Hamburg/Washington. Joe Biden oder Donald Trump? Amerika wählt im Herbst. Niels Annen über die Kandidaten, die Folgen für die Ukraine, Israel und für uns.
Er ist einer der führenden außenpolitischen Experten der deutschen Politik, engagiert in der Atlantik-Brücke, versierter Amerikaner-Kenner. Niels Annen hat seinen Master an einer Washingtoner Hochschule erworben, arbeitete anschließend beim German Marshall Fund, später als Staatsminister im Auswärtigen Amt. Ein halbes Jahr vor der US-Wahl sprach das Abendblatt mit dem Sozialdemokraten nach dessen Rückkehr von der Jahrestagung der Weltbank in Washington über ein zerrissenes Amerika, die Folgen der Wahl für den Gaza-Krieg und Putins Überfall auf die Ukraine sowie die Konsequenzen für Deutschland.
US-Wahl: Donald Trump ist obenauf
Rückblende: Bei der Bundestagswahl 2021 hat es der Eimsbütteler SPD-Politiker Annen nur mit Ach und Krach wieder ins Parlament geschafft. Noch am Wahlabend stand er vor dem politischen Aus, das Direktmandat ging an den Grünen Till Steffen. Wider Erwarten zog Annen dann über die SPD-Liste in den Bundestag ein. Hier verlor er seinen Job als Staatsminister im Auswärtigen Amt, nachdem mit Annalena Baerbock eine Grüne Außenministerin wurde. Stattdessen arbeitet Annen jetzt als Parlamentarischer Staatssekretär im Entwicklungshilfeministerium – und ist damit weiterhin außenpolitisch unterwegs.
Auch wenn es bei der Weltbanktagung in Washington um andere Inhalte ging: Donald Trump war als Thema allgegenwärtig. Ein deutscher Politiker, der sich diesen Vorwürfen aussetzen müsste – von sexueller Belästigung, Steuerhinterziehung, Machtmissbrauch, Verschwörung, Aufwiegelung zum Staatsstreich – der wäre politisch vermutlich längst Geschichte. Trump ist stattdessen obenauf. Und so zeigen die jüngsten Umfragen ein ziemlich ausgeglichenes Rennen zwischen ihm und Amtsinhaber Joe Biden um die nächste US-Präsidentschaft – mit aktuell leichten Vorteilen für Trump.
Das sagt Niels Annen über den Gaza-Krieg
Wenn der Krieg bis November nicht beendet ist, kann das wahlentscheidend sein. Es gibt in den USA, aber auch in Deutschland, mehr und mehr junge Menschen, für die dieser Krieg, die israelische Kriegsführung und die aus ihrer Sicht mangelnde Positionierung der westlichen Regierungen eine grundsätzliche Gerechtigkeitsfrage aufwirft. Und damit muss sich die demokratische Partei und vor allem der Präsident auseinandersetzen. Ich habe den Eindruck, dass das inzwischen im Weißen Haus hohe Priorität genießt. Wir sehen, dass der Druck auf Premierminister Netanjahu zunimmt, auf die nächste militärische Offensive zu verzichten und eine politische Lösung anzustreben.
Das Weiße Haus hatte das Ausmaß des Gaza-Effektes zunächst unterschätzt. Wir hatten eher uninteressante Vorwahlen bei den Demokraten erwartet, weil ja nur Joe Biden kandidiert. Nun haben wir erlebt, dass zum Beispiel in Michigan, wo sehr viele muslimische Amerikaner leben, die Zahl der Enthaltungen sehr hoch war. Es hat eine Kampagne gegeben, zur Wahl zu gehen, aber nicht Biden zu wählen, um so eine Botschaft zu setzen. Das ist deswegen wichtig, weil in den Staaten, in denen es bei der Wahl 2020 knapp war, die Zahl der Enthaltungen zum Teil höher ausgefallen war als der Vorsprung, den Biden vor vier Jahren dort gehabt hat.
Das sagt Niels Annen über den Ukraine-Krieg
Ich habe Donald Trump 2019 beim schwierigen Nato-Gipfel in Brüssel persönlich erlebt, als er offen gedroht hat, die Nato zu verlassen. Diese Drohung muss man weiter ernst nehmen. Auf der anderen Seite hat der amerikanische Kongress im April ein milliardenschweres Hilfsprogramm für die Ukraine beschlossen. Dieser Beschluss wäre ohne Donald Trump sehr wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Insofern muss man nicht alles schwarz malen. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich die Prioritäten in den USA verschoben haben. Die Wahl kann einen Einschnitt darstellen.
