Hamburg. Wie steht es um die Drogenabhängigen und die Sicherheit an Deutschlands größtem Bahn-Drehkreuz? Der Hauptbahnhof-Report.
Die Augen flackern hin und her. José ist aufgeregt. Der Portugiese möchte heute darüber reden, worüber eigentlich niemand reden will. Seine Sucht, seine Drogen, sein Leben. Der 56-Jährige sitzt in einem Besprechungszimmer des Drob Inn am Hamburger Hauptbahnhof, seine Hände streichen immer wieder nervös über seine Oberschenkel. „Immer wenn ich Probleme hatte, konnten die irgendwie nur durch Drogen gelöst werden“, sagt José. „Dabei weiß ich natürlich auch, dass der Kick irgendwann vorbei ist, die Probleme aber immer noch da sind.“
Probleme gibt es in Hamburg jede Menge. Ein gutes halbes Jahr ist es nun her, dass das Abendblatt einen großen Report über das neue Drogen- und Obdachlosenelend rund um den Hauptbahnhof zusammengetragen hat. Es ging um Verelendung und Gewalt, um Heroin, Crack und Kokain. Es war ein Hilferuf aus dem Zentrum der Stadt.
Hamburg Hauptbahnhof: Lage am Drob Inn „dramatisch“
Und sechseinhalb Monate später soll José sagen, ob dieser Hilferuf gehört wurde. „Für mich ist das Drob Inn eine Art zweites Zuhause“, sagt der Wahl-Hamburger, der seit mehr als 30 Jahren Dauergast im Drob Inn ist. „So ein Ort, an dem man sich als Drogenabhängiger sicher fühlt, ist wichtig in einer Stadt wie Hamburg.“
Die Frage ist aber auch, wie sicher sich der Rest der Stadt fühlt. „Insgesamt“, sagt Polizeisprecher Florian Abbenseth dem Abendblatt, „hat sich die Lage im erweiterten Umfeld verbessert.“ Seit Kurzem streift die „Allianz sicherer Hauptbahnhof“ durch die Wandelhalle, durch die Tunnel zu U- und S-Bahn, über den Vorplatz. Erstmalig finden sich auf gemeinsamen Kontrolltouren Polizei Hamburg, Bundespolizei und Sicherheitsdienste von Hochbahn und Deutscher Bahn zusammen. Sie drängen die Süchtigen wie José, aber auch die Dealer Richtung Drob Inn. „Verbessert“ sagt auch Bezirksamtsleiter Ralf Neubauer über die Lage. Der Hamburg-Mitte-Chef weist auf die neue Tagesstätte für Obdachlose in der Spaldingstraße hin. Die Straßensozialarbeit werde ausgebaut.
CDU: „Der gefährlichste Bahnhof Deutschlands“
Fragt man bei CDU-Fraktionschef Dennis Thering nach, bekommt man eine andere Antwort. „Wer mit dem Zug nach Hamburg kommt und am Hamburger Hauptbahnhof aussteigt oder wer sich häufiger im Umfeld des Hauptbahnhofs aufhält, bekommt keine schöne Seite unserer Stadt zu sehen. Unter SPD und Grünen ist der Hauptbahnhof zum gefährlichsten Bahnhof Deutschland geworden“, sagt Thering. Er selbst sei schon mehrfach von Drogendealern angesprochen worden. Auch über die Situation rund um das Drob Inn habe er sich persönlich erkundigt. „Die offene Drogenszene mit all ihren negativen Folgen und auch die Zahl der Obdachlosen nimmt leider zu“, sagt er.
Neubauers Vorvorgänger Markus Schreiber, SPD-Bürgerschaftsabgeordneter und Vorsitzender des Bürgervereins St. Georg, erkennt einen positiven Wandel durch die neue TAS für Obdachlose. Aber: „Nicht besser geworden ist die Lage aus meiner Sicht am Drob Inn. Die meisten Leute, die da stehen, sind offenbar gar keine Nutzer des Drob Inn, sie verkaufen oder kaufen dort einfach nur ihre Drogen – und das ist bekanntlich verboten. Ich bin deswegen dafür, dass man dort eine Videoüberwachung installiert, auch um Dealer damit vor Gericht überführen zu können.“
Videokameras als Überwachung geeignet?
