Hamburg. Die Bundeswehr registriert ein großes Interesse von Hamburgerinnen und Hamburgern, sich in den Einheiten zu organisieren.

Er ist der Mann, auf den es im Ernstfall in Hamburg ankommen würde: Kapitän zur See Michael Giss ist Chef der Bundeswehr, die in der Stadt fast 6500 Menschen beschäftigt. In unserer Reihe „Entscheider treffen Haider“ spricht er über die Zeit nach der Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers, den Aufbau von Heimatschutzkompanien und Hamburg als potenzielles Angriffsziel in einem Krieg. Zu hören unter www.abendblatt.de/entscheider

Das sagt Michael Giss über …

… die Bundeswehr in Hamburg: „Ich bin so etwas wie der Klassensprecher der Bundeswehr hier in Hamburg, repräsentiere sie nach außen, vor allem gegenüber der Politik. Wir haben in der Stadt knapp 5000 Soldaten in Uniform und 1500 zivile Mitarbeiterinnen, sind zwischen Airbus und der Haspa also einer der größten Arbeitgeber.“

… die Hamburger Heimatschutzkompanie: „Das ist eine Einheit von 120 Personen, die im Ernstfall mit dafür sorgen würde, dass die Infrastruktur in der Stadt geschützt bleibt. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist das Interesse an der Heimatschutzkompagnie sehr groß geworden, wir werden jetzt eine zweite Einheit mit weiteren 120 Personen aufbauen, dann eine dritte und so weiter. Bewerberinnen und Bewerber sollten zwischen 18 und 60 Jahren alt und körperlich einigermaßen fit sein.“

Bundeswehr: Warum Hamburg Heimatschutzkompanien für den Ernstfall aufbaut

… Personalmangel bei der Bundeswehr: „Im Bereich der Offiziere haben wir weniger Probleme, bei den Mannschaften und Unteroffizieren dafür umso mehr. Da spielen auch der Arbeitsmarkt und all die gesamtgesellschaftlichen Faktoren eine große Rolle. Selbst jetzt mit dem russischen Angriffskrieg vor Augen überschwemmen uns die Bewerber nicht. Ich persönlich meine, dass wir das Thema Sicherheitspolitik schon früh in die Schulen, Universitäten und an den Küchentisch zu den Familien bringen sollten, damit das Interesse an der und das Verständnis für die Bundeswehr und Sicherheitspolitik wieder wächst.“

… die Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht: „Im Moment würde uns eine Wehrpflicht nichts nutzen. Wir haben in den vergangenen 30 Jahren massiv abgerüstet, gerade in Hamburg, wo auf vielen ehemaligen Kasernenflächen Wohnhäuser entstanden sind. Selbst wenn mir jetzt Kolonnen von Wehrpflichtigen vor die Tore gesetzt werden würden, hätte ich nicht mal genug Kojen für sie. Von 0 auf 100 bringt uns das überhaupt nichts. Ich glaube aber schon, dass man perspektivisch im Rahmen eines Pflichtjahres Angebote schaffen muss, in denen mehr junge Menschen die Bundeswehr kennenlernen. Eigentlich sollten wir seit etwa 20 Jahren rund 220.000 Männer und Frauen haben, stattdessen liegt diese Zahl bei 180.000. Und natürlich ist auch die Aussetzung der Wehrpflicht ein Grund dafür. Strategisch war das nicht gut.“

Bundeswehr Hamburg: Militärische Bedeutung nimmt wieder zu

… die Aufgaben der Bundeswehr, bevor der russische Angriffskrieg begann: „Ich möchte das gerne zeitlich einordnen: Anfang der 90er-Jahre war der Kalte Krieg beendet. Danach hat man die Bundeswehr reduziert, viele Standorte haben wir verloren. In den Jahrzehnten danach konzentrierten wir uns vermehrt auf Auslandseinsätze – Stichwort Afghanistan – , bei denen wir mit kleinem Kontingent fern von Deutschland aktiv waren. Die Bundeswehr im Inneren fand nicht mehr statt. Stattdessen haben wir uns hier auf den Katastrophenschutz und Hilfe in der zivilen Welt fokussiert. Über die militärische Bedeutung der Bundeswehr und über die Notwendigkeit, das eigene Land im Zweifel verteidigen zu können, wurde kaum noch gesprochen. Das rächt sich jetzt ein Stück weit.“

