Hamburg. 71.000 Obdachlose haben seit 1993 die Zeitungen in Hamburg verkauft – und so Geld verdient und Selbstvertrauen zurückgewonnen.

Ein Straßenmagazin? Ein Verdienstprojekt für Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben? Eine Anlaufstation mit Sozialarbeitern, Kaffeebar und Kleidersammlung? Ein Impulsgeber für das Hamburger Spendenparlament oder den Mitternachtsbus? Das alles ist „Hinz&Kunzt“. Vor 30 Jahren ging das Hamburger Straßenmagazin an den Start.

Die erste Ausgabe erschien am 6. November 1993. „Ausgedacht“ hat es sich der Hamburger Theologe und damalige Diakoniechef Stephan Reimers. Er und die langjährige Chefredakteurin Birgit Müller blicken zurück auf die Gründungszeit und bilanzieren, was „Hinz&Kunzt“ mit den Obdachlosen, den Hamburgern und der Stadt gemacht hat.

Die Gründung

Es ist ein Abend im Sommer 1992. Stephan Reimers hat gerade erst die Leitung der Diakonie in Hamburg übernommen. 17.000 Menschen arbeiten hier in 400 Betrieben. Als er am ersten Arbeitstag sehr spät nach Hause geht, sieht er, wie Obdachlose wirklich jeden der Haus- und Geschäftseingänge in der Umgebung des Hauptbahnhofs in Beschlag genommen haben. „Das hatte ich vorher so nicht wahrgenommen“, erinnert sich der heute 79-Jährige.

Es ist ganz sicher kein Zufall, dass gut 30 Jahre deutsche Einheit und genau 30 Jahre „Hinz&Kunzt“ so dicht aufeinanderfallen. Viele damalige Obdachlose hatten als Wendeverlierer mit großen Hoffnungen ihr Glück in der großen und reichen Stadt Hamburg gesucht – vergebens. Viele Obdachlose hatten alles verloren: die Familie, den Job, die Heimat. „Die Obdachlosigkeit war damals sehr viel größer und sichtbarer als heute“, sagt Reimers.

Geschätzt 7000 Menschen leben zu der Zeit in Hamburg unter Brücken und in Hauseingängen. Heute spricht man von 2000. Der nächste Unterschied: „Damals waren auch Leute obdachlos, die es unter normalen Umständen nicht gewesen wären. Sie trafen sich in der Stadt in kleinen Gruppen, auf Verkehrsinseln und auf den Plätzen“, sagt Reimers. Diese Obdachlosigkeit auf dem Präsentierteller irritiert nun wieder die Hamburger.

Etwa sechs Wochen später liest Reimers von einer ganz neuen Zeitung in London, die von Obdachlosen verkauft wird. In Deutschland gab es nichts Vergleichbares. In dem Artikel erzählt der Obdachlose Tom, dass er durch den Zeitungsverkauf einen großen Teil seines Lebensunterhalts auf einmal selbst verdiene und dass das Selbstvertrauen zurückkehre. Reimers ist fasziniert.

Ein paar Wochen später beim traditionellen Treffen der Wohlfahrtsverbände mit dem Hamburger Bürgermeister erzählt Henning Voscherau von einem Besuch in den neuen Bundesländern. „Voscherau war total erschüttert über die Zustände. Er sagte ganz deutlich, dass es in Hamburg in den nächsten zehn Jahren kein neues Geld geben könne für Sozialprojekte.“ Alles, was aufzubringen sei, werde gebraucht, um in der ehemaligen DDR die Bedingungen zu verbessern, erinnert sich Reimers an Voscherau.

So reift die Idee eines Hamburger Straßenmagazins, gemacht von Profis, verkauft von Obdachlosen. Reimers lädt Journalisten ein, die er kennt. Darunter: Birgit Müller vom Hamburger Abendblatt und Ivo Banek von Radio Hamburg. Das war der eigentliche Startschuss von „Hinz&Kunzt“.