Die Polizei will sich zu neuen Kameras nicht äußern, erklärt aber: „Die Kameraüberwachung am Hansaplatz hat sich nach der Auffassung der Polizei zur Stärkung der objektiven und subjektiven Sicherheit bewährt. Durch sie kann sowohl deliktisches Verhalten festgestellt und verfolgt bzw. nachträglich durch die polizeilichen Ermittlungsdienststellen zu Strafverfolgungszwecken genutzt werden.“
Schreiber ist als Klartext-Mann bekannt – und nicht in der ganzen Hamburger SPD dafür beliebt. Thering sagt Dinge, die man als Oppositionsführer sagen muss. Vor allem sagt er aber auch die Wahrheit. Wie bereits im vergangenen Jahr liegt der Anteil von Betroffenen ohne Wohnraum im Drob Inn bei rund 75 Prozent. Auch die Zahl der Obdachlosen, die im Winternotprogramm betreut werden mussten, ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. 2020/21 lag sie nach Schätzungen des Straßenmagazins „Hinz Kunzt“ bei 2700. Und die durchschnittliche Verweildauer der wohnungslosen Menschen, die in Einrichtungen der öffentlichen Unterbringung aufgenommen werden, beträgt mittlerweile 4,2 Jahre. „Das ist eine dramatische Situation.“ Sagt nicht Thering. Sondern Christine Tügel.
Drei Viertel der Drob-Inn-Kunden sind obdachlos
Wahrscheinlich kennt niemand die Situation rund um das Drob Inn besser als die Chefin des Trägervereins Jugendhilfe e.V. Seit 1989 arbeitet Tügel schon in der Kontakt- und Beratungsstelle für Drogenabhängige. Auch vor einem halben Jahr hat die 62-Jährige mit dem Abendblatt über die Situation vor Ort gesprochen. Jetzt sagt sie: „Es drängen auch immer mehr Menschen auf den Wohnungsmarkt in Hamburg. So natürlich auch Geflüchtete aus der Ukraine. Es wird immer schwieriger für Menschen, die wir betreuen, an Wohnungen zu kommen.“
Davon kann auch José ein Lied singen. Seit vergangenem Jahr ist er ohne Wohnung, kurz danach ist er auch ohne Job. „Das ist ein Teufelskreis. Als ich meine Wohnung verloren habe, ist mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden“, sagt der Mann, der bei einer Zeitarbeitsfirma als Lagerfacharbeiter gearbeitet hat. Nun kommen zu seinen Drogen- und Wohnungsproblemen auch noch Geldsorgen. Gut 1000 Euro bräuchte er monatlich, um seine Sucht zu finanzieren, von der er nicht loskommt. Wie er das nun macht? José zuckt mit den Schultern. Auf alle Fragen hat er bis hierhin geantwortet. Auf diese lieber nicht.
Hauptbahnhof: Diebstähle und Drogendelikte machen 50 Prozent der Kriminalität aus
Beschaffungskriminalität rund um den Hauptbahnhof und das Drob Inn bleibt auch in der Politik ein großes Thema. Die Zahl der in St. Georg im vergangenen Jahr in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten stieg im Vergleich zum Vorjahr um 22,7 Prozent auf 20.699 Fälle. Taschendiebstähle stiegen beispielsweise von 869 auf 1856 erfasste Fälle. Der Trend setzt sich 2023 fort. Im ersten Quartal wurden rund um den Hauptbahnhof nach Polizeiangaben 7677 Fälle erfasst. Das sind 85 pro Tag oder 3,5 pro Stunde. Jede Stunde, jeden Tag.
