Kiel. Sie ist jung, grün, emanzipiert. Jetzt verantwortet sie die Sozialpolitik in Daniel Günthers neuem Kabinett. Eine Annäherung.

Die Bürgermeisterin und ihr Stellvertreter sind ganz verzückt von ihrem politischen Gast. Die Frau sei „total nett und super freundlich“, sagt das Duo übereinstimmend. Die Frau, das ist die neue schleswig-holsteinische Sozialministerin Aminata Touré von den Grünen. Das Bürgermeister-Duo, das sind Karmen (11) und ihr Stellvertreter Timo (12).

Tourés erster Termin in neuer Funktion überhaupt hat die 29-Jährige in die Kinderstadt „Stormini“ nach Ammersbek geführt. Wer aber ist diese „total nette“ Politikerin mit den markanten Rastazöpfen? Was treibt die Afrodeutsche, geboren in einer Flüchtlingsunterkunft in Neumünster, an? Wie wird die Frau mit der steilen Karriere, deren Familie viele Jahre lang die Abschiebung drohte, das Sozialministerium, das nach der Neustrukturierung kein Pandemie-Ministerium mehr ist, neu ausrichten?

Aminata Touré: Ihr erster Termin als Ministerin? Die "Kinderstadt" Stormini

Die Annäherung an diese Frau beginnt in „Stormini“ auf dem Gelände einer Schule am Rande Hamburgs. Stark verkürzt ist das Zeltlager ein siebentägiges Demokratie-Planspiel mit gewählter Bürgermeisterin, einem Parlament, mit Sparkasse und Arbeitsamt, mit Jobs, einer eigenen Währung („Stormark“), eigenem Rundfunk und Fernsehen und vor allem mit ganz viel Spaß für die knapp 300 Kinder zwischen 9 und 13 Jahren und ihren 180 Betreuern aus dem Kreis Stormarn. Hier wird das Leben der Erwachsenen simuliert, so „realitätsnah“ wie möglich, wie der Kreisjugendring es formuliert.

„Macht euch immer klar, dass ihr Rechte habt. Fordert sie ein“, begrüßt Aminata Touré die Kinder von der Bühne. Der Applaus ist lang – und laut. „Ihr könnt werden und ihr könnt sein, was ihr wollt“, ruft sie ihren jungen Zuhörerinnen und Zuhörern zu. Dieser Satz ist so etwas wie das Leitmotiv der grünen Politikerin. „Es ist ganz wichtig, dies Kindern von Anfang an mit auf den Weg zu geben. Ganz viele Kinder wachsen mit dem Glauben auf, dass sie nicht sein können, was sie wollen. Dadurch gehen vielen späteren Erwachsenen Potenziale verloren“, erzählt Touré später.

Für Aminata Touré und ihre Familie gehört Rassismus zum Alltag

Rückblende ins Jahr 1991. Den Menschen im westafrikanischen Mali geht es schlecht. Es kommt zu Massendemonstrationen, die Konflikte eskalieren, Unschuldige sterben bei Unruhen. Schließlich, im März, putschen Militärs. Eine Junta übernimmt vorübergehend die Macht. In dieser chaotischen Situation entschließen sich Tourés Eltern zur Flucht. Sie gelangen nach Deutschland. Gern gesehen und sicher sind sie auch hier nicht.

Die Familie landet in einer Flüchtlingsunterkunft in Neumünster. Hier wird im Herbst 1992 das Kind geboren, das später immer wieder erlebt, dass es und seine Familie hier nicht willkommen sind. Für Aminata, ihre drei Schwestern und die Eltern gehört Rassismus zum Alltag – in der Unterkunft, der Stadt, der Schule, beim Spielen.