„Ich war 37, und das Hamburger Abendblatt war meine journalistische Heimat. Aber ich wollte noch was bewegen. Bei dieser neuen Zeitung sollte es zu einer Zeit der Erkaltung der Gesellschaft unmittelbar um die Menschen gehen“, erzählt Müller über ihre Motivation, den sicheren Job aufzugeben. Nicht nur im Osten sei der Euphorie der Wende die Katerstimmung gefolgt. „Viele wurden auch hier arbeitslos. ,Hinz&Kunzt‘ bot die Chance, für Menschen in Not etwas Sinnvolles zu tun. Ich wollte Teil davon sein“, sagt Müller, die vor knapp drei Jahren in Rente gegangen ist.

Die ersten Ausgaben

Obwohl Obdachlosigkeit die Menschen normalerweise isoliert, hat sich Anfang der 1990er-Jahre eine Selbsthilfegruppe in Hamburg gebildet. Sie nennt sich „die Oase“. Dieser „Oase“ stellen Reimers und der erste Chefredakteur Banek in einer Tagesstätte die Idee eines Straßenmagazins vor. Die Obdachlosen sind misstrauisch, sie befürchteten, dass sie für eine Drückerkolonne geworben werden sollen. Und sie können nicht glauben, dass sich jemand ohne Hintergedanken für sie einsetzt.

Mitgemacht haben die Leute aus der „Oase“ dann doch. Aber nur im Vertrieb und nur nach dem Versprechen der Journalisten, kein Jammerblatt mit weinerlichen Titeln zu machen. „Wir sind kein Jammerblatt geworden“, sagt Müller, „und auch kein rein politisches Magazin, das einzig Themen wie Wohnungsnot aufnimmt. Das „Kunzt“ sollte für Lebensfreude und Kultur stehen.“

Von der ersten Idee bis zum ersten Heft vergehen rund 15 Monate – inklusive der ersten großen Krise des Heftes: Die 20.000 D-Mark, die das diakonische Werk bereitgestellt hat, sind schnell aufgebraucht. Da von der Stadt nichts zu holen ist, beantragt Reimers einen 50.000-DMark-Zuschuss bei der Synode. „Der war umkämpft und umstritten. Die Entscheidung stand auf Messers Schneide“, erinnert Reimers. Schließlich setzt er sich gegen Widerstände durch. Ohne den Zuschuss wäre „Hinz&Kunzt“ schon vor Heft 1 wieder eingestellt worden.

Die Idee hinter dem Projekt

Die obdachlosen Verkäufer bekommen zehn Exemplare geschenkt. Alle weiteren Hefte, die sie mit Gewinn verkaufen, müssen sie zunächst bei „Hinz&Kunzt“ kaufen und zahlen. Schuldscheine werden nicht akzeptiert. Am Abend des 5. November 1993 treffen sich alle Beteiligten im Gemeindehaus von St. Petri. Reimers schwört die 25 Verkäufer auf acht Regeln ein. Eine lautet: Verkauft nicht, wenn ihr betrunken seid. „Ziel war, eine möglichst große Akzeptanz bei den Hamburgern zu erreichen.“ Als der Verkauf des 30-seitigen Straßenmagazins schließlich am nächsten Tag startet, ist das auch ein Stück Erlösung für viele Hamburger Mitbürger. Das jedenfalls glaubt Reimers in seiner Rückschau. „Denn jetzt können die Menschen direkt etwas tun. Es eröffnet sich die Chance, mit Leuten, die man zuvor nur argwöhnisch angeschaut hatte, in Beziehung zu treten.“

Nicht alle in der Stadt sind begeistert von der Geschäftsidee: Am ersten Verkaufstag spricht ein Bettler Birgit Müller auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz an, empört sich mit Tränen in den Augen, dass „die Armen jetzt noch mal gespalten werden, in gute und in schlechte Obdachlose“. Dieser Bettler löst eine Menge aus: „Hinz&Kunzt“ nutzt den Slogan: „Besser als Betteln“ nie mehr und setzt sich vom ersten Tag an auch für bettelnde Menschen ein.