Diebstähle (33,8 Prozent) und Rauschgiftdelikte (18,6) machen das Gros aus, Gewaltdelikte nur 3,3 Prozent. Doch die sind erschütternd wie der brutale Messerangriff auf einen Zivilfahnder 2022 oder die lebensbedrohliche Attacke auf einen 22-Jährigen an der Kirchenallee in der vergangenen Woche. Der mutmaßliche Täter ist 15. Beide Taten haben mit dem Drob Inn wohl nichts zu tun.
Dauerhaftes Waffenverbot am Hauptbahnhof gefordert
„Insbesondere um Drogensucht, Beschaffungskriminalität und Drogenhandel zu bekämpfen, muss Hamburg wieder stärker auf strafrechtliche Maßnahmen setzen und zusätzlich gute Suchttherapien und weitere Hilfen anbieten“, sagt CDU-Chef Thering. Die Polizei erklärt, ihre „Präsenzmaßnahmen“ trügen dazu bei, dass die Drogenabhängigen zu den „örtlichen Hilfeeinrichtungen“ gehen, wo ihnen geholfen werde.
SPD-Mann Schreiber wird grundsätzlicher und geht auf die Opposition zu: „Die CDU-Idee, den Steindamm mit Videokameras zu überwachen, finde ich unsinnig. Da würde man nur Menschen beim Dönerkaufen oder auf dem Weg in die Moschee aufnehmen. Richtig finde ich dagegen eine andere CDU-Forderung: Wir sollten ein durchgehendes Waffenverbot im Hauptbahnhof bekommen.“ Er nannte die Bilanz bei dem kürzlich eingerichteten befristeten Waffenverbot und die Messer-Funde „erschreckend“. Denn: „Kein Mensch braucht eine Waffe, um mit der Bahn zu fahren.“
„Crack macht Drogenkonsumenten schwer steuerbar und oft sehr aggressiv“
José fühlt sich am Hauptbahnhof und rund um das Drob Inn sicher. Einerseits. Andererseits sagt der Portugiese auch, dass sich die Szene in den vergangenen Jahren verändert habe. Verschlimmert. „Es wird deutlich mehr Kokain als früher konsumiert. Die Leute sind aufgeputschter, sind aggressiver“, sagt José. „Freunde, die ich seit Jahren kannte, haben sich verändert. Sie sind nicht mehr die gleichen Menschen wie früher.“ Bezirkschef Neubauer sagt: „Weil viele der Drogenkonsumenten dort Crack rauchen, sind sie schwer steuerbar und oft sehr aggressiv.“
Auch Christine Tügel bestätigt die wachsende Problematik rund um Koks. „Seit 2016 sind die Drogenkonsummuster der Drob-Inn-Klientel relativ stabil. Was allerdings auffällt: Der Gebrauch von Kokain nimmt immer mehr zu“, sagt sie. „Wir haben eine regelrechte Schwemme von Kokain.“ Die Polizei hat einen anderen Eindruck: „Erkenntnisse über ein gestiegenes Angebot oder eine leichtere Verfügbarkeit von Kokain und Crack liegen bei der Polizei nicht vor.“ Auch die Preise für die Prise seien über Jahre vergleichbar. Dass die Zahl der Drogentoten gestiegen ist, könne zwei andere Ursachen haben: In die Statistik fallen auch Menschen, die unter Drogeneinfluss Auto fahren und bei Unfällen sterben sowie langjährig Abhängige, die „dem langsamen körperlichen Verfall erliegen“.
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Vertreibt die Polizei die Obdachlosen aus Hamburgs City?