Es ist die Zeit, in der in Deutschland infolge von Anschlägen Unterkünfte brennen. In Rostock, Solingen und Mölln sterben Menschen wegen ihres Aussehens, ihrer Nationalität, ihres Glaubens. Dazu kommt bei den Tourés die Angst vor den Behörden. Im Beamtendeutsch nennt sich der Status der Familie: Duldung. Mal gilt sie ein paar Wochen, mal mehrere Monate. Je näher der jeweilige Ablauftermin rückt, umso stärker wächst die Angst: Dürfen wir bleiben? Werden wir wieder abgeschoben? Zwölf lange Jahre hängt Familie Touré irgendwo zwischen Hoffen und Bangen, bis ihr endlich die deutsche Staatsbürgerschaft erteilt wird.

Aminata Tourés Buch wurde direkt zum Bestseller

Diese Kindheit, die so ganz anders war als die der Kinder in diesem Ammersbeker Ferienlager, hat Aminata Touré politisch sozialisiert. Über diese Prägung hat sie geschrieben. Das Buch „Wir können mehr sein – Die Macht der Vielfalt – Was in diesem Land anders werden muss“, erschienen vor einem Jahr, ist ein Bestseller. Ein Mutmacher. Und es ist ein „Aufruf an junge und diverse Menschen, in die Institutionen zu gehen, um die Politik und unser Zusammenleben zu verändern“, wie der Verlag schreibt.

Während die „Stormini“-Kinder auf ihrem großen Festplatz singen und feiern, spricht Touré mit dem Abendblatt über ihre Zeit als junges Mädchen. „Die Signale unserer Familie gegenüber waren oft: Ihr seid nicht willkommen. Wenn man in einer Flüchtlingsunterkunft abgesondert aufwächst, wenn man nicht weiß, ob man bleiben kann, wenn man mit Essensmarken sein Essen einkauft, ist man immer stigmatisiert“, sagt sie.

Umgang mit Flüchtlingen war ihr Grund, in die Politik zu gehen

„Ihr könnt werden und ihr könnt sein, was ihr wollt.“ Kaum etwas dürfte dem Flüchtlingskind im damaligen Alltag ferner erschienen sein. Und doch wurde es das Leitmotiv ihres politischen Handelns. Touré sagt: „Meine Eltern haben mir den Glauben an dieses Lebensmotto weitergegeben. Sie haben es mir immer wieder vermittelt, auch wenn die Außenwelt mir etwas ganz anderes gespiegelt und sehr deutlich gemacht hat, dass das für mich angeblich nicht möglich ist.“

Der Umgang mit den Geflüchteten damals, also vor gerade mal gut 20 Jahren, ist der Grund, warum die Studentin in die Politik geht, warum Touré für sich den Schwerpunkt Sozialpolitik, Gleichstellung, Integration wählt und eben nicht das grüne Herzensthema Umwelt- oder Naturschutz. „Ich möchte verhindern, dass es anderen Geflüchteten ergeht wie Familien wie unseren damals. Man kann es Kindern und Jugendlichen leichter machen, aufzuwachsen. Kindheit und Jugend prägen einen Menschen das Leben lang. Dort wo Politik helfen kann, das Leben von Kindern und Jugendlichen besser zu machen, muss sie es tun“, sagt die selbstbewusste Frau.

Aminata Touré bekam genau das Ministerium, das sie wollte

Sie hat jetzt das Ressort und auch den Zuschnitt bekommen, den sie wollte. Während ihr anerkannter Amtsvorgänger, Heiner Garg von der FDP, sich die vergangenen zweieinhalb Jahren zuallervorderst mit dem Pandemie-Management herumschlagen musste – was ihm ziemlich gut gelungen ist, wie auch die politischen Gegner anerkennen – heißt das Haus jetzt Ministerium für Soziales, Jugend, Familie, Senioren, Integration und Gleichstellung. „Das sind die Themen, für die ich vorher schon politisch gearbeitet habe. Ich freue mich, dass ich dafür Verantwortung übernehmen darf“, sagt die erste afrodeutsche Ministerin.

