Hamburg/Bendestorf. Ivar Buterfas-Frankenthal (91) hat beschlossen, nicht mehr öffentlich aufzutreten. Doch mit seiner Frau hat er noch ein großes Ziel.

Hamburg/Bendestorf. Hamburgs bekanntester Holocaust-Überlebender und Mahner gegen Antisemitismus und Fremdenhass verabschiedet sich von den Bühnen seiner Heimatstadt:Ivar Buterfas-Frankenthal zollt seinem hohen Alter Tribut und will nicht mehr öffentlich auftreten, wie der 91-Jährige dem Abendblatt bestätigte. Seine Rede für die Opfer des Nationalsozialismus Ende Januar im Hamburger Michel soll sein letzter offizieller Auftritt in der Hansestadt gewesen sein.

„Ich werde nur noch ein paar Verpflichtungen in anderen Städten abarbeiten, die ich im vergangenen Jahr angenommen habe. Dann ist Schluss“, so Buterfas-Frankenthal. In 30 Jahren hat er gemeinsam mit seiner Frau Dagmar fast 1600 Veranstaltungen durchgeführt, bei denen er aus seinem bewegten Leben berichtet und unermüdlich zum Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit aufgerufen hat.

Hamas-Massaker und Gaza-Krieg: Buterfas bezieht Stellung bei Markus Lanz

Die vergangenen Monate – nach dem mörderischen Terrorangriff der Hamas in Israel und mit dem Ausufern des Gaza-Krieges – waren für Buterfas-Frankenthal besonders niederschmetternd und anstrengend. Fast täglich meldeten sich Journalisten und TV-Teams aus aller Welt, um ein Statement des Zeitzeugen zum zunehmenden Judenhass auf Deutschlands Straßen zu erhalten und seine Geschichte zu hören.

Ivar Buterfas-Frankenthal bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in der Hansestadt im Hamburger Michel. 
Ivar Buterfas-Frankenthal bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in der Hansestadt im Hamburger Michel.  © Carsten Weede | Carsten Weede

Neben Auftritten in Schulen, Stadthallen und Universitäten in ganz Deutschland war der 91-Jährige in den vergangenen Wochen ein gefragter Gast im TV, etwa in der „Tagesschau“ und bei „Markus Lanz“. Immer an seiner Seite: seine 90-jährige Ehefrau Dagmar, mit der er seit 68 Jahren verheiratet ist. „Irgendwann muss Schluss sein. Die Kräfte lassen nach“, sagt Buterfas-Frankenthal.

Bewegender Abschied aus der Hamburger Öffentlichkeit im Michel

Bei der von der Polizeiakademie Niedersachen ausgerichteten Veranstaltung im Michel war Ivar Buterfas-Frankenthal als Ehrengast geladen. Sie sei für ihn und seine Frau, deren jüdischer Vater von den Nazis ermordet wurde, ein sehr schöner Abschluss ihrer Aufklärungsarbeit in Hamburg gewesen, sagt der ehemalige Unternehmer und Boxpromoter.

Insgesamt waren rund 1400 Menschen im Hamburger Michel zusammengekommen, um gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken – darunter rund 40 Familienmitglieder des Ehepaars und eine Menge Polizisten.

Sie können sich nicht vorstellen, wie wenig Wissen über den Nationalsozialismus bei den jungen Polizeianwärtern vorhanden ist.
Ivar Buterfas-Frankenthal, - Holocaust-Überlebender

Buterfas-Frankenthal wurde zum Ehren-Demokratiepaten der Initiative „Polizeischutz für die Demokratie“ ernannt. „Die Ehrung habe ich gern entgegengenommen. Sie können sich nicht vorstellen, wie wenig Wissen über den Nationalsozialismus bei den jungen Polizeianwärtern vorhanden ist“, sagt Buterfas-Frankenthal. „Dabei gehörte die Polizei damals zu den schlimmsten Handlangern der Nazis. Sie war vorn mit dabei und hat Angst und Schrecken verbreitet.“

