Hamburg. Corona hat zu einer großen Verelendung der Obdachlosen geführt, sagt der „Erfinder“ von Hinz&Kunzt. Hamburger leisten große Hilfe.
Er hat vor rund 25 Jahren als Chef der Diakonie die Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz&Kunzt“, das Spendenparlament und die Rathauspassage auf den Weg gebracht. Was ist aus den Projekten geworden? Und: Werden sie sich von den Corona-Folgen erholen? Stephan Reimers im großen Abendblatt-Interview.
Hamburger Abendblatt: Herr Reimers, ohne Sie wären gleich mehrere Vorzeige-Sozialprojekte wohl nicht gegründet worden. Macht es Sie stolz, dass es „Hinz&Kunzt“, das Hamburger Spendenparlament und die Rathauspassage noch immer gibt?
Stephan Reimers: Auf jeden Fall macht es mich froh und glücklich. In gewisser Weise sind die Projekte wie Kinder, die einem ans Herz gewachsen sind. Dass sie nach 25 Jahren noch lebendig sind und Menschen in schwierigen Lebenslagen beistehen, ist ein sehr gutes Gefühl.
„Helfen macht glücklich“, lautet das Motto des 1995 gegründeten Spendenparlaments. Gilt das Motto in der Corona-Pandemie nicht mehr denn je?
Reimers: Ich glaube ja, auch mit Blick auf die menschliche Nähe, die trotz der Auflage, Kontakte zu vermeiden, mit viel Fantasie entwickelt und hergestellt wurde.
Eine zentrale Aufgabe, die sich das Spendenparlament gesetzt hat, ist, etwas gegen die Isolation von Menschen zu tun. Selten zuvor dürften mehr Menschen so isoliert gelebt haben wie in den vergangenen 16 Monaten. Gleichzeitig hat Hamburg eine Phase großer Solidarität erlebt ...
Reimers: … Nachbarn kauften für ältere Menschen ein, Musiker zogen in die Innenhöfe, um den Menschen Kultur trotz Corona nahezubringen, es wurde im Lockdown viel Fantasie aufgebracht, um den Menschen beizustehen. Man achtete aufeinander.
Lesen Sie auch:
Wie haben sich Mitgliederzahl und Spendenaufkommen des Spendenparlaments in der Pandemie entwickelt?
Reimers: Die Zahl ist auf einem sehr hohen Stand stabil geblieben – bei 3200 Mitgliedern. Und mithilfe einer Erbschaft konnten wir im Spendenparlament einen Sonderfonds auflegen und 600.000 Euro für die Linderung von Problemen ausschütten, die sich aus Corona ergeben haben. Am 20. Juli ist die nächste Sitzung, in der wir vor allem Projekte fördern wollen, die Kindern und Jugendlichen unter anderem durch Nachhilfe helfen, Lücken zu schließen, die durch die Verminderung des Schulunterrichts entstanden sind. Insbesondere geht es um Kinder mit Migrationshintergrund. Wir unterstützen beispielsweise Kinderläden, die den Spracherwerb der Kinder fördern.
Sie haben unter anderem die Arche in Jenfeld und einen Kinderladen in Altona gefördert, also Projekte, die gezielt Kinder und Jugendliche in schwierigen sozialen Lagen unterstützen. Wäre das nicht die Aufgabe der Stadt Hamburg gewesen?
Reimers: Das Spendenparlament kann sehr schnell reagieren. Wenn man von der Stadt Unterstützung haben will, muss man die Jährlichkeit der Haushalte beachten. Das Spendenparlament hingegen ist in der Lage, innerhalb von sechs Wochen zu einer Entscheidung zu kommen, wenn es gut läuft. Die Zeitnähe der Entscheidung ist ein großer Vorteil. In vielen Fällen ist es in der Vergangenheit so gelaufen, dass das Spendenparlament ein Projekt gestartet hat, und dann hat die Stadt es anschließend in die Regelfinanzierung übernommen. Das war zum Beispiel bei den Paten für die Migrationsfamilien so. Zwischen Stadt und Spendenparlament hat sich ein Zusammenspiel entwickelt. Das Spendenparlament ist flexibler und schneller und kann insofern für die Stadt auch eine Vorreiterrolle übernehmen.
