Hamburg. Das auf KI basierende Sprachprogramm könnte die Arbeitswelt revolutionieren. IT-Spezialisten sind beeindruckt – und besorgt.

Es ist das Wort des Jahres 2022: Zeitenwende. Gemeint sind natürlich die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die durch den Ukraine-Krieg ausgelöst wurden. Doch kurz vor dem Ende des Jahres kam es in der Softwaretechnologie zu einem Ereignis, das nach Einschätzung vieler Experten den eingangs genannten Begriff ebenfalls rechtfertigt – und dessen Auswirkungen weit über die Fachwelt hinausgehen dürften: Am 30. November machte das US-amerikanische Unternehmen OpenAI den auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierenden Textgenerator ChatGPT öffentlich zugänglich.

Wie verändert ChatGPT den Arbeitsmarkt in Hamburg?

Für Laien mag das zunächst unspektakulär klingen. Doch wohl jedem, der das Programm schon selbst ausprobiert hat, wird schnell klar, dass es Erstaunliches leistet. ChatGPT kann auf nahezu jede schriftlich gestellte Frage sinnvolle Antworten liefern und ist in der Lage, Unterhaltungen zu führen, die kaum von denen mit einem Menschen zu unterscheiden sind.

„Was ChatGPT leisten kann, ist durchaus erstaunlich“, sagt Oliver Bleutgen, der beim Hamburger IT-Beratungsunternehmen Sopra Steria unter anderem für Projekte zur Prozessautomatisierung zuständig ist. Selbst in Fachkreisen habe „noch vor wenigen Jahren kaum jemand erwartet, dass eine so rasante Entwicklung möglich ist.“

ChatGPT kann nicht nur standardisierte Tätigkeiten übernehmen

Angesichts der Fähigkeiten des sogenannten Chatbots lassen sich weitreichende Folgen auch für die Arbeitswelt erwarten. „Bisher hieß es immer, Maschinen würden standardisierte Tätigkeiten mehr und mehr übernehmen.

Aber ChatGPT geht darüber hinaus und reicht in den kreativen Bereich hinein“, sagt Florian Rinke, Technologieexperte beim Hamburger Unternehmen Ramp106, dem Organisator des OMR-Festivals. So müssten sich zum Beispiel Anwälte fragen, ob nicht ebenso gut die KI eine Klageschrift verfassen kann.

Denkbare Produktivitätsgewinne seien "enorm"

Beeindruckt ist auch Ingo Köhne, Geschäftsführer IT-Consulting bei der Hamburger Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungskanzlei Möhrle Happ Luther: „Vergessen Sie alle Erfahrungen, die Sie bisher mit Chatbots gemacht haben. Der Unterschied ist ungefähr so wie der eines Wählscheibentelefons in den frühen ­70ern zum heutigen iPhone.“

Die denkbaren Produktivitätsgewinne für jedes Unternehmen, das in irgendeiner Form mit Daten, Informationen und Wissen umgehe, seien „enorm“. So könne es zum Risiko werden, sich dieser Entwicklung zu verschließen. „Vielleicht erleben wir aktuell wieder einen Schlüsselmoment auf dem Weg der digitalen Transformation unserer Gesellschaft“, glaubt Köhne.

Bisher endet das „Wissen“ des Programms noch im September 2021

Zwar produziert ChatGPT erstaunliche Ergebnisse, das Konzept dahinter mutet aber vergleichsweise simpel an. Das Programm ermittele auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten, welches Wort auf ein anderes folgen könnte, erklärt Rinke: „Wer beispielsweise das Wort ,Herzlichen‘ schreibt, wird wahrscheinlich anschließend ,Glückwunsch‘ oder ,Dank‘ schreiben wollen.“

Das Sprachmodell erkenne solche Muster und lerne auf Basis der Ergebnisse permanent dazu. Für das „Training“ verwendete man unvorstellbar große Datenmengen aus dem Internet, allerdings nur bis zum Stand vom September 2021. Weil seitdem keine Echtzeit-Daten mehr genutzt werden, könnte für ChatGPT Angela Merkel noch immer Bundeskanzlerin sein.

Kommt ChatGPT im Kundenservice zum Einsatz?

Wegen der Formulierfähigkeiten des Programms scheint ein Einsatz im Kundenservice für die Beantwortung von Anfragen nahe zu liegen. „Natürlich verfolgen auch wir die Entwicklungen rund um ChatGPT mit großem Interesse“, erklärt dazu Roman Oncsak, Sprecher der Hamburger Versandhandelsgruppe Otto.

Dort beschäftige sich ein eigenes Team mit KI und ihrem Einsatz „in den unterschiedlichsten Bereichen“. Speziell entwickelte KI-Werkzeuge unterstützen bereits die Servicemitarbeiter bei der Beantwortung einfacher Fragen. Das bedeute „eine enorme Zeitersparnis bei der Bearbeitung und hilft dabei, dem gestiegenen Anfrageaufkommen zu begegnen“, so Oncsak.