„Ich liebe die Natur und habe eine tiefe Sehnsucht nach Frieden“

„Polizei war vorn mit dabei“: Dagmar und Ivar Buterfas-Frankenthal mit der Ehrenurkunde und dem Polizei-Tschako, das er kürzlich von der Polizeiakademie Niedersachsen erhalten hat.
„Polizei war vorn mit dabei“: Dagmar und Ivar Buterfas-Frankenthal mit der Ehrenurkunde und dem Polizei-Tschako, das er kürzlich von der Polizeiakademie Niedersachsen erhalten hat. © Sabine Lepél | Sabine Lepél

Ein paar Tage später sitzt Ivar Buterfas-Frankenthal auf seinem Sessel vor dem großen Panorama-Fenster im Wohnzimmer seines Hauses in Bendestorf und lässt den Blick in die Ferne schweifen. „Im vergangenen Jahr hat eine Ricke ihr Kitz in unserem Garten zur Welt gebracht“, erzählt er.

Ein Specht holt sich etwas Vogelfutter von der Terrasse. „Ich liebe die Natur und habe eine tiefe Sehnsucht nach Frieden“, sagt er. Es herrscht eine friedliche Stimmung. Aber das, wovon der 91 Jahre alte Holocaust-Überlebende mit klarer Stimme und sehr lebhaft spricht, will nicht dazu passen.

Seine Erzählungen lassen die Gräueltaten der Nazis wieder aufleben

Der Mann, der als einer der letzten Zeitzeugen von den Gräueltaten der Nazizeit berichten kann, lässt durch seine druckreif formulierten Sätze die Geräusche der Vergangenheit im Kopf seiner Zuhörerin entstehen. Vor dem inneren Auge entstehen Bilder, ganze Szenen: brüllende Nazis, die seinen Vater verhaften und als einen der ersten Juden ins Straflager stecken. Pöbelnde Hitlerjungen, die den kleinen Ivar angreifen, ihn über einem Feuer „rösten“ wollen. Mädchen mit langen Zöpfen, die ihn bespucken. Ein Lehrer, der den Sechsjährigen als „Judenbalg“ beschimpft und ihn von der Schule jagt.

So kennen es viele Schüler und Schülerinnen: das Ehepaar Buterfas-Frankenthal im vergangenen November bei einem Besuch der Dietrich-Bonhoeffer-Schule in Bargteheide.
So kennen es viele Schüler und Schülerinnen: das Ehepaar Buterfas-Frankenthal im vergangenen November bei einem Besuch der Dietrich-Bonhoeffer-Schule in Bargteheide. © HA | Lutz Kastendieck

Es macht Gänsehaut, wenn Ivar Buterfas-Frankenthal von den Jahren auf der Flucht erzählt. Von seiner unfassbar starken Mutter, die ihn und seine sieben Geschwister vor den Nazis versteckte. Man fühlt es mit: die gequälte Kinderseele – die Angst, den Schrecken, die Kälte und den Hunger. Meint, den Lärm der Bombardierung zu hören, den Ivar Buterfas schutzlos in einem Hamburger Kellerversteck erleben muss. Meint, den Arzt zu hören, der seiner um Hilfe bittenden Mutter mit kalter Stimme sagt, dass er keine Juden behandele.

Und endlich das befreiende Rattern der Ketten der britischen Panzer auf den Straßen Hamburgs, die das Ende des Krieges markieren. „Das Geräusch habe ich immer noch im Ohr“, sagt Buterfas-Frankenthal und lacht.

Das Haus des Ehepaars gleicht einer Festung – gesichert wie Fort Knox

Überhaupt lacht er häufig. Trotz allem. Und obwohl er nach wie vor bedroht wird. Allein 30 Morddrohungen erhielt er in den vergangenen Jahren. Nach dem Hamas-Attentat und dem eskalierenden Nahostkonflikt ist es wieder schlimmer geworden.

Öffentliche Auftritte müssen unter Polizeischutz stattfinden. „Mein Haus ist eine Festung, gesichert wie Fort Knox“, sagt er. Doch der Buchautor lässt sich nicht einschüchtern. Mit 91 Jahren hat er seinen persönlichen Kampf gegen die Nazis, gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung längst gewonnen. Weil er lebt. Der alte Mann hält seine Feinde in Schach. Denn er führt ein scharfes Schwert: das der Wahrheit.

