Am 22. August 2009 begann die Wiederbelebung des Gängeviertels mit einer kreativ organisierten Besetzung und einer Charme-Offensive.
Zwischen einer Kunststudentin, die in einem rumpeligen Wohnwagen ungestört ein paar Landkarten häkeln wollte, und dem glattpolierten Hamburger Stadtvermarktungsdenken lagen damals Welten. Das kleine, symbolisch enorm wichtige Areal, um das es ging, als es ab August 2009 kreativ im gesamtgellschaftlichen Stadtbild rappelte, war allerdings nicht wirklich groß: Zwölf Häuser nur, in teilweise üblem Zustand, etwas sich selbst überlassene Freifläche drumherum, und für das alles gab es keinen verbindlicher oder gar visionären Plan, wie weiter und wohin damit. Doch für Projektentwickler, die unter Kunst nur die der brachialen Geldvermehrung verstehen, war das Gängeviertel ja gerade deswegen ein lecker lukratives Filetstück.
Mitten in der City, fast noch in Aktenordner-Wurfweite vom Gänsemarkt entfernt, standen, umzingelt von kalter Verwertungslogik und ständigem Renditedruck, diese arg morschen Gemäuer. Ein bisschen wie das unbeugsame gallische Dorf, anno dunnemals bei Asterix. Der Komponist und spätere Hamburger Ehrenbürger Brahms kam 1833 eben dort zur Welt. Ein Gang durch die altersschwachen Gänge, Wohnungen und Treppenhäuser war damals wie eine Runde in einer Zeitmaschine. Das Wasser kam mitunter nicht nur aus dem Hahn, sondern auch von der Decke.
Gängeviertel-Besetzung: Ein historisches Viertel kam in die Gänge
Mehrfach hatten die Zuständigen im Rathaus versucht, dieses einmalige historische Ensemble durch Verscherbeln an den meistbietenden Abreißer zu einem weiteren vergangenen Kapitel der Stadtgeschichte werden zu lassen. Es ging immer schief. Bis das Fass überlief, als die Stadt erneut mit einem Investor – diesmal der holländischen Hansevast Capital – eine Runde Immobilien-Poker spielen wollte.
Und diese (anfangs unfreiwillige) Wende zum Klügeren begab sich so: Am 22. August 2009 kamen etwa 200 Künstlerinnen, Künstler und Gleichgesinnte zum geselligen Beisammensein im Gängeviertel zusammen. Und anstatt irgendwann auch wieder zu gehen, blieben sie einfach. Und, ganz wichtig, sie blieben immer ungemein freundlich dabei. Sie wollten dort selbstverwaltbare Freiräume schaffen und günstigen Wohnraum und Ateliers und Bühnen und Orte für soziale Projekte gleich mit. Hausbesetzung? So ein garstiges Wort, nicht doch. In einer Handlungsanweisung, die es offiziell natürlich nie gab, stand deswegen: „Diesen Zettel auf gar keinen Fall mit dir führen, sondern auswendig kennen und vernichten!!! Wir sind alle Gäste. Keine Aussagen, die dich oder andere belasten könnten, gegenüber Polizei, Beamten, Behörden, unbekannten Dritten!“
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Im Herbst 2009 wurde mit dem Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg“ von rund 5500 Betroffenen und Genervten ein weiterer Protest gegen die Behandlung von Kulturgut als Ware eingelegt. Einige O-Töne daraus gefällig? „Wir sagen: Aua, es tut weh. Hört auf mit dem Scheiß. Wir lassen uns nicht für blöd verkaufen. Liebe Standortpolitiker: Wir weigern uns, über diese Stadt in Marketing-Kategorien zu sprechen. Wir wollen weder dabei helfen, den Kiez als ,bunten, frechen, vielseitigen Stadtteil‘ zu ,positionieren‘, noch denken wir bei Hamburg an ,Wasser, Weltoffenheit, Internationalität‘ oder was euch sonst noch an ,Erfolgsbausteinen der Marke Hamburg‘ einfällt (...) Kultur soll zum Ornament einer Art Turbo-Gentrifizierung werden. (…) Die Hamburgische Kulturpolitik ist längst integraler Bestandteil eurer Eventisierungs-Strategie. (…) Wir sagen: Eine Stadt ist keine Marke. Eine Stadt ist auch kein Unternehmen. Eine Stadt ist ein Gemeinwesen. (…) Wir nehmen uns das Recht auf Stadt - mit all den Bewohnerinnen und Bewohnern Hamburgs, die sich weigern, Standortfaktor zu sein.“
Gängeviertel-Besetzung: Geschickt organisierte Charme-Offensive
Weil jede Kampagne ein sofort wiedererkennbares Logo braucht, war auch das schnell zur Hand gewesen: der feuerrote Kreis mit dem Aufruf „Komm in die Gänge“ wurde zu Aufklebern, zu Ansteckern, zum Pflicht-Accessoire verarbeitet. Am besten – zwei weitere prominente Krisen-Baustellen damals – waren sie gemeinsam mit „Wir sind das Schauspielhaus“ und „Altonaer Museum bleibt“ gut sichtbar im Politik-Blickfeld anzubringen. Stadtentwicklung, ansonsten kein massentaugliches Thema, wurde frech, und der Widerstand gegen Bürokratenblödsinn, nun ja: sexy, geradezu.
