Hamburgs Altbürgermeister: Ein Waffenstillstand liegt im deutschen Interesse. Politik sollte auf Diplomatie und Verhandlungen setzen.
Jede Woche stellt sich der frühere Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.
Matthias Iken: Weihnachten naht – aber von Frieden keine Spur. Wie konnte es in Europa so weit kommen?
Klaus von Dohnanyi: Ukraine und Israel, beide Kriege werden nicht auf dem Schlachtfeld beendet werden können. Der Ukrainekrieg wäre durch Verhandlungen zu lösen – wenn die USA und die Ukraine dazu bereit wären. Entgegen aller US-Propaganda gab und gibt es für Putin im Fall Ukraine einen zentralen Punkt: die Aufnahme dieser früheren sowjetischen Provinz in das Westbündnis der Nato. Der Chef der US-Geheimdienste (CIA) Burns schrieb schon 2019, hier verliefe eine „hellrote Linie“ russischer Sicherheitsinteressen, und der harte Geostratege der USA, Zbigniew Brzezinski, schrieb 2014/15 warnend, die Aufnahme der Ukraine in die Nato könne „heißen Krieg“ in Europa bedeuten. Dennoch lehnte zum Jahreswechsel 2021/22 der Westen Putins Ersuchen, darüber zu verhandeln, strikt ab: „Niemand hat hier ein Vetorecht!“ Nahmen die USA damit Putins Krieg billigend in Kauf?
Klaus von Dohnanyi: „Sollten aufhören, Märchen zu schreiben“
Iken: Zugleich sehen wir, dass viele Militärstrategen danebenlagen. Die Großoffensive der Ukraine ist gescheitert. Wie lange wird dieser Krieg dauern?
Dohnanyi: Das hängt von der innenpolitischen Entwicklung in den USA ab. Rund die Hälfte der US-Wähler sind gegen die Finanzierung des Ukrainekrieges. Im Wahlkampf um das Präsidentenamt 2024 wird diese Stimmung von den Republikanern (Trump) genutzt werden, und Biden wird vermutlich zögernd folgen. Haben die amerikanischen Kritiker des Ukrainekrieges recht? Aber sicherlich: Der Krieg trieb Russland und seine Bodenschätze an die Seite Chinas – war das im Interesse der USA? Wann wird sich aber Berlin auch unserer Interessen besinnen?
Iken: Deutschland leidet ökonomisch unter dem Krieg, ist zugleich der zweitgrößte Unterstützer. Liegt ein Waffenstillstand in unserem nationalen Interesse?
Dohnanyi: Klar. Aber solange bei uns Leute an das Märchen glauben, Putin wolle Europa erobern, solange werden diese Leute auch meinen, es sei in unserem Interesse, durch die Ukraine Krieg gegen Russland zu führen. Der Krieg kostet aber Leben, unseren wirtschaftlichen Verfall – und viel Geld. Europa muss zwar als alternde Wirtschaftsgemeinschaft wehrfähig werden, aber militärisch könnten wir niemals mehr mit den Weltmächten Schritt halten; auch Helden wollen wir nicht mehr werden. Diplomatie, Verhandlungen und Wirtschaft sind unsere wirksamsten Waffen.
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Iken: Droht bei einem Einknicken des Westens bald die nächste Invasion durch Putin?
Dohnanyi: Wir sollten endlich aufhören, Märchen zu schreiben, um sie uns dann selbst immer wieder vorzulesen: Putin hatte in den Jahren nach der unglücklichen Nato-Entscheidung 2008 – „Die Ukraine SOLL in die Nato kommen“ (wenn auch erst in Zukunft) – klargemacht, dass Russland alles unternehmen werde, das zu verhindern. Noch heute nennt er aber auch die aus seiner Sicht realistische Alternative zum Krieg: Die Ukraine kann eng mit der EU zusammenarbeiten – aber militärisch sollte sie „neutralisiert“ werden (so Putin bis heute).
Das entsprach auch dem Verhandlungsergebnis des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett mit Putin im Frühjahr 2022. Doch Boris Johnson fegte es selbstherrlich vom Tisch! Hier liegt heute noch die Chance für Frieden mit Russland. Warum können wir das nicht wenigstens parlamentarisch diskutieren und dann versuchen?
Die wirtschaftliche Lage der Ukraine gibt uns eine Chance: Kürzlich warnte der Internationale Währungsfonds die Ukraine vor erheblichen zukünftigen Zahlungsschwierigkeiten. Wir könnten finanzielle Entlastungen anbieten, die dann aber weder für Waffen noch für die Kriegsführung, sondern nur für Frieden und Wiederaufbau eingesetzt werden dürften. Deutschland sollte der Ukraine helfen, aber nicht bei der Verlängerung eines sinnlosen Krieges!