Hamburg. 2015 sprachen sich die Hamburger gegen Sommerspiele an der Elbe aus. Damit nahmen sie der Stadt eine Chance, sich weiterzuentwickeln.

Der Tag danach war schrecklich. Viele Hamburger suchte an diesem 30. November 2015 ein schlimmerer Kater heim als nach einer durchzechten Nacht: Kümmerliche 314.468 Hamburger hatten sich in der denkwürdigen Olympia-Volksabstimmung am 29. November für Sommerspiele in der Hansestadt ausgesprochen – 335.638 waren dagegen. Und 648.829 Bürger – also die Hälfte – hatten gar nicht mitgestimmt. Der Traum von Olympia, der seit der ersten Idee 2001 immer größer geworden war, platzte wie eine Seifenblase.

Wie es der Zufall so wollte, hatte der umtriebige Bauunternehmer Arne Weber kurz darauf auf sein Lighthouse geladen – jenen Wohnleuchtturm mit großartigem Blick über Stadt, Elbe und Hafen. Es hätte der Blick auf das Olympische Dorf werden können. Doch nach diesem Sonntag blieb es der kahle Blick auf Kaianlagen, Lagerhallen und Brachen.

Olympia: Die spannende Frage nach dem „Was wäre wenn?“

Jörn Walter, damals im 17. Jahr Oberbaudirektor der Freien und Hansestadt, war unter den Gästen. Er beschreibt im Gespräch mit dem Abendblatt, wie Hamburg heute aussähe: „Im Moment wäre die Stadt noch eine große Baustelle. Aber es wäre schon jetzt überall sichtbar, was in Kürze fertiggestellt sein würde. Am prägnantesten wäre sicherlich die Bebauung des Kleinen Grasbrooks mit dem neuen Leichtathletikstadion, der Schwimm- und Olympiahalle, dem Olympischen Dorf mit künftig 6000 Wohneinheiten sowie den zwei neuen Elbbrücken.“

Für ihn hatte das Nein direkte Folgen. 2017 gab er sein Amt ab. „Sicherlich wäre ich sonst heute noch Oberbaudirektor. Olympische Spiele sind eine weltweit so seltene Gelegenheit, eine Stadt in einem überschaubaren Zeitraum zu modernisieren und für die Zukunft neu aufzustellen, der man sich als Stadtentwickler nicht entziehen kann“, sagt er. Die Ablehnung hatte viele Hauptamtler und Ehrenamtler seinerzeit schwer getroffen, das Nein war ein massenhafter Motivationskiller.

Schon bald hätten die ersten Mieter in das nachgenutzte Olympische Dorf ziehen sollen

Denn die Planungen waren weit gediehen. Hätte Hamburg den Zuschlag bekommen, wäre der Kleine Grasbrook schon Teil der Stadt geworden: Dort wäre das Olympische Dorf, genannt Olympic-City entstanden, mit einem filigranen Stadion für 60.000 Besucher im Herzen. Die Nachnutzung war fester Bestandteil der Planung – Teile des Stadions wären danach zu Wohnungen umgebaut geworden, das Olympiazentrum zum Kreuzfahrtterminal; die Schwimmhalle hätte sich in ein Erlebnisbad für alle Hamburger verwandelt, Sprungtürme, Saunen und Rutschen inklusive.

„Wir hätten mit dem Konzept der ‚Spiele in der Stadt und am Wasser‘ bei kurzen Wegen und Bauten, die immer an der Nachnutzung orientiert waren, ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen, dass das IOC von seinen zum Teil völlig überzogenen Anforderungen herunterkommen muss, wenn Olympische Spiele nicht nur in Autokratien, sondern auch in Demokratien wieder mehrheitsfähig sein sollen.“

Die Pläne waren so ambitioniert wie detailliert: Schon vier Wochen nach den Spielen, also im September 2024, hätten die ersten Hamburger ins Olympische Dorf einziehen sollen. Es sollten nachhaltige Spiele der kurzen Wege am Wasser werden. Vom Quartier und den Anlagen, sagte die damalige Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt, sollten „langfristig möglichst viele Menschen profitieren, damit ein echter Mehrwert für Hamburg entsteht“.