Auch moderatere Republikaner, die die Ukraine unterstützen, sagen heute, ihre Priorität sei China. Das tun auch Leute, die ich sehr schätze. Deren Erwartung ist, dass Deutschland sich stärker gemeinsam mit den USA gegenüber China positioniert. Und sie erwarten von uns, dass wir uns selbst um die Sicherheitsfragen in unserer eigenen Nachbarschaft kümmern.
Das sagt Niels Annen über Donald Trump und die Republikaner
Parteien in den USA funktionieren anders als bei uns. In Deutschland gibt es Parteivorstände, Parteitage beschließen die großen Linien. Das ist nicht der amerikanische Weg. Die Parteien dort sind eher informelle Verbindungen. Kandidaten bauen ihre eigene Organisation auf, müssen Spendengelder eintreiben und dominieren damit gerade in einem Wahljahr ihre jeweilige Partei.
Donald Trump hat sich die eigene Partei quasi unterworfen und sie grundlegend verändert, ich würde fast sagen, entkernt. Dies gilt vor allem für außenpolitische Fragen. Republikanische Präsidenten wie Ronald Reagan oder Bush senior und Bush junior hatten einen ganz anderen Blick auf die Welt als Trump, sie haben in Bündnissen gedacht. Die Nato war Kernbestandteil ihrer Politik. Das hat sich um fast 180 Grad gedreht.
Trump hat seinen Wählern eine grundlegend andere Politik versprochen. Egal, was wir davon halten – dieses Versprechen hat er eingehalten. Die Amerikaner, gerade die Unzufriedenen mit der Politik, hatten vor Trump immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Wahlkampfversprechen nicht eingehalten wurden, „in Washington aufzuräumen“. Viele Wähler hatten den Eindruck: Bis Trump kam, hat „das System“ alle aufgesaugt. Viele spätere Trump-Wähler hatten zuvor Barack Obama gewählt. Man denkt in Deutschland: Wie passt das zusammen? Auch Obama hatte grundlegende Veränderungen versprochen, natürlich viel differenzierter. Aber auch er hat rhetorisch Wahlkampf gegen Washington geführt.
Viele Amerikaner interessiert nicht, dass Trump in diversen Verfahren angeklagt ist. Auch ist er sehr geschickt darin, sich als Opfer darzustellen. Er appelliert an die niederen Instinkte seiner Wählerschaft. Es gibt einen breiten Teil der Bevölkerung, der keine moralischen Ansprüche an die Politiker hat. Trump drückt die Ressentiments aus, die in der amerikanischen Wählerschaft weit verbreitet sind. Deswegen nehmen ihm so viele die Vorwürfe vor Gericht auch nicht übel. Entscheidend ist, dass er sich gegen das vermeintliche Establishment stellt.
Aber bis zur Wahl im November dauert es noch: Donald Trump muss jetzt bei jedem Strafprozesstag persönlich auf der Anklagebank sitzen. Der Vorsitzende Richter hat ihm sogar mit Haft gedroht, wenn er das Gericht weiter ignoriert und sich nicht an Auflagen hält. Trump wirkt nicht souverän. Seine Kernanhänger wird das wohl nicht irritieren. Aber in den entscheidenden Wählerschichten in den gut situierten Vororten der großen Städte in den Swing States, in denen die Wahl entschieden wird, könnte das schon ganz anders aussehen. Es ist möglich, dass diese Verhandlung, auch wenn es von der Substanz her nicht der wichtigste Prozess gegen Trump ist, Einfluss auf die Wahlentscheidung haben kann.
Das sagt Niels Annen über Joe Biden
Natürlich steht Joe Biden für das Washington-Establishment. Aber er war ein ungemein effizienter Senator und das ist er auch als Präsident. Biden ist häufig unterschätzt worden, dabei gibt es niemanden in den USA, der so viel Erfahrung hat wie er. Er saß Jahrzehnte lang im Senat, hat dort wichtige Netzwerke aufgebaut.
Die Widersprüche in der amerikanischen Gesellschaft sind größer als bei uns, die sozialen Härten sind stärker ausgeprägt. Die Inflation belastet viele Arbeiter sehr. Das ist ein großes Problem für Joe Biden, denn viele Wähler blicken auf die Trump-Zeit zurück. Damals gab es zwar viele Schwierigkeiten – aber keine vergleichbar hohe Inflation wie heute.
