark, dass es Gefahr läuft, notwendige Projekte, auch den Ausbau der Infrastruktur, zurückzustellen. Das wird sich im nächsten Jahrzehnt rächen.“ Nun ist es offensichtlich so weit: „Der Strompreis ist mit Dänemark der höchste in Europa, der Gaspreis dreimal so hoch wie in den USA. Allein BASF benötigt aber mehr Energie als Dänemark.“
Die Folge sei die Deindustrialisierung in Branchen wie Chemie, Stahl, Kupfer oder Glas. Deutschland sei scheinheilig, wenn es Atomenergie aus Frankreich und Fracking-Gas aus den USA importiere, diese Technologien aber selbst ablehne. Je stärker die Republik auf erneuerbare Energien setze, desto mehr müsse es in eine doppelte Infrastruktur investieren, wenn die Sonne nicht scheine oder kaum Wind weht. „Diese Mischung aus Ideologie und Idealismus ist gefährlich. Kein Land auf der Welt folgt diesem Irrweg.“
Günther Oettinger: Deutschland nimmt den Abstieg hin
Europa gehe es kaum besser. „Vor einem knappen Vierteljahrhundert wollte Europa mit der Lissabon-Strategie der dynamischste und innovativste Wirtschaftsraum der Welt werden. Tatsächlich sind wir weiter zurückgefallen.“
Was Oettinger vor allem ärgert: „Wir nehmen diesen Abstieg gelassen, fast resigniert hin.“ Ausdrücklich nahm er seine Zuhörer in die Pflicht. „Warum wehren Sie sich nicht? Ist Ihr Golf-Handicap oder die Reise nach Sylt am Donnerstagabend wichtiger? Engagieren Sie sich, ziehen Sie sich nicht ins Private zurück.“ Auch die Unternehmen hätten diese Fehlentwicklung zu verantworten. „Leider haben unsere Manager dem Zeitgeist gefrönt: Sie sind zu windschnittig.“
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Deutschland brauche eine Agenda 2030 und die mutige Politik eines Kanzlers Schröder. Die indes sieht der CDU-Mann bei Olaf Scholz nicht, „Er hält sich für den wirtschaftsfreundlichsten Kanzler seit Ewigkeiten. Sein Erinnerungsvermögen muss getrübt sein.“