Stadtplaner Walter ärgert sich bis heute über „die vertane Chance“

Bis heute ärgert sich Stadtplaner Walter über „die vertane Chance“ zur Verbesserung unserer Verkehrsinfrastruktur: „Wir hätten heute nicht nur ein völlig modernisiertes und deutlich erweitertes U- und S-Bahnnetz, sondern auch eine fertiggestellte Hauptbahnhofserweiterung, einen ausgebauten Harburger Bahnhof und vor allem viele Kilometer neuer leistungsfähiger und attraktiver Rad- und Fußwege.“

Jörn Walter zählt auf, wie sich die Stadt mit den Spielen verändert hätte: „Hamburg hätte sich als die Zukunftsmetropole in Europa profiliert, und zwar in mehrfacher Hinsicht.“ Zum einen wäre die Stadt nachhaltig entwickelt worden: Bei höchsten Umweltstandards hätte die Bebauung des Kleinen Grasbrooks einen großen Entwicklungsschub für den seit Jahrzehnten diskutierten „Sprung über die Elbe“ nach Süden und „Stromaufwärts an Elbe und Bille“ nach Osten gebracht.

Und Hamburg wäre Sportstadt geworden: Nachdem sich die Metropole mit der Elbphilharmonie kulturell neu und weltweit positioniert hat, hätte das Gleiche auf dem Gebiet des Sports passieren können, ist sich der 66-Jährige sicher. „Nicht nur mit den neuen Stadien, sondern mit der grundlegenden Erneuerung der Traditionsstandorte Volkspark, Rotherbaum, Klein Flottbek, St. Pauli, Dove-Elbe, vor allem aber der fertigen Sanierung von zwölf Schwimmhallen, 37 Sporthallen und 62 Sportfeldern für den Breitensport.“

Die Verkehrsinfrastruktur hätte einen Schub bekommen

Sogar der Hafen hätte profitiert, betont der langjährige Oberbaudirektor. „Er hätte sich in Steinwerder und vermutlich auch auf der Kattwykinsel völlig neu aufgestellt und wäre mit dem in Kürze fertiggestellten Deckel der A7, der A26 mit neuer Süderelbequerung und der Anbindung des Veddeler Damms an die Anschlussstelle Georgswerder von vielen Sorgen befreit, die uns heute um seine Wettbewerbsfähigkeit umtreiben.“

Hätte, hätte, Fahrradkette.

Die Menschen wollten diesen Mehrwert nicht – sie wollten ihre Ruhe. Auf den letzten Metern war 2015 schiefgegangen, was schiefgehen konnte: Der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellte auf stur und wollte die Hamburger Spiele nicht finanzieren. Das Land ächzte unter den Belastungen einer Massenmigration, weil sich die Kanzlerin Angela Merkel im Flüchtlingssommer geweigert hatte, die Grenzen zu schließen. Bis zu 10.000 Menschen kamen damals im Herbst nach Deutschland – pro Tag.

Das Nein 2015 speiste sich auch aus einer tiefen Verunsicherung

Zwei Wochen zuvor hatten islamistische Terroristen zeitgleich das Stade de France angegriffen, in dem das Länderspiel Deutschland gegen Frankreich lief, und mit unsäglicher Brutalität Gäste zahlreicher Bars, Cafés und Restaurants im Herzen Paris. Unter den Besuchern eines Rockkonzerts im Bataclan-Theater richteten die Islamisten ein Blutbad an; 130 Menschen wurden getötet und 683 verletzt.

Schon zuvor hatte auch der Sport seine Unschuld verloren – die Debatten um das gekaufte Sommermärchen und Skandale und Skandälchen beim IOC hatten für viele die Spiele entzaubert.

Dennoch traf das Nein die Stadt überraschend: Stets hatten die Olympia-Befürworter das Gespräch mit den Gegnern gesucht, sich beraten und überzeugen lassen, nachgebessert. Olympische Spiele 2024 sollten keine fixe Idee von oben bleiben, sondern alle in der Stadt mitnehmen. Die schien begeistert, jede Umfrage wies eine deutliche Mehrheit der Befürworter aus.

Die Begeisterung schien stets größer zu sein als die Skepsis

20.000 Hamburger hatten im Februar 2015 an der Binnenalster gezeigt, dass sie Feuer und Flamme für die Spiele sind. 10.000 Menschen bildeten im November im Stadtpark die olympischen Ringe nach. Damals schaffte es zugleich nur eine Handvoll Gegner dorthin. Jede NOlympia-Demonstration blieb eine überschaubare Veranstaltung. Es gelang den Gegnern nicht einmal, die notwendigen 10.000 Unterschriften zu sammeln, um ihre Sichtweise der Dinge ins Informationsheft zum Referendum zu bringen. Aus Fairness durften die Kritiker dann doch zu Wort kommen – und entschieden sich für einen Comic.