Auch wenn der „Inflation Reduction Act“, die Inflation bei den Lebenshaltungskosten noch nicht ausreichend gedrückt hat, ist er ein gigantischer Erfolg für Biden. Die dringend benötigten Investitionen in die Infrastruktur zu mobilisieren, aber auch die massiven Ausgaben für die erneuerbaren Energien aufzubringen, das hat Obama in dem Umfang nicht geschafft.
Das sagt Niels Annen über die Lehren aus den USA für Deutschland
Die Wahlniederlage von Hillary Clinton ist auch dadurch zu erklären, dass ein großer Teil der amerikanischen Arbeiter ins Trump-Lager übergelaufen ist. Olaf Scholz rückte bei seiner Kampagne im Wahlkampf 2021 das Thema Respekt in den Mittelpunkt. Diese Botschaft des Respekts für Lebensleistungen war eine direkte Konsequenz, die er nach intensiver Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Demokraten gezogen hat.
In den USA können wir sehen, was uns droht, wenn sich die Politik von der täglichen Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger entfernt, und wie wichtig es gerade für die SPD ist, den Kontakt in die Arbeiterschaft nicht zu verlieren. Deshalb ist es auch entscheidend klarzumachen, dass die Konsequenzen aus Putins Krieg und der Zeitenwende nicht zulasten unseres Sozialstaates gehen. Wir müssen bei den großen Themen immer dafür sorgen, dass sich alle mitgenommen fühlen.
Das Gegenteil ist in den USA passiert. Dort sind ganze Landstriche deindustrialisiert worden, und niemand hat mit den Menschen gesprochen, sie in Entscheidungen eingebunden. Das ist auch eine Warnung an uns, denn ein Teil dieser hasserfüllten Kultur und Polarisierung schwappt zu uns rüber. Auch deshalb wünsche ich mir eine größere Geschlossenheit der Bundesregierung und weniger Streit.
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Wenn Politik nicht liefert, dann macht sie es den Extremisten leicht. Wir beobachten sehr genau, was in den Vereinigten Staaten passiert ist, und setzen deswegen Prioritäten in der Sozialpolitik. Die SPD gibt in Zeiten des Umbruchs die Sicherheit, dass der Sozialstaat nicht gekürzt wird, um die Verteidigungsausgaben zu finanzieren. Das ist ein wichtiges Versprechen. Deswegen garantieren wir auch das Rentenniveau.
Das sagt Niels Annen über die US-Wahl im Herbst
Die US-Wahlen sind unfassbar teuer, am Ende des Wahlkampfes werden die beiden Kampagnen wohl bei Ausgaben von mehr als einer Milliarde Dollar ankommen. Weil Donald Trump so viele rechtliche Auseinandersetzungen zu bestehen hat, gibt er einen sehr großen Anteil der Spendengelder für die eigene Verteidigung aus. Deswegen haben die Demokraten beispielsweise im Swing State Wisconsin einen beträchtlichen Vorsprung beim Spendensammeln. Das ist ein klarer Vorteil für die Demokraten.
Die Wahl ist noch lange nicht entschieden. Landesweite Umfragen, nach denen Biden fünf oder sechs Prozent hinten liegt, sagen fast gar nichts aus. Nikki Haley, Trumps interne Gegenkandidatin, lag, als sie sich aus dem Rennen zurückzog, bei rund zehn Prozent Zustimmung. Da die Wahl im November sehr knapp ausgehen könnte, könnte die Frage entscheidend sein, ob die Haley-Anhänger überhaupt zur Wahl gehen oder ob sie vielleicht sogar für Biden stimmen.
Ich glaube, dass Joe Biden gewinnen wird, aber alles ist möglich. Viele Amerikaner haben sich mit dieser Wahl noch gar nicht beschäftigt. Das wird wahrscheinlich Ende September, Anfang Oktober beginnen. Joe Biden ist schon häufig in seinem Leben unterschätzt worden. Viele haben schon vor vier Jahren nicht geglaubt, dass er Präsident wird. Fast alle waren dann überzeugt, dass er die Zwischenwahlen verlieren wird, aber er hat sie mit Bravour bestanden. Deswegen glaube ich, dass er am Ende gewinnen wird. Aber es ist so knapp, dass alle, auch wir, ein bisschen nervös sind.