Die Gleichstellung kam hinzu in die Ressortverantwortung, und, vor allem, die Gesundheit ging raus. Stattdessen gibt es jetzt ein Ministerium, das für Justiz und Gesundheit zuständig ist. „In den Verhandlungen über die Zuschnitte der Ressorts ging es auch um die Frage, wie wir eine politische Schwerpunktsetzung hinbekommen. In der Vergangenheit war dieses Ministerium ein Kita-Ministerium oder ein Pandemie-Ministerium“, sagt Touré. Und dass das Ministerium in seiner Vielfalt nicht wahrgenommen wurde.

Aminata Touré als treibende Kraft der grünen Strategie

Ihre berechtigte Sorge: Mit der Zuständigkeit für das Thema Gesundheit wäre das Haus auch in den nächsten Monaten ein Pandemie-Ministerium geblieben. „Bei den Herausforderungen, vor denen wir stehen, müssen beide Themen, Gesundheits- und Sozialpolitik, jeweils politische Aufmerksamkeit bekommen. Das wird uns durch die neuen Zuschnitte besser gelingen“, sagt die durchsetzungsstarke Frau.

Sie gilt als treibende Kraft hinter der grünen Strategie, nach der Landtagswahl am 8. Mai die von Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) zunächst geplante Neuauflage der Jamaika-Koalition zu verhindern und stattdessen das erste schwarz-grüne Bündnis in Schleswig-Holstein zu schmieden. In den fünf Jahren zuvor hatten CDU und Grüne gemeinsam mit der FDP regiert. Für die Freien Demokraten im Kabinett: Wirtschaftsminister Bernd Buchholz und Heiner Garg – als Sozialminister der Vorgänger von Touré.

Kitabereich steht oben auf der To-do-Liste

Statt sich wie Garg mit dem Virus und den Folgen herumschlagen zu müssen, will Touré jetzt ganz andere Prioritäten setzen. Auf ihrer To-do-Liste ganz oben steht der Kitabereich. „Wir müssen die Fachkräfte entlasten. Dafür planen wir einen Personalergänzungsfonds.“ Dann will die grüne Politikerin zweitens die Lebensmitteltafeln unterstützen, die immer größeren Zulauf von Menschen haben, die sich Lebensmittel nicht mehr leisten können. Und drittens, „müssen wir den Menschen, die lange in Duldung bei uns leben, Perspektiven eröffnen – wie sie hier bleiben, leben, arbeiten und einfach nur sein können“, sagt die Schnellrednerin, die gleich noch auf ein paar frisch zubereitete Waffeln mit Karmen, der Bürgermeisterin von „Stormini“, verabredet ist.

Minister in Daniel Günthers zweitem Kabinett, die schon in der letzten Legislaturperiode dabei waren wie Monika Heinold (Finanzen) oder Sabine Sütterlin-Waack (Inneres), haben einen klaren Startvorteil. Sie kennen ihr Haus, die Abläufe, die Gepflogenheiten, die Fallstricke. Touré kennt nichts davon. Und die Mitarbeitenden kennen sie nicht. Die Konsequenz: Ein Sommerurlaub ist trotz anstrengenden Wahlkampfs (bis auf eine Woche) gestrichen. „Was ich den Sommer über mache, ist, das Ministerium mit seinen rund 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kennenzulernen, mich einzuarbeiten, einzulesen in all das, was ich wissen muss.“

Touré will Aufmerksamkeit für politische Ziele nutzen

Für das von Kindern für Kinder gemachte Fernsehprogramm des Zeltlagers („Guten Abend, Stormini“) muss Touré noch zum Kurzinterview. Dass der Kern von Politik sei, Verantwortung zu übernehmen und dann Entscheidungen zu treffen, erzählt sie dort. Nur mit etwas anderen Worten. Und dass sie das gerne mache und keine Angst davor habe, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Aber dass sie nie leichtfertig, sondern sehr gewissenhaft mit Verantwortung umgehe.