Der Verfall ihrer „Kundschaft“ treibt die Verantwortlichen von „Hinz und Kunzt“ um. Geschäftsführer Jörn Sturm sagt: „Wir merken, dass der Gesundheitszustand von sehr vielen Menschen, die auf der Straße leben, zuletzt sehr viel schlechter geworden ist. Obdachlose werden, wenn sie zum Beispiel aus dem EU-Ausland kommen, nach kurzer Akut-Behandlung aus den Kliniken entlassen und wieder auf die Straße geschickt. Die 20 Plätze in der Caritas-Krankenstube reichen bei weitem nicht aus für die Versorgung kranker Obdachloser in Hamburg.“ 22 tote Obdachlose seit dem Herbst sind eine erschütternde Zahl. Sturm spricht von einer „Vertreibung aus der Innenstadt“. Daran sei auch die Polizei beteiligt. „Es ist kein aggressives Betteln, wenn jemand an einer Ecke sitzt, mit einem Pappbecher vor sich.“
Das und sein Appell, die Stadt müsse mehr gegen die Drogensucht tun, ist an Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer adressiert. Sie hatte im Abendblatt gesagt: „Die Stadt gehört allen. Das Wegerecht wird angewandt und aggressives Betteln ist nun einmal nicht erlaubt.“ Nun ließ sie ihren Sprecher dem Abendblatt ausrichten: Die Einrichtungen für eine „Notübernachtung“ böten auch eine Sozialberatung, es gebe eine „medizinische Akutversorgung, suchtpädagogische Angebote oder Beratungen durch das Jobcenter bzw. das Hamburg Welcome Center“. Und für die Aufenthaltsstätte an der Spaldingstraße habe man den Vertrag bis Ende 2023 verlängert. „Stabil“ sei die Lage am Drob Inn. „Die Einrichtung wird stark frequentiert.“
49-Euro-Ticket als Elend-Beschleuniger?
Das kann man wohl sagen. Das gute Wetter, der nahende Sommer und das 49-Euro-Ticket tragen dazu bei, dass dieser Hotspot der deutschen Drogenszene überquillt. Die Fundamente des Platzes sind herausgebrochen, an vielen Stellen fehlen Pflastersteine. Der frühere August-Bebel-Park ist nach den Worten von Bezirkschef Neubauer „nur noch eine Steppe“. In wenigen Wochen rollen die Bagger zum Umbau an. Die Absperrungen zu den Gleisen wurden bereits verstärkt.
Neubauer denkt schon an ein zweites Drob Inn: „Zusammen mit der Sozialbehörde machen wir uns derzeit Gedanken über das Konzept und einen möglichen Standort für eine zweite Drogenkonsumeinrichtung. Klar ist: Diese müsste sich, wenn sie denn kommt, in der Nähe des Drob Inn befinden – denn wir wollen vermeiden, dass sich die Drogenkonsumenten zwischen den Hilfsangeboten quer durch die Stadt bewegen müssen.“
„Hinz und Kunzt“-Geschäftsführer Sturm sagt: „Ich denke, man sollte prüfen, ob es nicht sinnvoll wäre, vielleicht eine weitere Einrichtung dieser Art zu schaffen, um das Drob Inn zu entlasten.“ Und die Sozialbehörde? Überlegt und prüft. Und prüft und überlegt. Ihre Taskforce heißt „Amtsleiterrunde Drogen“.
Zweites Drob Inn am Hauptbahnhof geplant
SPD-Mann Schreiber sagt: „Ich glaube nicht, dass ein weiterer Drogenkonsumraum etwas zum Positiven verändern würde – da bin ich der Meinung von Frau Tügel vom Drob Inn. Ein neues Dreieck Hauptbahnhof – Drob Inn – neuer Konsumraum lehnt er ab. Nicht im Drob Inn sei es zu voll, sondern davor. Und das liege am Drogenhandel. „Dagegen gibt es nur ein Mittel: Die Polizei muss das unterbinden.“ Law and order ist für Sozialdemokraten am Hauptbahnhof kein Schimpfwort.
Das könnte sogar José unterschreiben. Er mag Billard und Fußball. Er guckt gerne Spiele vom VfL Pinneberg und von seinem Heimatclub FC Porto. Doch wann er das letzte Mal Billard oder Fußball selbst gespielt hat, weiß er nicht mehr. Wann er das letzte Mal Kokain konsumiert hat, weiß er dagegen ganz genau. Ein paar Stunden sei das her, sagt er. „Ich habe den Glauben daran verloren, dass ich es ganz ohne Drogen schaffen kann.“