Hamburg. Philipp F. tötete im Gebetshaus der Zeugen Jehova sieben Menschen. Polizisten erlebten hier Furchtbares. Wie ihnen geholfen wird.
Sie werden zu schweren Unfällen geschickt, zu Kindstötungen oder brutalen Überfällen: Fast jeder Hamburger Polizist hat diese Einsätze schon mitgemacht mit Bildern, die sich ins Gedächtnis brennen. Ende vergangener Woche stürzte eine wahre Flut furchtbarer Bilder auf die 950 Polizistinnen und Polizisten ein, die zur Bekämpfung des „schlimmsten Verbrechens ins der Geschichte Hamburgs“ (Innensenator Andy Grote) zusammengezogen worden waren.
Ein Amokläufer in Alsterdorf erschoss sechs Zeugen Jehovas, tötete ein Mädchen im Mutterleib, verletzte acht Menschen zum Teil schwer und beging schließlich Suizid, nachdem ihn Spezialkräfte der USE von den nächsten Opfern weggetrieben und isoliert hatten.
Amoklauf in Hamburg: Einsatzkräfte müssen furchtbarer Bilder verarbeiten
Diese Polizisten waren in dem Gebäude, wo die Leichen im Gebetssaal in ihrem Blut lagen, sie kümmerten sich um Verletzte, sprachen mit Überlebenden. Oder sie hatten als Mitarbeiter der Telefonzentrale zuvor Anrufer in der Leitung, die um Hilfe flehten. Sie hörten zu, wie Menschen am andere Ende der Leitung getroffen zusammenbrachen. 47 Notrufe gingen allein in den ersten Minuten nach Beginn des Amoklaufs bei der Polizei ein.
Die Gefahr, solch grauenhafte Bilder immer und immer wieder zu sehen und das Flehen um Hilfe am Telefon immer wieder zu hören ist groß. Das Risiko ist hoch, die Eindrücke nicht mehr loszuwerden. Und deshalb leiden Polizistinnen und Polizisten auch häufiger unter einer Traumatisierung, das Risiko, dass sich bei ihnen eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, ist deutlich höher als in den allermeisten Berufsgruppen. Denn sie sehen bei ihren Einsätzen Bilder, die man nicht sehen will und die die Psyche stark belasten.
Diese Bilder machen krank – wenn man sie nicht möglichst schnell wieder los wird. Betroffene können nicht mehr vernünftig schlafen, sind von innerer Unruhe getrieben, gereizt. Mal kommt es zu Erschöpfung, mal zu Konzentrationsproblemen. Die Ursachen sind dieselben, die Folgen können von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich sein.
Das Team hilft Polizisten, mit akuten Stresssituationen fertig zu werden
In der Polizei von früher hieß es gerne mal: Stell dich nicht so an, das haben hier alle erlebt. Die Polizei von heute ist weiter. Nicht nur die Kollegen aus der eigenen Schicht sind füreinander da, das war wohl immer schon so. Aber heute steht in Hamburg betroffenen Polizisten ein ganzes Team zur Unterstützung bei. Dieses Team heißt Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte, kurz PSNV-E. Polizisten arbeiten hier, Psychologen, Polizeiseelsorger, psychosoziale Fachkräfte. Das Team hilft Polizisten, mit akuten Stress- und Belastungssituationen fertig zu werden. Wie nach dem Amoklauf im Gebetshaus der Zeugen Jehovas.
Die Polizisten in diesem Team nennen sich „Peers“. Das ist keine Abkürzung für ein Wortungetüm, sondern es heißt so: „Peer“ oder „Peers“, wenn es mehrere sind, also Kollegen oder Kolleginnen, die unterstützen. Sie sind da, wenn Reden über den Einsatz als Erste Hilfe nötig ist. Diese Peers arbeiten hauptberuflich im LKA, beim Wasserschutz oder an den Wachen. Eine von ihnen ist Hauptkommissarin Sandra Brieger. „Was die Peers so besonders macht, ist, dass wir Kollegen und Kolleginnen sind. Aus unserer Erfahrung wissen wir, wie solche Einsätze ablaufen, welche Ängste und Gefühle man dabei hat, wie es einem danach geht. Das schafft Vertrauen“, sagt die erfahrene Polizistin.
Peers betreuten 818 Kollegen und Kolleginnen
2016 hat die Hamburger Polizei angefangen, die Einheit aufzubauen, die Kräfte auszubilden und einzusetzen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil des Konzepts zur psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte.