Aminata Touré mit „Stormini-Bürgermeisterin“ Karmen (11) und ihrem Stellvertreter Timo (12).
Aminata Touré mit „Stormini-Bürgermeisterin“ Karmen (11) und ihrem Stellvertreter Timo (12). © HA | Filip Schwen

„Vom Flüchtlingskind zur Ministerin“. „Die erste schwarze Ministerin in Deutschland“. „Die erste Afrodeutsche in einem Kabinett“. Touré und die Grünen haben seit dem Beschluss, Schleswig-Holstein die nächsten fünf Jahre schwarz-grün zu regieren, reichlich Schlagzeilen produziert. Diese Aufmerksamkeit gefällt der verheirateten Frau. Nicht als Selbstzweck, sondern weil es ihr so gelingt, ihre sozialpolitischen Anliegen zu transportieren. „Für die Migrantinnen und Migranten, für schwarze Menschen oder für junge Menschen grundsätzlich ist es ein gutes Signal, dass ich mit meinen 29 Jahren jetzt die Verantwortung für diese Themen übernommen habe.“

Wahlkampf in Schleswig-Holstein war für sie eine schöne Erfahrung

Vielen Menschen, die im in Teilen stark landwirtschaftlich geprägten Land zwischen den Meeren leben, sagt man nach, sie seien konservativ, ja reaktionär. Touré kann das im Umgang mit ihr nicht bestätigen. „Es ist, das hat der Wahlkampf zuletzt gezeigt, total selbstverständlich, dass eine schwarze Frau Politik in Deutschland macht. Das ist eine schöne Erfahrung“, sagt die Frau, über die der „Stern“ nach ihrer Ernennung zur Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags vor drei Jahren getitelt hatte: „Feministisch, jung und schwarz: Aminata Touré ist ein Shootingstar der Grünen“.

Dieser „Shootingstar“ weiß sich in den sozialen Medien zu inszenieren und sie zu nutzen. Touré spricht die Sprache der User von Facebook, Twitter oder Instagram. Wie jetzt am Wochenende nach dem CSD in Kiel: Bunte Bildchen fröhlicher Menschen, Emojis, die Herzen, Regenbögen und Einhörner zeigen, kombiniert mit klaren politischen Botschaften – bei der queeren Community dürfte Touré gepunktet haben. Der Christopher Street Day, also die Demonstration für gleiche Rechte und Anerkennung unter anderem für Lesben und Schwule, sei ein „queerer Erfolg“, hat Schirmherrin Touré zuvor bei der Eröffnung des Straßenfestes in Kiel gesagt: „Wir feiern queere Identitäten. Wir stellen queerpolitische Forderungen. Das, was hier und heute passiert, sollte eigentlich jeden Tag passieren.“

Aminata Touré: Wenn man mit 29 schon Ministerin ist – was soll da noch kommen?

An der Universität beim Studium der Politikwissenschaften und französischen Philologie hat sich Touré die Grundlagen der Politik erarbeitet. Sie hat in der Theorie gelernt, sich mit politischen Entscheidungen und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft auseinanderzusetzen. „Das war sehr cool und hat mir sehr viel Spaß gemacht.“ Aber Politik zu machen, ist noch mal etwas ganz anders. „Deshalb habe ich mich schon während des Studiums in der Grünen Jugend engagiert. Denn ich hatte das Bedürfnis, kennenzulernen, was Politik in der Praxis bedeutet und was man verändern kann.“

Tourés Karriere liest sich im Zeitraffer so: Grüne Jugend – Partei – Nachrückerin im Landtag im Jahr 2017 – Vizepräsidentin 2019 – Ministerin 2022. Höchst selten haben politische Aufstiege ein ähnlich hohes Tempo. Nur: Wenn man das alles mit 29 erreicht hat, was soll dann noch kommen? „Ministerin zu sein ist etwas, was ich jetzt hoffentlich fünf Jahre machen darf. Politik macht man auf Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass man das nicht sein Leben lang tun sollte. Was ich in fünf oder zehn oder 20 Jahren machen, wird sich zeigen“, sagt die Grüne, der politische Gegner einen ziemlich großen Machthunger unterstellen.