Selbst die Gegner erwarteten ein klares Ja. Es kam anders: Fast auf die Nachkommastelle deckte sich das Ergebnis des Referendums aus Hamburg mit dem aus München. Bei vier Abstimmungen war dort zwei Jahre zuvor die Bewerbung um die Olympische Winterspiele 2022 in der Landeshauptstadt, in Garmisch-Partenkirchen sowie den Landkreisen Traunstein und Berchtesgaden gescheitert. Obwohl auch die Münchener Umfragen zuvor stets eine Mehrheit für die Spiele voraussagten, votierten im November 2013 überraschend 52 Prozent dagegen, nur 48 Prozent noch dafür. Deutschland ist Nein-Sager-Land.

Nur Linke und AfD waren gegen die Spiele - und eine Mehrheit der Hamburger

Im Votum der Hamburger brach sich ein Gefühl Bahn, das vielen Enttäuschungen und leeren Versprechungen geschuldet ist: Alles soll so bleiben, wie es ist! Keine Experimente, bitte! Oder reichen die Ursachen noch tiefer? Wollen wir kein besseres Morgen mehr, sondern lieber ein gemütliches Heute? Ist das Biedermeier zurück? Eine tiefe Skepsis herrscht gegen alles, was Zukunft verheißen kann. Vielleicht ist sie uns in unserer Gegenwartsfixierung fremd geworden. In dieser Weltsicht ist das Morgen ein Dunkel, jede Utopie der Dystopie gewichen.

Olympische Spiele 2024 waren für viele Gegner Science-Fiction, ein Horrorgemälde aus Terrorgefahr, Gentrifizierung und Ausnahmezustand. Welche Ironie, dass die Protagonisten des Nein – allen voran die Linke und die AfD – schon das Hier und Heute ganz schrecklich finden. Nur der Wandel schreckt sie offenbar noch mehr.

Diese Zukunftsvergessenheit schlägt massiv auf die Politik durch. Für Olympia plädierten – abgesehen von der Linkspartei und der AfD – 85 Prozent der Volksvertreter. Ein breites Bündnis aus Sportlern, Künstlern, der Wirtschaft und der Kultur warb eindringlich für ein Ja. Sie alle kassierten ein krachendes Nein.

Olympia: Frühestens 2032 scheint ein neuer Versuch realistisch

Die 51,6 Prozent haben am Ende nicht nur gegen Spiele in Hamburg gestimmt – sondern für ganz Deutschland mitentschieden. Seit diesem 29. November 2015 sind Großprojekte politisch fast unmöglich. Das gilt für Großinvestitionen im Allgemeinen und für Olympia im Besonderen. Was für eine bittere Ironie der Geschichte: Da schickte sich ein Deutscher in Person von Thomas Bach an, das verkrustete IOC aufzubrechen und bekommt mit der Hamburger Bewerbung eine Blaupause für seine Reform. Und dann lehnen die Deutschen sie ab, eben weil das IOC so verkrustet ist.

Frühestens 2032 – eher später – scheint ein neuer Versuch realistisch. „Etwas wird es wohl noch dauern“, sagt Walter. „Hilfreich könnte aber sein, dass sich das IOC auch für Bewerbungen mehrerer Städte im Verbund geöffnet hat. Es würde manche Neubauinvestition ersparen, wenn sich zum Beispiel Hamburg, Berlin und Kiel gemeinsam bewerben könnten.“

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Die Chance von 2024 kommt nicht wieder. Wie schrieb die französische Sportzeitung L’Equipe nach der Abstimmung? „Paris hat einen Gegner weniger im Rennen um die Ausrichtung der Olympischen Spiele. Bleiben nur noch Los Angeles, Rom und Budapest.“ Rom und Budapest zogen danach zurück, Los Angeles bewarb sich erfolgreich für 2028. Die Spiele bekam Paris. Kampflos.

Hamburg hingegen steht seitdem für: Ambitionslos. „Die Erzählung von Hamburg als wachsender Stadt, als Stadt im Aufbruch, hat sicher gelitten“, konstatiert Jörn Walter. „Mit den Spielen hätten wir zurzeit eine Entwicklungsdynamik in Hamburg, die eine breite Ausstrahlung auf die wirtschaftliche, zivilgesellschaftliche, kulturelle und soziale Attraktivität der Stadt hätte. Jetzt müssen wir uns eher Sorgen um Stagnation, Abwanderung und Arbeitsplatzverluste machen.“