In den Jahren seit der Gründung wurden die heute 41 Peers zu 256 Einsätzen gerufen, um insgesamt 818 Kollegen zu helfen. Das G 20-Treffen, bei dem Polizisten wie Freiwild attackiert wurden, und der Amoklauf in der vergangenen Woche nicht eingerechnet. Die bislang meisten Einsätze in einem Jahr gab es für die Peers 2022: 47 Mal wurden sie zur Hilfe gerufen, um 135 Kolleginnen und Kollegen aufzufangen. Diese Zahlen zeigen: Das Angebot spricht sich herum, viele Polizisten an den Wachen, beiBereitschaftspolizei und im LKA lassen sich auf die helfenden Gespräche ein, statt sie abzutun als Psycho-Gedöns. Es sei lange verpönt gewesen, mit psychischen Erkrankungen auszufallen, sagt Frau Brieger. Damit galt man schnell als ein bisschen verrückt. „Die Einstellung zu diesem Thema und den entsprechenden Hilfsangeboten hat sich zum Glück komplett gewandelt.“
Um 22.45 Uhr ging die Alarmierung bei den Peers ein
Der Start der Peers-Einheit im Jahr 2016 kam für Sandra Brieger zu früh, da war ihr Kind noch zu klein. 2018 hat sich die erfahrene Polizistin dann als Peer beworben, seit 2019 ist sie dabei – weil sie die Voraussetzungen erfüllte: sie ist empathisch, kommunikativ, berufserfahren.
Auf 25 Einsätze kommt Brieger bislang. „Mir war es wichtig, den Kollegen und Kolleginnen etwas zurückzugeben. Das war mein Impuls, mich zu bewerben.“ Zuvor hatte ein Kollege ihr von einem sehr belastenden Einsatz erzählt – und bei Brieger Erinnerungen wachgerufen an die Zeit auf dem Streifenwagen, an Einsätze mit verletzten Kindern oder Bedrohungen. „Der Austausch mit Leuten, die während Einsätzen ähnliche Erfahrungen gemacht haben, ist hilfreich. Es ist toll, dass Kollegen, die unmittelbar an der Front arbeiten, Peers an ihrer Seite wissen.“
Die Fortbildung durch externe Experten dauerte eine Woche; vertiefende Ausbildungsinhalte folgen während der Praxis. Hier wird geschult, wie man in Extremsituationen Gespräche mit betroffenen Kollegen führt und wie man helfen kann. „Wir haben sehr viel in Rollenspielen gelernt“, sagt Sandra Brieger. „Wir sind keine Psychologen; wir sortieren Erfahrungen und Gefühle. Dabei vermeiden wir, dass die Kollegen und Kolleginnen nochmals zu intensiv in das Erlebte eintauchen, da wir über die hierfür erforderlichen Qualifikationen nicht verfügen.“
Ihr Auftrag: Zuhören, reden, für Betroffene da sein.
Im Lagezentrum der Polizei liegt immer die aktuelle Rufbereitschaftsliste der Peers aus. Ist Hilfe erforderlich, meldet man sich dort. Meist macht das der Dienstvorgesetzte nach einem belastenden Einsatz seiner Mitarbeitenden. Normalerweise haben zwei Peers Rufbereitschaft – am Donnerstagabend ging die Alarmierung aber an alle verfügbaren Peers raus. Philipp F. hatte seinen Amoklauf um 21.04 Uhr begonnen. Um 21.08 Uhr trafen die ersten Polizisten an der Deelböge ein, um 21.09 Uhr die Spezialeinheit. Um 21.11 Uhr drang die USE ins Gebäude ein und isolierte den 35-Jährigen, der mit seiner Heckler+Koch-Pistole P30 schon 134 Schüsse abgegeben hatte, von den noch lebenden Opfern. Mit Patrone 135 tötete Philipp F. sich dann selbst. Nur gut eineinhalb Stunden später, um 22.45 Uhr, lief bei Sandra Brieger der Alarm auf.
Der Einsatzort der Peers: das Präsidium der Polizei in Alsterdorf. Ihr Auftrag: zuhören, reden, für Betroffene da sein. Wie für Kollegen aus der Einsatzzentrale, die mehrere Zeugen Jehovas am Telefon hatten, während um sie herum die Schüsse fielen. Brieger beschreibt es so: „Die Kollegen waren unmittelbar dabei, auch wenn sie physisch nicht anwesend waren“. Die Polizisten am Telefon seien wie „Rettungsanker“ für die Menschen in Lebensgefahr gewesen, deren „Bindeglieder“ nach draußen. In einigen Gespräch schien zwischendurch die telefonische Verbindung in den Gebetssaal abzureißen. Lebte der Gesprächspartner noch? Hatte der Angreifer diesen Menschen gerade verletzt?
Die Polizisten in der Telefonzentrale wussten es oft nicht. Die Stille in der Leitung war kaum auszuhalten, wenn Anrufer schweigen mussten, um nicht vom Amokläufer entdeckt und ermordet zu werden. Einigen Polizisten in der Einsatzzentrale, die die Peers in der Nacht betreuten, hatten Glück, ihr Gesprächspartner überlebte. Andere aber mussten mithören, wie ein Mensch am Ende der Leitung getroffen wurde. Betreut haben die Peers und die Psychologen vom Team der PSNV-E bis Freitagmorgen Polizisten aus der Telefonzentrale, der Bereitschaftspolizei, von den Wachen. Jeder, der im Einsatz und emotional höchst aufgewühlt war, hat ein Gesprächsangebot bekommen.