Hätten Sie sich an anderer Stelle eine stärkere Unterstützung der Stadt in der Krise gewünscht?
Reimers: Für die Projekte, die ich überblicke, kann ich das nicht sagen. Nehmen Sie zum Beispiel den ,Mitternachtsbus‘. Viele Lieferanten für die nächtliche Verpflegung der Obdachlosen sind ausgefallen. Deshalb wird dort jetzt mit einem Caterer gearbeitet, und die Stadt war bereit, die Kosten zu übernehmen.
Klaus-Peter Siegloch, Ex-Moderator des ZDF-„Heute-Journals“, hat für das Spendenparlament eine personalisierte Werbekampagne initiiert, die großflächig nur auf prominente Köpfe wie Caren Miosga oder Ina Müller setzt. Ein Slogan lautet „Ina wünscht eine gute Nacht! Denn alle schlafen besser, wenn es keinem dreckig geht!“ Tut die Stadt aktuell genug für die Menschen, die unter Corona besonders leiden?
Reimers: Durch Spenden konnte „Hinz&Kunzt“ in der Pandemie fast 200 Obdachlose über acht Monate in Hotels unterbringen, ohne dass dabei größere Probleme aufgetreten sind. Das Projekt hat gezeigt, dass für diese Menschen eigentlich dauerhaft kleine Sozialwohnungen beschafft werden müssten, weil sie sich durchaus in Wohnungen halten können. Das würde ihre Lage entscheidend verändern. Ich hoffe, dass wir bei diesem Thema mit der Stadt ins Gespräch kommen und dass gesehen wird, dass wir uns für diese besonders verwundbaren Menschen noch mehr einfallen lassen müssen.
Vielen Obdachlosen geht es pandemiebedingt heute eher dreckiger als vorher ...
Reimers: Corona hat zu einer großen Verelendung und Isolation der Obdachlosen geführt. Auch ist die Sterblichkeit unter Obdachlosen gestiegen – und das nicht durch Corona. Der Verkauf von Zeitungen ist ja auch eine Möglichkeit, menschliche Beziehungen zu pflegen. Und dieser Verkauf war pandemiebedingt monatelang gestoppt.
Die Pandemie geht hoffentlich bald zu Ende. Aber kehrt dann auch die Stadtgesellschaft zu einem Leben zurück wie zuvor?
Reimers: Ich hoffe, dass wir aus dieser Zeit gelernt haben und uns mit Demut erinnern werden – auch daran, wie viel Wert eine entschleunigte Zeit haben kann. Dass die menschlichen Beziehungen stimmen, ist der eigentliche Wert unseres Lebens, das hat die Pandemie deutlich gezeigt.
Aber werden gerade die sozial Benachteiligten nicht noch länger unter den Corona-Spätfolgen leiden? Und damit meine ich nicht die medizinischen Spätfolgen. Sind das nicht die Leidtragenden von Long-Corona?
Reimers: Auf jeden Fall. Die Gefahr ist groß, dass sie eine längere Zeit brauchen, um wieder Anschluss zu finden und aus der Isolation herauszukommen.
Das Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“ erlebte im ersten Lockdown eine nie erwartete Solidarität. Das Spendenaufkommen der Hamburger war so groß, dass das Magazin rund 500 Verkäuferinnen und Verkäufern wochenlang – solange „Hinz&Kunzt“ nicht erschien –, wöchentlich je 100 Euro auszahlen konnte. Hatten Sie mit dieser Unterstützung gerechnet?
Reimers: Mehr als 300.000 Euro sind zusammengekommen, mit dieser überwältigenden Hilfsbereitschaft hatte ich nicht gerechnet. Sie hängt wohl damit zusammen, dass allen Menschen in der Krise klar geworden ist, wie wichtig ein Zuhause ist. Das hat plötzlich eine noch viel größere Rolle in unserem Alltag gespielt. Damit ist auch die Empathie für diejenigen deutlich gestiegen, die ein solches Zuhause nicht haben. Man kann nur hoffen, dass dieses Bewusstsein auch weiter wirkt bis in die Politik hinein.
