Hamburg/Berlin. Was der Entwurf des Grünen-Abgeordneten Till Steffen und anderer für Hamburg bedeutet. Besonders ein Punkt ist umstritten.
Wenn der jetzt von der Ampelkoalition vorgelegte Entwurf für eine Reform des Bundestagswahlrechts Realität wird, ist die SPD in Hamburg die große Verliererin. Ziel des Vorschlags ist es, den auf 736 Abgeordnete angewachsenen Bundestag deutlich zu verkleinern. Künftig soll es keine Überhang- und Ausgleichsmandate – derzeit 138 – mehr geben und die Zahl der Mandatsträger auf die Regelgröße von 598 gedeckelt werden.
Bezogen auf das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 würde die SPD nach dem geplanten neuen Wahlrecht eines ihrer fünf Mandate verlieren. Niels Annen, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, säße nicht im Bundestag, weil er über ein Ausgleichsmandat in den Bundestag einzog. Auch bei früheren Wahlen hätte die SPD weniger Mandate erzielt.
Verkleinerter Bundestag: SPD Hamburg ist in Zwickmühle
So ist es verständlich, dass sich die Begeisterung für das neue Wahlrecht bei den Hamburger Sozialdemokraten in engen Grenzen hält. Doch während CSU-Generalsekretär Martin Huber schon von „organisierter Wahlfälschung“ sprach – die CSU würde elf Mandate verlieren –, sind die hiesigen Sozialdemokraten in einer Zwickmühle. Die SPD ist Teil der Ampelkoalition, und die Hamburger dürfen ihren Genossinnen und Genossen in Berlin nicht zu sehr in den Rücken fallen.
Insofern ist es bemerkenswert, dass sich die fünf Hamburger Abgeordneten bei der Abstimmung über die Wahlrechtsreform in der SPD-Bundestagsfraktion in dieser Woche enthalten haben. Nach Abendblatt-Informationen gab es eine deutliche Mehrheit unter den 206 Abgeordneten bei nur rund zehn Gegenstimmen.
Verkleinerter Bundestag: Ein Punkt wird heftig diskutiert
Pikant: Der Eimsbütteler Grünen-Bundestagsabgeordnete und Ex-Justizsenator Till Steffen hat den Reformvorschlag zusammen mit seinen Abgeordnetenkollegen Sebastian Hartmann (SPD) und Konstantin Kuhle (FDP) erarbeitet und im Sommer 2021 vorgelegt. Das Trio hat den Entwurf jetzt noch einmal überarbeitet.
Der am heftigsten diskutierte Punkt der Reform, der auch die Hamburger SPD umtreibt, ist folgende Bestimmung: Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, sollen die „überzähligen“ Direktmandate entfallen. Das heißt: Ein direkt gewählter Politiker könnte sein Mandat nicht antreten und würde nicht in den Bundestag einziehen.
„Ich kann niemandem an meinem Stand auf dem Fuhlsbütteler Markt klarmachen, dass derjenige, der einen Wahlkreis gewonnen hat, dann doch nicht in den Bundestag einzieht“, sagt Dorothee Martin, im Wahlkreis Nord/Alstertal direkt gewählte SPD-Bundestagsabgeordnete.
Droßmann: „Erster brauchbarer Vorschlag, um Wildwuchs zu beenden“
Die Wandsbeker-SPD-Bundestagsabgeordnete und Bundestags-Vizepräsidentin Aydan Özoğuz bezeichnet es als „den wundesten Punkt“ der Reform, dass „direkt Gewählte unter Umständen nicht in den Bundestag kommen“. Özoğuz, die auch Vorsitzende der Hamburger SPD-Parlamentariergruppe ist, setzt wie die anderen Hamburger Abgeordneten auch jetzt auf das weitere Gesetzgebungsverfahren, um Änderungen zu erreichen.