Das vertrauliche Gespräch wird an der Dienststelle geführt.
Im „Hauptberuf“ ist Sandra Brieger stellvertretende Dienstgruppenleiterin für Operative Aufgaben am Kommissariat an der Mundsburg. Durch ihre Rufbereitschaft als Peer könnte sie auch zu einem Einsatz der eigenen Dienststelle gerufen werden. Theoretisch. Aufgrund der mangelnden persönlichen Distanz werden jedoch Einsätze im eigenen beruflichen Umfeld an „außenstehende“ Peers abgegeben. „In solchen Fällen wäre ich möglicherweise emotional vorbelastet, so dass mir die für die Tätigkeit eines Peer erforderliche Neutralität fehlen könnte.“
Es gilt ein zweites Prinzip bei den Peers: Das vertrauliche Gespräch mit den Kollegen wird nicht am Einsatzort geführt, sondern an der Dienststelle. So war es auch in der Nacht zu Freitag. Hintergrund ist, die Mitarbeitenden aus der physisch und psychisch belastenden Situation herauszunehmen. Für das Gespräch wird sowohl eine räumliche als auch zwischenmenschlich vertrauensbildende Wohlfühlatmosphäre geschaffen, sagt Frau Brieger. „Anknüpfungspunkt ist hier auch eine unbelastete Situation vor dem Einsatz; also ein Zeitpunkt, an dem alles noch in Ordnung und ohne Ängste war“, beschreibt sie den standardisierten Ablauf.
Brieger lässt die Kollegen erzählen, was sie erzählen möchten. Dabei kommen oftmals Themen wie eigene Schuld und Hilflosigkeit zur Sprache.„Dann erklären wir, was der Vorfall in unserem Körper auslöst. Das ist letztendlich nichts anderes als eine Stresssituation. Und Stress kennt eigentlich jeder, wenn auch nicht immer in dieser massiven Form,“ sagt Sandra Brieger.
„Man kann ruhelos sein, schlecht schlafen, Angst empfinden.“
Warum das Peers-Konzept so gut angenommen wird, liegt auch daran, dass hier erfahrene Kollegen am Start sind. Nachsorgeangebote durch Psychologen und Seelsorger können später auf Wunsch auch noch genutzt werden. Die Peers wissen aus Erlebten statt aus dem Studium, was Einsätze mit einem machen. „Wir erklären, was der Stress im Körper auslöst. Wir geben Tipps, damit umzugehen.“ Das klingt banal, weil es oft die Dinge sind, die die Betroffenen instinktiv schon zum Stressabbau einsetzen: Sport; Spaziergänge mit dem Hund; klassische Musik hören, Gespräche mit Partnern und Freunden. „Das bestärken wir, geben weitere Anregungen, was man dem Körper Gutes tun kann in den nächsten Tagen. Wir sagen immer: Wir sind hier, um zu gucken, wie es Dir geht und ob und was wir tun können, damit es Dir wieder besser geht. Klappt das, findet die Stressreduzierung im Körper ganz automatisch statt“, sagt Sandra Brieger.
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Sie und ihre Kollegen klären auf, was die Einsatzkräfte in den kommenden Stunden, Tagen oder Wochen an sich feststellen könnten. „Man kann zum Beispiel ruhelos sein und schlecht schlafen, Angst empfinden oder man ist gereizt. Das kann passieren, muss aber nicht. Und ist bei jedem individuell anders. Wir vermitteln, dass das alles mit dem Einsatz zu tun hat und eine normale Reaktion auf ein unnormales Erlebnis ist.“
Schon Polizeischüler lernen das Konzept zur Nachsorge kennen
Die Peers rücken immer im „ersten Angriff“ raus, wie sie sagen, so wie die Schutzpolizei im ersten Angriff in den Einsatz fährt. Weitere Gespräche mit ihnen sieht das Konzept nicht vor. Denn die Gespräche mit den kollegialen Unterstützern sind nach belastenden Einsätzen lediglich der erste Baustein im Konzept der psychosozialen Notfallversorgung für Einsatzkräfte. Weitere fachliche Schritte stellen Gespräche mit Psychologen und Seelsorgern der Polizei oder externen psychosozialen Fachkräften in der Nachsorge dar.
Um alle Polizisten frühestmöglich auf belastende Einsätze vorzubereiten, stellen Peers sich und das PSNV-E Konzept schon während der Ausbildung und an sämtlichen Polizeidienststellen vor. Hierzu gehört auch der intensive Austausch mit betroffenen Kollegen und Kolleginnen, die bereits Erfahrungen mit solch belastenden Situationen und deren Folgen gemacht haben. In diesem Erfahrungsberuf lege man sich ein „dickes Fell“ erst nach und nach zu; doch auch dieses schütze nicht immer vor den Folgen eines belastenden Einsatzes. So formuliert es Sandra Brieger. Doch egal wie erfahren man auch ist: Eine Belastungsstörung nach einem Einsatz kann jeden treffen und ist zutiefst menschlich, sagt die Hauptkommissarin.