Hamburg. Am Marienkrankenhaus wurde ein neues Konzept für den Betrieb der Notaufnahme entwickelt: Die Experten sind begeistert.
- Ein neues Konzept für den Betrieb der Notaufnahme wurde am Marienkrankenhaus entwickelt
- Was als Lego-Modell begann, ist jetzt eins zu eins in den Vorschlägen für den bundesweiten Klinikbetrieb
- Die Gutachter beschreiben genau das, was in Hamburg bereits umgesetzt wird
Wer hätte gedacht, dass die Lego-Steine von Dr. Michael Wünning, Chefarzt im Zentrum für Notfall- und Akutmedizin am Hamburger Marienkrankenhaus, es mal zu bundesweiter Bedeutung bringen würden? Und zum Vorbild für alle Notaufnahmen in Deutschland.
Mit den bunten Steinchen und Figuren hat Wünning dagesessen und ausgetüftelt, wie ein Akutpatient mit Schmerzen vom Eingang der Hohenfelder Klinik zu der für ihn richtigen Behandlung kommt. Im medizinischen Idealfall. In der heilen Lego-Welt.
Krankenhaus in Hamburg: Mit Lego zur idealen Notaufnahme
Der Notarzt und sein Team plus die Ärztinnen und Ärzte der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) haben ein Integriertes Notfallzentrum (INZ) modelliert, für das es kein Vorbild gab und überhaupt keinen gesetzlichen Rahmen. Motto: einfach mal machen.
Der Marienkrankenhaus-Chef Christoph Schmitz und der KV-Vorstand um John Afful und Caroline Roos hoben den Daumen, die Gesundheitsbehörde nickte das ab – und heraus kam: Es gibt einen Empfangstresen für alle.
Software hilft bei der Zuordnung der Patienten
Ein Computerprogramm hilft Ärzten und Pflegekräften dabei zu entscheiden, ob der starke Bauchschmerz mit Verdacht auf Blinddarmentzündung in die Notaufnahme kommt, der mildere Schmerz aus einer Magen-Darminfektion in die Notfallpraxis der KV im selben Gebäude oder der offenbar nicht so akute Schmerz-Patient („Geht schon seit Wochen so“) hier einen Termin in einer Facharztpraxis bekommt. Zumeist gleich am nächsten Tag.
Was als Lego-Idee begann und doch so weltbewegend klingt im klar nach Sektoren eingeteilten deutschen Gesundheitswesen mit all seinen Fallen und Ausnahmen, steht jetzt eins zu eins in Empfehlungen einer hochkarätig besetzten Regierungskommission. In Kurzform: Organisiert Deutschlands Notfallversorgung so wie im Marienkrankenhaus. Nur der Name wurde nicht genannt.
Hilfesuchende definieren den Notfall, das System die Reaktion darauf
Diese unabhängige Expertenrunde von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) empfiehlt anders als seine Krankenhauskommission Reformen, die eng an Patientinnen und Patienten orientiert sind. Wie Lego halt, nur etwas komplizierter formuliert. In dem Gutachten heißt es: „Die Hilfesuchenden definieren für sich selbst den Notfall und befinden sich in der Regel in einer persönlichen Ausnahmesituation.
Es wird daher darauf ankommen, dass die Notfall- und Akutversorgung rund um die Uhr in der Lage ist, Hilfesuchende unmittelbar zielgerichtet zur richtigen Versorgung zu steuern. Die Hilfesuchenden definieren den Notfall, das System die Reaktion darauf.“
Experten fordern Zusammenlegung der Notfallnummern
Seit das INZ am Marienkrankenhaus im Juni 2022 sein Modell eröffnete, pilgerten Experten und Abgeordnete dorthin, um sich die Abläufe zeigen zu lassen. Die Experten schreiben nun: „Das Thema INZ lässt sich nicht ohne die Patientensteuerung durch eine integrierte (gemeinsame) Leitstelle (KVen 116 117 und Notfallrettung 112), aber auch nicht ohne Berücksichtigung regionaler Besonderheiten – etwa Ballungsgebiete im Gegensatz zu ländlichen Regionen – betrachten.“
Die Notfallnummern sollen also, wie oft gefordert, zusammengelegt werden. Und endlich nimmt mal eine Kommission in den Blick, dass eine Medizinmetropole wie Hamburg anders tickt als das weite, platte Ostfriesland.
