Hamburg. Mit Volksinitiative vereinbarte Erweiterung von Schutzgebieten stockt, weil SPD-Bürgermeister Bedenken hat. Nun reicht es den Grünen.

Dass sie selten einer Meinung sind, ist bekannt. In den vergangenen Wochen aber sind SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher und der grüne Umweltsenator Jens Kerstan auffällig häufig und heftig aneinandergeraten. Und offenbar nehmen die Konflikte zwischen den beiden Alpha-Politikern auch weiter kein Ende. Ging es zuletzt um den Hafenschlick und den bei Grünen ungeliebten Bau der Autobahn A 26-Ost, sorgt jetzt die vorgesehene Erweiterung von Naturschutzgebieten für Ärger in der rot-grünen Koalition. Nach Abendblatt-Informationen bremst Tschentscher derzeit eine längst beschlossene und von Kerstan schon verkündete Erweiterung zweier Naturschutzgebiete.

Hintergrund: In einem Kompromiss mit der Volksinitiative „Hamburgs Grün erhalten“ sicherten Bürgerschaft und Senat bereits im Frühjahr 2019 fest zu, die Naturschutzgebiete der Stadt auf zehn Prozent der Landesfläche auszudehnen. Derzeit stehen bereits 9,8 Prozent unter Naturschutz. Um das Ziel zu erreichen, sollten nach Plänen von Umweltsenator Kerstan die bestehenden Naturschutzgebiete Kirchwerder Wiesen und Boberger Niederung erweitert werden.

Windkraft: Tschentscher sorgt sich um Einhaltung der Ausbauziele

Im Juni 2022 teilte Kerstan öffentlich mit, dass die Planungen abgeschlossen seien und jubelte bereits über das Überschreiten der Zehn-Prozent-Marke. Passiert aber ist seither fast nichts mehr. Das liegt nach Abendblatt-Informationen vor allem am Widerstand von Bürgermeister Tschentscher und seiner Senatskanzlei. Tschentscher geht offenbar davon aus, dass Teile der geplanten Erweiterungsflächen als Standorte für Windkraftanlagen infrage kommen könnten.

Und die Stadt sucht derzeit eben auch händeringend nach solchen Flächen – denn bis 2032 muss sie die Zahl ihrer derzeit 67 Windkraftanlagen mehr als verdoppeln. Nach den Vorgaben des Bundes müssen dann nämlich 0,5 Prozent der Landesfläche für Windräder genutzt werden. Dafür muss die Stadt laut Umweltbehörde rund 200 Hektar zusätzlicher Flächen finden.

Tschentscher-Sprecher: „Es geht um eine Abwägung“

Tschentschers Sprecher Marcel Schweitzer betont zwar, dass die Zusage eingehalten werde, zehn Prozent Hamburgs unter Naturschutz zu stellen – und dass Kirchwerder Wiesen und Boberger Niederung keinesfalls grundsätzlich zur Disposition stünden. Geprüft werde allerdings, „ob Teilflächen dieser insgesamt sehr großen Gebiete von 1212 Hektar von der Ausweisung ausgenommen werden müssen, weil die Stadt sonst ihre gesetzliche Verpflichtung zur Windenergie nicht erfüllen kann“, sagte Schweitzer dem Abendblatt.

„Dabei geht es um eine Abwägung mit vielen anderen Potenzialflächen für Windenergie, bei denen ebenfalls Konflikte mit anderen Schutzzielen bestehen. Die Prüfung soll so schnell wie möglich abgeschlossen werden. Sie ist aber aufwendig.“ Bürgermeister Tschentscher lege „Wert darauf, dass sowohl die Zehn-Prozent-Zusage an die Initiative als auch die gesetzliche Pflicht zur Ausweisung von 0,5 Prozent der Landesfläche für Windenergie eingehalten wird“, so Schweitzer.

Umweltsenator Kerstan widerspricht der Einschätzung Tschentschers. „Aus unserer Sicht sind die Erweiterungsflächen der beiden Naturschutzgebiete für Windkraft nicht geeignet“, sagte Kerstan dem Abendblatt. „Wir werden das 0,5-Prozent-Ziel erreichen, ohne in die Naturschutzgebiete gehen zu müssen.“

Naturschutz: Verband warnt vor Artensterben durch Windkraft

Auch beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), der die Volksinitiative „Hamburgs Grün erhalten“ ins Leben gerufen hatte, regt sich Unmut über das Bremsen des Bürgermeisters. „Aktuell drohen die politisch Verantwortlichen den Fehler zu begehen, die Klimakrise mit dem Ausbau der Windenergieanlagen gegen die Krise der Biodiversität auszuspielen“, sagte der Hamburger Nabu-Vorsitzende Malte Siegert. „Da ist Vorsicht geboten, denn der rapide Schwund von Lebensräumen und Arten auch durch den Ausbau der Windkraft ist für den Menschen ebenso bedrohlich, wird aber völlig unterschätzt.“

Die Zusage an die Nabu-Volksinitiative, den Anteil der Naturschutzgebiete auf zehn Prozent zu erhöhen, liege fast vier Jahre zurück. „Wir erwarten, dass sie endlich umgesetzt wird“, so Siegert. „Die Ausweitung der Naturschutzgebiete darf nicht länger behindert werden.“

Stimmung zwischen SPD und Grünen angespannt wie selten zuvor

Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg sagte, es sei längst in den zuständigen Arbeitsgruppen beschlossen, „dass die Erweiterungsflächen der Naturschutzgebiete Boberger Niederungen und Kirchwerder Wiesen, die auch als Ausgleichsflächen größerer Bauprojekte relevant sind, nicht für Windenergie infrage kommen“.

Wie angespannt die Stimmung zwischen SPD und Grünen ist, hatte sich auch bei der Suche nach neuen Standorten für Windräder zuletzt immer wieder gezeigt. SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf hatte am Freitag im Abendblatt darauf hingewiesen, dass Kerstan „seit langer Zeit aufgefordert“ sei, „Vorschläge zu bringen, wie das ambitionierte Ziel beim Ausbau der Windkraft erreicht werden kann“. CDU und der Nabu hatten den Grünen vorgeworfen, dass Thema Windkraftausbau „verpennt“ zu haben – zumal die letzte Hamburger Anlage vor sieben Jahren genehmigt wurde.

Grünen-Fraktionschef wirft anderen „Blockadehaltung“ vor

Am Freitag konterte der Grünen-Co-Fraktionschef Dominik Lorenzen, Kerstan und seine Behörde seien „zentrale Vorreiter der Klimaneutralität“. Wenn „alle Behörden und politischen Kräfte sich so engagieren würden, wären wir längst viel weiter“, sagte Lorenzen. „Allerdings stoßen wir dabei auch immer wieder auf eine politische Blockadehaltung.“