… die von Olaf Scholz eingeläutete Zeitenwende: „Entscheidend wird sein, dass uns als Gesellschaft bewusst wird, dass wir nicht nur von Freunden umzingelt sind. Das wird ein langer Prozess: Ich glaube, dass wir das, was der Bundeskanzler in seiner Zeitenwende-Rede eingefordert hat, erst in zehn Jahren umgesetzt haben werden.“

… den Hamburger Hafen als potenzielles Angriffsziel: „Dass die Russen bei einem Übungsmanöver in der Ostsee Hamburg als potenzielles Ziel benannt haben, zeigt mehrere Dinge auf. Zum einen spricht diese Nation bei militärischen Übungen offensichtlich Klartext – im Gegensatz zu uns, wir als Bundeswehr und auch die Nato verwenden bei Übungen Fantasiebegriffe. Für mich ist das außerdem ein weiteres Alarmzeichen dafür, dass wir schnellstmöglich unsere Verteidigungsfähigkeit hochschrauben sollten. Denn offensichtlich gibt es da draußen Leute, die sich mit so etwas, einem Angriff auf Hamburg, beschäftigen.“

Entscheider treffen Haider

… die Sicherheit Deutschlands vor Angriffen aus Russland: „Kern der NATO-Strategie ist, die Ostflanke zeitgerecht so schnell zu stärken, dass es gar nicht erst zu Übergriffen der anderen Seite kommen kann. Und genau dieses schnelle Aufrüsten passiert über Deutschland. Das muss man sich klarmachen. Die strategische Rolle Deutschlands ist die einer Drehscheibe: Alles, was nach Osten soll, muss durch unser Land durch. Und besonders Hamburg spielt wegen seiner logistischen Fähigkeiten dabei eine riesige Rolle. Wenn das Aufrüsten der Ostflanke uns so schnell wie geplant gelingt, sind wir relativ sicher. Dann sind wir am Zaun nach Osten stark, und dann kommt von dort auch keiner.“

Krieg in der Ukraine: „Er wird noch jahrelang dauern“

… den Kriegsverlauf in der Ukraine: „Man sieht, dass es keine Anzeichen für mögliche Verhandlungen gibt – aus ukrainischer Sicht ist das auch gut nachvollziehbar. Im Donbass hat man sich jetzt ineinander festgebissen. Dort versuchen die Ukrainer natürlich, durchzubrechen und den Gegner wegzuschieben – was aber wegen der begrenzten Kräfte schwierig ist. Man tut sich da sehr, sehr schwer, auch weil es immer ein Kampf gegen die Zeit und gegen die Jahreszeiten ist. Meiner Einschätzung nach wird der Krieg noch jahrelang dauern.“

… den Krieg, der in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit langsam verblasst: „Es ist vielleicht menschlich, dass man auf Schreckensnachrichten in der Umgebung mit Verdrängung reagiert. Aber das hilft nichts. Am Schluss läuft da trotzdem noch ein klassischer, kinetischer Krieg. Da fliegen Raketen in Kindergärten, Krankenhäuser und Wohnsiedlungen rein. Das geht auch unter der Wahrnehmungsschwelle weiter. Jeden Tag sterben dort ukrainische Soldaten – und auch russische. Niemand will uns hier die gute Laune verderben: Trotzdem sollte man das immer wieder zur Kenntnis nehmen und darf diesen Krieg nicht vergessen.“