Gutachter beschreiben Modell, das in Hamburg schon umgesetzt wird
Als hätten die Gutachter das Marienkrankenhaus vor Augen, schreiben sie sinngemäß: Weg mit den Grenzen von Notfallpraxis (KV) und Notaufnahme (Klinik), ein Tresen muss her, Computer-Programme und Künstliche Intelligenz müssen unterstützen, vor allem „vulnerable Gruppen“ optimal zu versorgen, also Ältere, besonders Kranke und auf Pflegeunterstützung angewiesene Menschen.
Sie sollen nicht immer wieder in der Notaufnahme aufschlagen („Drehtür-Effekt“). Auch wer sich im Gesundheitssystem nicht auskennt – Jüngere ohne Hausarzt, Menschen mit Migrationshintergrund – soll schnell und kosteneffektiver gesteuert werden.
Marienkrankenhaus-Chef Schmitz sagte dem Abendblatt: „Im INZ ist kein Patient falsch – im Gegenteil! Jeder ist hier richtig aufgehoben, denn im Gegensatz zu anderen Notaufnahmen bieten wir hier die komplette sektorenübergreifende Versorgung an. Dieses Konzept verringert die Inanspruchnahme der klassischen Notaufnahme, unseren ersten Berechnungen nach, um 26 Prozent.“ Jeder Vierte also gehört gar nicht in diese Notaufnahme, bindet aber Kapazitäten dort für die erheblich Kranken.
Das „System Notfall“ arbeitet am Anschlag
In vergangenen zehn Jahren (Statistik bis 2019), so rechnen die Regierungsexperten vor, sind zwölf Prozent mehr Menschen in die Notaufnahmen oder Notfallpraxen gekommen. Wuchs die Ärzteschaft um zwölf Prozent, gibt es zwölf Prozent mehr Pflegekräfte, Räume, Betten? Nein.
Dass das „System Notfall“ am Anschlag arbeitet, war bei der Welle an Atemwegserkrankungen um den Jahreswechsel zu sehen: Stundenlange Wartezeiten, Patiententransporte von Hamburg bis nach Flensburg, Pöbeleien, ja sogar Gewalt gegen Ärzte und Pflegekräfte in der Notaufnahme.
Die Kommission warnt auch davor, hier zu sparen. Die Gesellschaft altert, das kostet. Und sie stellt sich hinter die Betroffenen: „Insgesamt bedingen die momentanen Strukturen eine unnötige Gefährdung der Patientinnen- und Patientensicherheit bei gleichzeitig suboptimaler Effizienz des Ressourceneinsatzes.“ Für Kinder sollen im Übrigen eigene Notfall-Strukturen aufgebaut werden. Anders als Lauterbach zuletzt („Schickt Erwachsenen-Pflegekräfte im Ausnahmefall auf Kinderstationen“) setzt die Kommission hier einen klaren Punkt.
Telemedizinische Beratung wird gestärkt
Und sie holt die Patienten da ab, wo sie stehen. Google trifft Lego: „Alle in der Bevölkerung verbreiteten Videotelefoniesysteme/-programme sollten zur Kommunikation mit der telemedizinischen Beratung eingerichtet werden (Skype, WhatsApp, Zoom, Hangouts, FaceTime usw.). Für Menschen, die keinen eigenen Zugang zu Videotelefonie haben oder sich in der Benutzung unsicher fühlen, ist zu erwägen, einen derartigen Zugang in Apotheken einzurichten.“
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Das ist revolutionär und auch am Marienkrankenhaus noch nicht praktiziert, weil es gesetzlich verboten ist und es noch keine einheitliche, echte elektronische Patientenakte für alles gibt.
Krankenhaus Hamburg: "Unser Ansatz ist richtig und zukunftsweisend"
Die Experten denken pragmatisch: „Für die Akzeptanz telemedizinischer Beratung ist es wichtig, dass der Kontakt schnell, persönlich und mit möglichst geringem technischem Aufwand hergestellt wird. Datenschutzaspekte sind zu beachten, aber mit Blick auf eine unkomplizierte Umsetzbarkeit zu begrenzen.“
Marienkrankenhaus-Geschäftsführer Schmitz ist natürlich begeistert von den Vorschlägen: „Die große Deckungsgleichheit unserer bereits umgesetzten Konzepte zu den Empfehlungen der Regierungskommission zeigt uns, dass dieser Ansatz der Versorgung der richtige und zukunftsweisende ist.“ Ob er Notarzt Wünning noch ein paar Lego spendiert?