Die Startauflage von 30.000 ist schon zur Monatsmitte verkauft, weitere 30.000 werden nachgedruckt. Für Dezember erhöht man die Druckauflage auf 60.000 – und muss dieselbe Menge nochmals nachdrucken. Die Hamburger reißen den Verkäufern die Hefte regelrecht aus den Händen. Im Januar kommen 180.000 Hefte in den Verkauf. Es wird höchste Auflage aller Zeiten bleiben. Heute hat „Hinz&Kunzt“, das klassische Magazin auf Papier (wie viele Zeitungen) mit den Folgen der Digitalisierung zu kämpfen, mit dem Trend, Nachrichten auf Tablet oder Smartphone zu konsumieren. Die Auflage liegt inzwischen bei rund 50.000.

Die Verkäuferinnen und Verkäufer

Zuletzt hat „Hinz&Kunzt“ Verkaufsausweis Nr. 71.000 ausgegeben. Die meisten Verkäufer bleiben um die zwei Jahre dabei. Aktiv sind immer 400 bis 500 dabei. Unter ihnen sind noch Verkäufer der ersten Stunde. „Hinz&Kunzt“ wirkt sich sehr stabilisierend aus“, sagt Müller. Durch die festen Standplätze würden die Verkäufer als verlässlich wahrgenommen. Viele bekämen dort zum ersten Mal nicht nur das Geld, das sie dringend brauchten. „Mit dem Verkauf stehen die Menschen vom Boden auf. Sie stehen und sind so auf Augenhöhe mit den Hamburgerinnern und Hamburgern“, beschreibt die langjährige Chefredakteurin den Effekt auf die Verkäufer.

Reimers spricht von einem „Perspektivwechsel der Hamburger auf die Obdachlosen“. Die Zeitung werde von der Hafenstraße bis zum Falkenstein gelesen und geschätzt. „Dieses hohe soziale Gemeinwesen macht mich stolz auf meine Stadt.“ Diese Stadt, also die Politik im Rathaus, weiß um den Verdienst des Magazins, das sich schon in der Anfangszeit als großer Anbieter für niedrigschwellige Arbeit etabliert hat, ohne dass Senat und Bürgerschaft einen Pfennig dafür ausgeben mussten. „Das Geld, mit dem wir unsere Arbeit finanziert haben, war frisch, es kam direkt von den Bürgern und aus keinem öffentlichen Topf“, erinnert sich Reimers. „Hinz&Kunzt“ finanziert sich aus dem Verkauf der Hefte, aus kleinen und großen Spenden und auch aus Erbschaften.

Inhaltlich, sagt Müller, versuche das Magazin, einen neuen, anderen Blick auf Obdachlose zu werfen. Und zugleich für Obdachlose einen anderen Blick auf die Stadt zu ermöglichen. „Wir sind mit ihnen in die Kunsthalle gegangen. Wir haben Fotokalender gemacht“, sagt Müller und spricht von Projekten, um den Hamburgern den „Menschen hinter der Uniform des Obdachlosen“ zu zeigen. So habe man gemeinsam mit den tollsten Köchen gekocht, mit „Hinz&Künztlern“ als Küchencrew.

Was auf „Hinz&Kunzt“ folgte

Schon im zweiten Heft legen die Macher im Dezember 1993 eine Umfrage mit 41 Fragen bei. 2500 Bögen kommen zurück. Bei der Lektüre reift in Reimers gleich die nächste Sozialprojekt-Idee. Es ist eine Art Börse, Reimers tauft sie „Spendenparlament“. Hier zahlen Menschen regelmäßig Geld ein und bestimmen mit, welches Sozialprojekt gefördert wird. Anfang 1996 gegründet, kamen so schon 16,3 Millionen Euro für 1557 Projekte und Initiativen gegen Armut, Obdachlosigkeit und Isolation zusammen.

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Die Idee der Kirchenkaten und des „Mitternachtsbusses“ wird in dieser Gründungszeit genauso geboren wie die „Hamburger Tafel“ angeregt und von Annemarie Dose umgesetzt. „Wir haben viele soziale Energie aus der Stadt angezogen“, nennt Reimers die Anregungen rückblickend. Übrigens: die 50.000 D-Mark Starthilfe der Synode gab „Hinz&Kunzt“ später an ein anderes Stephan-Reimers-Projekt weiter: an die Rathauspassage.

Wer „Hinz&Kunzt“ unterstützen möchte, kann hier spenden: HASPA-IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73