Hamburg. Der späte Nachhauseweg ängstigt viele Menschen – auch Männer. Ein ehrenamtliches Angebot bietet Begleitung an.
Der Nachhauseweg in einer unbelebten Gegend ist für viele Frauen, aber auch für etliche Männer in der Nacht mit einem Gefühl der Unsicherheit verbunden. In Unterführungen, auf schlecht beleuchteten Straßen, in Parks – vor allem in der Dunkelheit befürchten Mädchen und Frauen, Opfer von Übergriffen zu werden. „Frauen fühlen sich nachts in der Öffentlichkeit deutlich unsicherer als Männer“, heißt es in der im November 2022 veröffentlichten Dunkelfeldstudie „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“des Bundeskriminalamts (BKA) von November 2022.
In Hamburg zählen laut einer Umfrage der Umfrage, die die Kinderrechtsorganisation Plan International durchgeführt hat, beispielsweise Hansaplatz, Steindamm, Hauptbahnhof, Hachmannplatz, Diebsteich, aber auch Kieler Straße, Elbgaustraße oder die Reichsbahnstraße zu den sogenannten Angsträumen. Die in der Umfrage am häufigsten genannten Gründe für ein unsicheres Gefühl waren Begegnungen mit Personengruppen, die Alkohol oder Drogen konsumieren, aber auch schlecht beleuchtete Wege und Parks, sowie einsame Gegenden, wo man im Notfall nicht auf Hilfe hoffen könnte.
Viele Frauen haben unterwegs nachts Angst
Um sich vor Kriminalität zu schützen, meidet laut der BKA-Dunkelfeldstudie ein Großteil der Bevölkerung nachts sogar bestimmte Orte (44 Prozent) oder die Nutzung von Bussen und Bahnen (37 Prozent), dies gilt insbesondere für Frauen. Für jene Menschen, die sich auf dem Nachhauseweg unsicher fühlen, ist das bundesweit erreichbare Heimwegtelefon gedacht.
Die Hamburger Studentin Chiara Marino hat sich jüngst in ihrem Soziologiestudium mit dem ehrenamtlichen Angebot befasst. Ihr Thema: „Subjektive Unsicherheiten von Frauen im öffentlichen Raum und das Heimwegtelefon e. V. – eine infrastruktursoziologische Untersuchung“. Paradox sei, dass Frauen nach aktueller und auch früherer Kriminalstatistik eher im privaten als öffentlichen Raum gefährdet sind“, sagt Marino. Sie kenne das Gefühl der Unsicherheit aber selbst, sagt sie. Das bestehe nie an Orten, die nachts belebt seien, so wie im Berliner Stadtteil Wedding, wo sie früher mal lebte. „Ich hatte nie Angst, weil immer Läden offen warn und immer irgendjemand erreichbar war.“ Aber auf ihrem Nachhauseweg in Eidelstedt gebe es keine Bars oder Restaurants. Nach 21 oder 22 Uhr sei da nichts mehr los auf der Straße, da rufe sie gegebenenfalls auch beim Heimwegtelefon an.
Heimwegtelefon arbeitet mit Ehrenamtlichen
Das bundesweit tätige Heimwegtelefon wurde 2011 gegründet und ist seit 2021 ein gemeinnütziger Verein mit mehr als 100 ehrenamtlichen Telefonistinnen und Telefonisten. Finanziert wird die Arbeit durch Sponsoren. Menschen, die sich unterwegs unsicher fühlen, können bei einer zentralen Telefonnummer anrufen, die sonntags bis donnerstags jeweils von 20 bis 24 Uhr und freitags und sonnabends von 20 bis 3 Uhr besetzt ist. Die Telefonistinnen und Telefonisten begleiten die Anrufenden auf ihrem Weg, während sie in regelmäßigen Abständen nach dem genauen Standort fragen, um diesen im Notfall der Polizei oder anderen Rettungskräften übermitteln zu können. „Wir können Momenthilfe geben“, sagt Vereinssprecher Daniel. „Es beruhigt die Anrufer, wenn sie wissen, dass es jemanden gibt, der Unterstützung organisieren kann, wenn etwas passiert.“ Vielen helfe es auch, dass sie ihr Gefühl der Unsicherheit mit einer Person teilen können. „Wenn jemand sagt, da fährt immer ein Auto an mir vorbei, dann kann da jemand vielleicht nur einen Parkplatz suchen“, sagt der Sprecher. Oft fehle in solchen Situationen das rationale Handeln. „Bei uns muss sich niemand rechtfertigen, dass er sich Sorgen macht.“ Und er könne eine Personenbeschreibung durchgeben. Das beruhige Menschen, die am Anfang oft sehr aufgelöst seien. „Viele können wir weglenken aus dieser Angstspirale. Die hätten den Weg auch ohne uns geschafft, aber mit ganz viel Angst!“
Die Ehrenamtlichen sind mehrheitlich jung
Neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Heimwegtelefons müssen eine polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und werden nach Angaben von Daniel ausführlich geschult. Jeder Neuling, die beim Heimwegtelefon „Küken“ genannt werden, bekommt einen Paten, „und in die ersten Telefonate gehen die beiden gemeinsam rein. Das ,Küken’ geht ans Telefonat, wir haben die Möglichkeit, und auf das Telefonat drauf zu schalten. Das machen wir solange, bis das „Küken“ sich sicher fühlt und wir Erfahrenen ein gutes Gefühl dabei haben“, sagt der Sprecher Wichtig sei, die „Küken“ auf Situationen, die regelmäßig vorkommen, vorzubereiten.