Im Grundsatz sind sich alle Abgeordneten einig, dass der Bundestag verkleinert werden muss. Falko Droßmann, direkt gewählt im Wahlkreis Hamburg-Mitte, hält den Entwurf „für den ersten brauchbaren Vorschlag, um den Wildwuchs zu beenden“. Aber auch Droßmann sagt: „Wichtig ist mir im nun folgenden parlamentarischen Verfahren, dass die Kandidierenden, die von den Menschen eines Wahlkreises direkt nach Berlin entsandt worden sind, auch wirklich ins Parlament einziehen.“ Droßmann war 2021 auf das Direktmandat angewiesen, weil er nicht auf der SPD-Landesliste kandidiert hatte.
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Till Steffen hält Regelung für verfassungsgemäß
Es sind nicht nur grundsätzliche Überlegungen, die die Sozialdemokraten zur Ablehnung der Regelung führen. Die Hamburger SPD ging bislang stets mit dem erklärten Ziel in die Bundestagswahlkämpfe, alle sechs Wahlkreises direkt zu gewinnen. Das wäre nach dem neuen Wahlrecht keine sinnvolle Zielsetzung mehr, weil der in der Regel deutlich niedrigere Anteil an Zweitstimmen, die künftig Hauptstimmen heißen sollen, maßgeblich wäre.
Steffen, der 2021 mit einem Vorsprung von nur 400 Stimmen den Wahlkreis Eimsbüttel gegen Niels Annen gewonnen hatte, hält die Regelung für verfassungsgemäß. Außerdem verweist er darauf, dass Direktmandate zum Teil mit einem relativ niedrigen Stimmenanteil gewonnen werden – weit entfernt von einer Mehrheit. „Der niedrigste Stimmenanteil, mit dem ein Wahlkreis in Berlin gewonnen wurde, lag 2021 bei 18 Prozent“, sagt Steffen.
Michael Kruse: "Ampel-Vorschlag ist eine gute Basis"
„Der Ampel-Vorschlag ist eine gute Basis. Der Deutsche Bundestag muss unbedingt verkleinert werden, deswegen ist die Reform ein wichtiges Zeichen der Glaubwürdigkeit von Politik“, sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Michael Kruse. „Auch wenn sich die Freien Demokraten in Hamburg noch stärker anstrengen müssen, um ihre zwei Mandate zu halten, so bin ich von der Verkleinerung dennoch überzeugt.“ Der Übergang zu einer Stärkung des Verhältniswahlrechts sei grundsätzlich sinnvoll, weil es der Realität des Mehrparteiensystems entspreche.
Scharfe Kritik kommt von der CDU-Opposition. „Der Vorschlag der Ampelkoalition zu einer Reform des Wahlrechts schadet unserer Demokratie. Dass Wahlkreiskandidaten, die von den Wählern in ihrem Wahlkreis eine Mehrheit bekommen haben, nicht mehr ins Parlament einziehen sollen, ist nicht nachvollziehbar“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß.
Viele Hamburger würden sich dann nach der Wahl fragen, warum sie überhaupt ihre Stimme abgegeben haben. „Natürlich muss der Deutsche Bundestag kleiner werden, aber es gibt zum Vorschlag der Ampelkoalition deutlich bessere Alternativen, zum Beispiel die Zahl der Wahlkreise in Deutschland insgesamt zu reduzieren“, sagt Ploß.
Verkleinerter Bundestag: Till Steffen verteidigt Entwurf
Steffen hält die Verringerung der Zahl der Wahlkreise für keinen geeigneten Weg. „Um einen Wahlkreis einzusparen, müssen fünf Wahlkreise verändert werden. Und jeder Neuschnitt verursacht große Unruhe“, sagt Steffen. Wenn es weiter Überhang- und Ausgleichsmandate geben sollte, müsste die Zahl der Wahlkreise von 299 auf etwa 220 abgesenkt werden, damit der Bundestag tatsächlich die Normgröße von 598 Abgeordneten nicht überschreitet.
„Es gilt das alte Gesetz: Wer den Bundestag verkleinern will, muss bedenken, dass es weniger Abgeordnete gibt“, sagt Steffen lakonisch. Soll heißen: Es wird immer Abgeordnete geben, die sich quasi selbst abschaffen müssen.