„Die KI lügt sehr gut“

Gerade die besondere Stärke von ChatGPT – auf Wissen und auch Meinungen aus dem gesamten Internet zurückzugreifen – könne im direkten Kundenkontakt aber zum Problem werden, sagt Bleutgen, weil dies die Ergebnisse schwer absehbar mache.

Hinzu komme: „Das Programm ist sehr überzeugt von der Antwort, die es gibt, auch wenn sie falsch ist. Die KI lügt sehr gut.“ Für interne Zwecke lasse sich eine solches Programm aber „praktisch uneingeschränkt nutzen – und auch immer dann, wenn ein verständiger Mensch die Ergebnisse zunächst noch einmal prüfen kann“, so Bleutgen. „Da sehen wir viele potenzielle Einsatzgebiete.“

Schon jetzt könne KI die Arbeit zum Beispiel in PR-Agenturen unterstützen. „Die Aufgabe könnte etwa lauten: Schreibe einen Werbetext für eine elektrische Zahnbürste, der sich an Senioren richtet.“

Ähnlich sieht Volker Gruhn, Gründer des börsennotierten IT-Dienstleisters Adesso, die künftigen Einsatzmöglichkeiten der KI: „Die 500-Zeichen-Produktbeschreibung für den Onlinekatalog oder das Fünf-Seiten-Dossier für den Vorstand könnte dann einfach ein Bot übernehmen. Bis die meisten Unternehmen solche oder ähnliche Technologien einsetzen, dürfte nicht viel Zeit vergehen – das Potenzial ist zu groß“, sagt Gruhn.

ChatGPT kann funktionsfähige Computerprogramme schreiben

Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Softwareentwicklung: Anhand exakter Vorgaben kann ChatGPT schon heute funktionsfähige Computerprogramme schreiben. Ebenfalls von OpenAI ist darüber hinaus ein KI-Programm zur Erzeugung von Bildern nach den Wünschen des Benutzers entwickelt worden, das den Aufgabenbereich von professionellen Grafikdesignern und Fotografen berührt. Technisch sei es aktuell bereits möglich, „täuschend echte menschliche Gesichter zu erzeugen“, sagt Rinke.

Auf den gleichen Feldern wie OpenAI ist das im Jahr 2021 gegründete Hamburger Start-up Neuroflash aktiv, zu dessen Kunden der Kaffeeröster Tchibo und der Discounter Lidl gehören. Im Unterschied zu Neuroflash ist OpenAI seit den Anfängen im Dezember 2015 in San Francisco aber mit umgerechnet mehr als einer Milliarde Euro an Finanzmitteln ausgestattet worden und wird derzeit mit knapp 27 Milliarden Euro bewertet.

Geldgeber war hauptsächlich der Softwarekonzern Mi­crosoft, außerdem engagierten sich unter anderem der deutschstämmige Technologie-Investor Peter Thiel und Tesla-Chef Elon Musk, der aber 2018 wieder ausstieg, weil der E-Auto-Hersteller eigene Interessen auf dem Gebiet der KI verfolgt.

ChatGPT: Was macht das mit den Denkleistungen der Menschen?

Bekannt ist, dass der Microsoft-Wettbewerber Google ein eigenes Sprachprogramm entwickelt, das nach Einschätzung mancher Experten sogar noch besser sein soll als ChatGPT. Doch Google steckt in einem Dilemma hinsichtlich des Geschäftsmodells: Derartige KI-Produkte könnten die Suchmaschinen in ihrer heutigen Form überflüssig machen, weil sie auf alle Fragen eine ausführliche Antwort liefern, ohne dass der Benutzer seitenlange Listen von Ergebnissen angezeigt bekommt – in die Google aber höchst lukrativ Werbung einstreut.

Für die Öffentlichkeit ist allerdings die Frage relevanter, ob ChatGPT künftig tatsächlich menschliche Arbeit in den Büros überflüssig machen wird. Karsten Wenzlaff und Sebastian Späth, zwei Wirtschaftswissenschaftler der Universität Hamburg, haben genau diese Frage dem Programm selbst gestellt.

Die Antwort: „Nein, ich bin nicht fähig, Menschen zu ersetzen.“ ChatGPT sei lediglich dazu da, bei sprachbezogenen Aufgaben Unterstützung zu geben, hieß es weiter. Wie sagte doch Bleutgen: „Die KI lügt sehr gut.“

Doch selbst wenn sich die Anwendung intelligenz-simulierender Programme zunächst noch darauf beschränken sollte, dem Benutzer bei seiner Arbeit zu helfen, sei es angebracht, sich Gedanken über die möglichen Folgen zu machen, glaubt Bleutgen: „Wir müssen uns auch die Frage stellen, was das mit den Denkleistungen der Menschen macht. Man erlaubt Kindern aus gutem Grund nicht schon in den ersten Schuljahren, im Unterricht einen Taschenrechner zu benutzen.“