Eine geschickt durchorganisierte Charme-Offensive wie aus dem PR-Lehrbuch überrumpelte und überrollte also die politischen Entscheidungsgremien im Rathaus und in der Kulturbehörde – gesteuert direkt neben dem damaligen Sitz der Hamburger Teile des Springer-Verlags, vor den Augen und den gespitzten Stiften der „Bild“-Zeitung also, und direkt gegenüber von einem Polizeirevier. Kaum zu glauben, schon damals, aber wahr. „Das sind die rechtstreuesten Hausbesetzer, die ich je getroffen habe“, staunte Bezirksamtschef Markus Schreiber.
In der Kulturszene war das Gängeviertel schnell DIE Einspruchs-Adresse der Herzen
Es wurde immer wahrer, weil die Methoden der aufmüpfigen Gängeviertel-Wiederbeleberinnen und -Beleber immer mehr anspornende Erfolge produzierten. Die sympathischen Erlebnisimmobilien wurden in kürzester Zeit zu fast everybody’s darling. Erst recht in der Kulturszene war das Gängeviertel schnell DIE Einspruchs-Adresse der Herzen, um sich solidarisch, einfallsreich und spontankreativ mit Aktionen einzumischen.
Auch Führungskräfte von Kampnagel, Thalia und Elbphilharmonie unterstützten mit und lieferten Projekte zu. So wie dort hatte sich der damalige CDU-Senat sein schmuckes Hochglanz-Konzept der „Wachsenden Stadt“ eindeutig nicht gedacht.
Gängeviertel-Besetzung: Die Stadt zahlte rund 2,8 Millionen Euro Schmerzens- und Lehrgeld
Der Maler Daniel Richter hatte sich, als prominenter Schirmherr geschmeidig maulend, schon früh pro Gängeviertel zu Wort gemeldet. „Ich breite den schwachen Mantel der Akzeptanz, den ich im bürgerlichen Leben genieße, über diese absolut gerechtfertigte Aktion. Wenn man 20 Millionen hat, um die private Schiffsammlung von Herrn Tamm zu kaufen und zu einem Museum zu erklären, dann sollte man auch in der Lage sein, tatsächlich Künstler zu halten.“
Für das „Recht auf Stadt“ fanden durchaus gutbürgerlich besetzte Demos statt, unter anderem mit Lichterketten rund ums Gängeviertel. Und am 11. November 2009, während eine Solidaritäts-Demo vor dem Elbphilharmonie-Starbucks-Kulturcafé an der Mönckebergstraße stand, meldete das Abendblatt die Rolle rückwärts des Rathauses: Die Stadt wollte nicht mehr verkaufen, sondern sich mit der Zahlung von gut 2,8 Millionen Euro Schmerzens- und Lehrgeld von dem holländischen Investor freikaufen. Mitte-Bezirkschef Markus Schreiber teilte dazu mit: „Aus meiner Sicht und der Sicht der Bezirksversammlung muss man mit den Künstlern eine einvernehmliche Lösung anstreben.“ Und die Gängeviertel-Sprecherin Christine Ebeling sagte: „Wir begrüßen diesen ersten Schritt von Hamburg und wollen nun unser Nutzungskonzept verwirklichen. Der nächste Vertrag muss mit uns unterzeichnet werden.“
Dagegen-Gala gegen die angedrohten Sparmaßnahmen des Senats
Der Stress ging dennoch weiter. Die hiesige Kultur hatte einige weitere schmerzende Problemzonen, nicht nur die immer kostspieligere Elbphilharmonie-Baustelle. Besonders bizarr war der Streit zwischen Kultursenatorin Karin von Welck und Kunsthallen-Chef Hubertus Gaßner um Defizite und das Risiko angeblich falsch montierter Brandschutzklappen.