Gestartet sind Ihre Projekte 1993 mit dem Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. Vom Abendblatt kam damals Birgit Müller dazu. Sie blieb als Chefredakteurin dem Blatt bis zum vergangenen Jahr treu. Die Bilanz von ihr und dem Team: mehr als 14 Millionen verkaufte Hefte, mehr als 5500 registrierte Verkäufer. Und dann kam Corona. Wird sich „Hinz&Kunzt“ von der Pandemie erholen?
Reimers: Das glaube ich. Die Zeitung hat einen sehr guten Ruf, eine treue Stammleserschaft, Leute, die auch mal mehr als ein Heft kaufen. Birgit Müller hat mit ihrem Team wirklich eine tolle Arbeit geleistet! Dieser Zusammenhalt wird bleiben. Ich hoffe, dass die Auflage steigt, wenn dieses Bewusstsein weiterwirkt.
Aber die Arbeitswelt wird sich coronabedingt nachhaltig ändern. Und jeder, der statt im Büro in der City im Homeoffice arbeitet, ist ein potenzieller Käufer weniger.
Reimers: Viel hängt davon ab, wie schnell die Normalisierungsprozesse ablaufen. Aber: Ich hoffe – als Optimist – dass ab Herbst wieder vergleichbare Verhältnisse herrschen wie vor dem Lockdown. Zudem haben viele Verkäufer ihre Stammplätze vor Supermärkten, und dort herrscht nach wie vor ein großer Betrieb.
Während in den Anfangsjahren die Verkäufer eher Deutsche waren, die in Hamburg gestrandet sind, trifft man jetzt vermehrt auf Verkäufer mit osteuropäischem Hintergrund. Was bedeutet das für das Projekt ?
Reimers: Ich habe „Hinz&Kunzt“ immer als einen Rettungsring für Menschen in Not verstanden. Zu Beginn hatten wir viele, die durch die Vereinigung nach Hamburg gekommen waren. Viele Menschen aus der ehemaligen DDR fanden damals hier keine Wohnung und landeten in der Obdachlosigkeit. Es folgte recht bald ein Zuzug aus Polen. Nach der EU-Erweiterung kamen und kommen viele Menschen aus Rumänien und Bulgarien, die versuchen, in Hamburg eine Perspektive zu gewinnen. Gleichzeitig möchte die Stadt diese Menschen aber nicht hier anlanden lassen. „Hinz&Kunzt“ sehe ich hier als einen Mittler.
Die beste Phase hatte „Hinz&Kunzt“, wie viele Tageszeitungen oder Magazine, in den 1990er-Jahren. Seither geht die Auflage zurück, von rund 100.000 auf rund 55.000 pro Heft. Verlage setzen auf die Monetarisierung ihrer digitalen Inhalte, Bezahlabos werden vom Leser immer stärker akzeptiert und genutzt. Kann auch ein Heft, das zum Ziel hat, dass obdachlose Menschen es verkaufen, digital werden?
Reimers: Wir haben zwei Hauptgruppen von Käufern. Einmal die Stammleserschaft, die wird sich nicht vom Kauf abbringen lassen. Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen, die das Heft gar nicht lesen, sondern den Kauf als Spende betrachten. Auch diesen Kreis halte ich für relativ stabil. Insofern kann es sein, dass „Hinz&Kunzt“ doch nicht vergleichbar ist mit anderen Zeitungen oder Magazinen.
Auf jeden Fall hat ja die Spendenkampagne im ersten Lockdown gezeigt, wie überragend die Hamburger hinter dem Projekt stehen … 1400 soziale Projekte gegen Armut, Obdachlosigkeit und Isolation hat das von Ihnen initiierte Spendenparlament mit mehr als 14 Millionen Euro unterstützt. Gibt es darunter so etwas wie Ihr Lieblingsobjekt, zu dem Sie immer noch eine enge Bindung haben?