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Die Riege der Ehrenamtlichen sei bunt gemischt: „Das geht quer durch die Gesellschaft. Wir haben Leute nach dem Abi, aber auch solche, die im Berufsleben stehen oder im Vorruhestand.“ Tendenziell engagierten sich aber mehr junge als ältere Ehrenamtler – mit einem leichten Frauenüberhang.
Auch von Hamburgerinnen und Hamburgern werde das Angebot regelmäßig genutzt, sagt Daniel. „Im Sommer ist wesentlich mehr los als jetzt, vermutlich, weil dann einfach mehr Leute draußen unterwegs sind.“ Ab 22, 23 Uhr häuften sich die Anrufe, wenn jemand noch unterwegs, aber vielleicht keiner aus dem Freundeskreis mehr erreichbar ist. Dann seien er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter vom Heimwegtelefon gefragt. In einer Sommernacht seien es etwa 90 Anrufe pro Nacht, in der kälteren Jahreszeit etwa 30 bis 40. An den Wochenenden sind seinen Angaben zufolge sechs Telefonistinnen und Telefonisten parallel im Dienst.
Mehr als 8000 Anrufe gingen 2022 ein
Im vergangenen Jahr bekam das Heimwegtelefon insgesamt 8010 Anrufe von 3630 Menschen, die im Schnitt 25 Jahre alte waren. Nur in 17 Fällen hätten sie während eines Anrufs den Notruf kontaktiert, elf mal die Polizei, sechs Mal einen Rettungsdienst, sagt der Sprecher. Männer haben seinen Angaben zufolge oft größere Hemmungen, Angst zu zeigen und anzurufen. „Männer sind per se nicht sicherer in der Nacht.“ Im vergangenen Jahr waren 75 Prozent der Anrufenden weiblich, 22 Prozent männlich und drei Prozent divers.
Chiara Marino erzählt von einer unangenehmen Situation, als sie dann das Heimwegtelefon nutzte: „Ich bin spät nach Hause, da war eine Gruppe von Männern, die mich von der Seite angequatscht haben. Die haben gesehen, dass ich telefoniere.“ Und vielleicht deshalb hätten die Männer sie in Ruhe gelassen. Das Telefonieren habe ihr ein gutes Gefühl gegeben, sagt die Studentin: „Man ist im Gespräch und die Gesprächspartner vom Heimwegtelefon halten es gut in Gang.“ Sie habe es schon vielen Freundinnen empfohlen, weil viele erzählten, dass sie sich nachts allein unsicher fühlen.
Heimwegtelefon kann Unsicherheit nehmen
Die Studentin zitiert die Soziologin Dr. Renate Ruhne, der zufolge bisherige Maßnahmen überwiegend auf baulich-räumlichen Veränderungen fokussiert waren (etwa durch Frauenparkplätze) um mehr Sicherheit im öffentlichen Raum zu schaffen, anstelle eine breite gesellschaftliche Veränderung des Machtungleichgewichts zwischen Männern und Frauen zu erzielen. Dabei führten die allein auf den Schutz und Überwachung der Frau fokussierten Angebote zur Erhöhung der subjektiven Sicherheit im nächtlichen öffentlichen Raum dazu, dass die Geschlechterverhältnisse zwischen Männern und Frauen verborgen blieben, kritisiert Ruhne.
Chiara Marino hat festgestellt, das Heimwegtelefon könne in akuten Situationen der Unsicherheit in den Abendstunden im öffentlichen Raum eine Lösung bieten. Allerdings könne das Angebot „die gesellschaftlichen, sozialen, historischen und politischen Ursachen des Problems nicht lösen“.
„Für uns zählt, dass die Anrufer sagen, es hat mir geholfen“, sagt Vereinssprecher Daniel.
Die Nummer des Heimwegtelefons steht deutschlandweit kostenfrei zur Verfügung und ist zu folgenden Zeiten erreichbar: So bis Do von 20 bis 24 Uhr, Fr und Sbd von 20 bis 3 Uhr unter 030/12074182. Weitere Infos unter https://heimwegtelefon.net/