Im Thalia wurde im Oktober 2010 eine Dagegen-Gala organisiert, um gegen die angedrohten Sparmaßnahmen des Senats aufzubegehren, mit vielen Prominenten, natürlich auch einer Gängeviertel-Abordnung und, als größter Hit, dem Protestsong „Hey Stuth, don’t make it bad“, der den stark umstrittenen Kurzzeit-Kultursenator Reinhard Stuth angriff. Es war heftig was los damals. Und die CDU-Regierung von Christoph Ahlhaus: wurde abgewählt.
Gängeviertel-Besetzung: Einigung im Herbst 2011
Wie wichtig der neuen, durch Olaf Scholz ins Amt geholten Kultursenatorin Barbara Kisseler, die als Parteilose frisch und erfrischend forsch Probleme abräumte, dieser Häuserkampf war? Sehr. Nur einen Tag nach Amtsantritt in ihrer Behörde, am 24. März 2011, war ihr allererster aushäusiger Termin ein Besuch im Gängeviertel. Damals gab sie dort demonstrativ zu Protokoll: „Es darf nicht sein, dass ein Ort in der Stadt von Künstlern trockengewohnt und dann der Verwertung übergeben wird.“
Im April 2011 bekam das Rathaus ein Konzept auf den Tisch, fünf Monate später einigten sich die Stadt und die Gängeviertel-Besetzer auf einen umfassenden Sanierungsplan für das Areal. Etwa acht Jahre sollte sie dauern und rund 20 Millionen Euro kosten, der größte Teil aus Fördermitteln des Bundes, und das alles mit vielen Mitspracherechten für die Initiative. Eine Genossenschaft soll basisorganisatorisch regeln und Weichen stellen. Die Unesco kürte das Viertel im Oktober 2011 zum „Ort kultureller Vielfalt“. Wenig später machte Kisseler den Erhaltungswillen endgültig amtlich, indem sie eigenhändig eine blau-weiße Denkmal-Plakette an das Speckhaus im Gängeviertel montierte.
Gängeviertel-Besetzung: 2015 bremste ein vierjähriger Planungsstopp den Fortschritt
Gänzlich ruckelfrei ging es danach nicht voran. Die Sanierung begann, doch 2015 bremste ein letztlich vierjähriger Planungsstopp den Fortschritt, weil man sich nicht über die Verwaltungsfrage einig werden konnte. 2017 wurde das Datum für den Abschluss der Bauarbeiten von 2020 auf 2023 verschoben, seitdem hoffte man auf 2027. Doch daraus dürfte inzwischen wohl nichts mehr werden. Es wird einfach dauern, solange es nun mal dauert. 2019 wurde ein Erbbaurechtsvertrag aufgesetzt, der dafür sorgt, dass die Gängeviertel-Genossenschaft 75 Jahre lang über Projekte, Wohnungsvermietung und Gestaltung entscheidende Worte mitredet. Und Eigentümer bleibt die Stadt.
Die unbeugsamen Gängeviertel-Gallierinnen und Gallier haben den Kampf Klein gegen Übergroß mit ihrer subversiv begonnen Aktion aus Kunst, Protest und Politik für sich entschieden. Das Gängeviertel will kein Künstler-Streichelzoo sein, sondern ein Versuchslabor. Das Viertel lebt, wieder, und weiter. Nur so, wie es will.