Den Kampf gegen die Nazis hat Ivar Buterfas längst gewonnen – weil er noch lebt

Die will Ivar Buterfas-Frankenthal unermüdlich weiter in die Welt tragen, solange er kann. Denn er kann nicht anders. Das einstige Kind, dem die Nationalsozialisten als „Halbjuden“ die Jugend nahmen; den sie verfolgten, diskriminierten, töten wollten – dieses gequälte Wesen trägt er immer noch in sich.

„Ich habe längst verziehen, aber vergessen kann ich nicht“, sagt Buterfas-Frankenthal. Er glaube an das Gute im Menschen. „Wenn ich sehe, wie jetzt Hunderttausende aufstehen und auf die Straße gehen für unsere Demokratie, dann geht mir das Herz auf. Hoffnung ist der Treibstoff, der mich am Leben hält“, sagt der Zeitzeuge und appelliert: „Schützt und erhaltet diese Demokratie. Sie ist das Beste, das es je gegeben hat.“

Immer ein Hamburger Jung: Der Holocaust-Überlebende Ivar Buterfas-Frankenthal im vergangenen November im Rathaus Bremen.
Immer ein Hamburger Jung: Der Holocaust-Überlebende Ivar Buterfas-Frankenthal im vergangenen November im Rathaus Bremen. © DPA Images | Focke Strangmann

Wiedererstarken der rechtsextremen Strömungen bereiten dem 91-Jährigen große Sorgen

Als einer der letzten Augenzeugen der Reichspogromnacht vor 85 Jahren bereiten ihm die wiedererstarkten rechtsextremen Strömungen in Deutschland große Sorgen. „Als ich von den Deportationsfantasien dieser Spinner in Potsdam gehört habe, ging mir das durch Mark und Bein. Ich möchte nicht, dass Menschen in Deutschland wieder in Angst leben müssen.“

Buterfas-Frankenthal hat erlebt, wie innerhalb kürzester Zeit aus Nachbarn Feinde werden, aus Freundschaften Ablehnung und aus Klassenkameraden Gegner. „So weit darf es nie wieder kommen“, sagt er. „Wir wollen doch alle in Frieden und Freiheit leben. Auf der ganzen Welt.“ Dafür fordert er auch Anstrengungen von israelischer Seite: „So ein Massaker wie das vom 7. Oktober hat niemand erwartet. Dem dauerhaften Morden im Nahen Osten muss aber insgesamt ein Ende gesetzt werden. Sonst nimmt die Gewaltspirale kein Ende. Wir brauchen dringend Gespräche für eine Zwei-Staaten-Lösung.“

Große Pläne mit der Fußball-Bundesliga – und mit seiner Frau

Trotz seines Rückzugs aus der Öffentlichkeit will Ivar Buterfas-Frankenthal weiter am Ball bleiben – und das ist wörtlich zu verstehen. Er steht in Kontakt zu Präsidenten verschiedener Fußballbundesligisten, allen voran mit Oke Göttlich von seinem Lieblingsverein FC St. Pauli.

Buterfas-Frankenthal will die Vereine und ihre Fangemeinden auf seine Seite bringen: „Wäre es nicht fantastisch, wenn sich die Spieler der Klubs vor jedem Spiel mit einem Banner oder Ähnlichem gegen Ausgrenzung und für Demokratie positionieren würden? Das würden Millionen von Menschen weltweit sehen.“

Der Fußball-Coup ist nicht der einzige Plan, den der 91-Jährige derzeit verfolgt: „Ich habe mir einen Oldtimer gegönnt und will damit mit meiner Frau auf Reisen gehen“, sagt er. In zwei Jahren werden Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal 70 Jahre verheiratet sein. „Dann wollen wir unser Eheversprechen im Michel erneuern“, sagt Ivar Buterfas-Frankenthal – und streichelt seiner „Daggi“ zärtlich über den Handrücken.