Reimers: Die Kirchenkaten stehen bei mir ein wenig vorne an. Die Beschleunigung bei der Gründung des Spendenparlaments hing auch mit diesem Projekt zusammen. Wir brauchten dringend Geld, um die Kirchengemeinden, auf deren Gelände die 18 Quadratmeter großen Holzhäuschen für obdachlose Menschen aufgebaut werden sollten, zu unterstützen. Für die inzwischen 29 Katen gibt es bis heute eine rege Nachfrage von Obdachlosen. Gedacht sind sie als Unterstützung bei der Wohnungssuche. Ziel ist, dass spätestens nach einem Jahr der Umzug in die eigene Wohnung erfolgen soll. Vergangenes Jahr wurde eine neue Kate in der Kirchengemeinde Sasel aufgestellt, die Beziehung geht also weiter. Auch bei der Renovierung der Katen kann man auf das Spendenparlament vertrauen.
Hatten Sie bei der Gründung des Spendenparlaments vor mehr als 25 Jahren mit diesem Erfolg und dem Rückhalt in der Stadt gerechnet?
Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:
- Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
- Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
- Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
- Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
- Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).
Reimers: Nein (lacht). Meine optimistische Einschätzung damals waren 500 Mitglieder. Dass das mal in der Spitze 3400 und aktuell 3200 werden könnten, hatte ich nie erwartet. Aber mit 5 Euro Mindestbeitrag über sehr viel Geld voll mitbestimmen zu können, ist auch ein gutes Angebot.
Sprechen wir über das jüngste Ihrer drei großen Sozialprojekte, die 1998 eröffnete Passage unter dem Rathaus. Auch hier wirkt Corona: Der Umbau liegt weit hinter dem Zeitplan, das Spendenaufkommen weit hinter den erhofften Einnahmen von 1,2 Millionen Eigenmitteln. Sorgen Sie sich um das Projekt?
Reimers: Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass das Projekt scheitert. Ich denke, dass die kirchlichen und diakonischen Träger des Projekts noch etwas Geduld haben und zur Not in Vorlage treten müssen. Einen Teil des Geldes wird man vielleicht erst gewinnen können, wenn die neue Rathauspassage eröffnet ist. Corona war wie ein großer Sperrriegel. Es gab keine Veranstaltungen, Menschen durften sich nicht treffen.
Wie viel Geld fehlt noch?
Reimers: Von den 1,2 Millionen Euro ist rund die Hälfte eingeworben.
Um Spenden zu sammeln, muss man Leute treffen. Monatelang war die Innenstadt aber recht menschenleer. Fließen die Spenden jetzt wieder besser?
Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick
- Corona in Hamburg – die aktuelle Lage
- Die Corona-Lage für ganz Deutschland im Newsblog
- Interaktive Corona-Karte – von China bis Hamburg
- Überblick zum Fortschritt der Impfungen in Deutschland
- Interaktiver Klinik-Monitor: Wo noch Intensivbetten frei sind
- Abonnieren Sie hier kostenlos den täglichen Corona-Newsletter
- So wird in Deutschland gegen Corona geimpft
Reimers: Das muss langsam wieder anlaufen. Wir hatten auch darauf gehofft, dass die Baustelle schon weiter ist, um zum Beispiel Führungen oder Veranstaltungen machen zu können. Das machen die neuen Brandschutzauflagen noch zunichte.
Corona-Auflagen und Bauarbeiten bremsen die Rathauspassage aus – wie arbeitet das Projekt aktuell?
Reimers: Trotz der Ausbauarbeiten arbeitet das auf 15 Personen verkleinerte Team weiter. Ein größerer Ladenraum unter dem Rathausmarkt ist vom Umbau nicht betroffen. Hier werden gespendete Bücher und Secondhandkleidung verkauft. Gespendete Bücher und Kleidung werden im Laden weiter angenommen. Die Sortierung geschieht in einem Bücherlager in Wilhelmsburg. Dort wird auch ein Onlineverkauf organisiert. Nach der Wiedereröffnung soll das Team wieder auf 20 Personen vergrößert werden. Eingestellt werden Menschen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen waren.
Was erwartet die Hamburger in der Rathauspassage, wenn Ostern 2022 wiedereröffnet wird?
Reimers: Das neu gewonnene Tageslicht mit Alsterblick ist ein großer Gewinn für die Raumqualität der Passage. Ich erhoffe mir, dass dies ein Ort wird, wo sozialpolitische Debatten geführt werden. Es ist ein Ort mit rein kommerziellem Umfeld. Wir sollten dort nicht nur Bücher verkaufen, sondern auch politische Debatten führen.