Hamburg. Der renommierte Rechtsmediziner Klaus Püschel sagt, es müsse endlich reagiert werden – das Problem sei groß und sehr real.
Er ist einer der erfahrensten und renommiertesten Rechtsmediziner Deutschlands. Und die Frage der Fahrtüchtigkeit von älteren Menschen ist schon lange eines der Themen, die Prof. Klaus Püschel besonders umtreiben. „Ich bin unbedingt für verbindliche Richtlinien, nach denen ab einem bestimmten Alter, zum Beispiel ab 70 oder 75 Jahren, die Verkehrseignung medizinisch und psychologisch überprüft wird“, fordert der Experte. Dies solle in einem „regelmäßigen Abstand von zwei bis drei Jahren geschehen“.
Insofern unterstützt Püschel nachdrücklich die Überlegungen der Altonaer Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne), die nach wiederholten Verkehrsunfällen insbesondere an der Waitzstraße einen Check für ältere Autofahrerinnen und Autofahrer fordert. „Wann kommt endlich die Fahrtüchtigkeitsprüfung für Seniorinnen und Senioren?“, hatte von Berg gefragt (das Abendblatt berichtete). Kritisch sieht der Rechtsmediziner indes, dass von Berg ihre Forderung ausdrücklich „nur als Privatperson stellt. Sie drückt sich vor einer Entscheidung. Deshalb bitte ich Frau von Berg, jetzt die Initiative zu ergreifen und das Thema auf die politische Agenda zu setzen!“
Unfälle in Hamburg: Püschel beruft sich auf Zahlen und seine Erfahrung
Insgesamt seien öffentliche Äußerungen zu diesem Komplex „von einer sehr ausgeprägten Inkonsequenz“, bemängelt der frühere langjährige Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE und heutige Seniorprofessor. „Viele sprechen das Problem an, scheuen aber vor konkreten Entscheidungen zurück. Politiker und ADAC sowie Ärzteverbände fürchten ganz offensichtlich, dass sie bei der zahlenmäßig immer größer werdenden Klientel der älteren Menschen in Ungnade fallen können und dadurch Zustimmung verlieren.“ Es sei ihm klar, „dass das ein sensibles Thema ist“, betont der Rechtsmediziner. „Aber es muss endlich mal Klartext geredet werden.“ Eine Konkretisierung der Bestimmungen müsse auf Bundesebene erfolgen.
Nach Überzeugung von Püschel gibt es inzwischen „ganz eindeutige Daten, die nachweisen, dass ab 75 Jahren die Verkehrseignung relevant abnimmt“. Selbstverständlich gebe es Ausnahmen, also biologisch vergleichsweise jung gebliebene Ältere. „Aber viele Krankheitssymptome nehmen im Alter zu, beispielsweise Herzerkrankungen und Diabetes“, erklärt der Rechtsmediziner. „Sehkraft und Hörvermögen lassen nach, es gibt motorische Defizite und verlangsamte Reaktionsfähigkeit. Nicht wenige Menschen werden dement. Die demografische Entwicklung vor Augen, rollt hier buchstäblich ein gewaltiges Problem auf uns zu.“
Das Argument von manchen Verbänden, dass Senioren statistisch gesehen gar nicht besonders häufig an Verkehrsunfällen beteiligt seien, greife nicht, sagt der Fachmann. Es reiche nicht aus, die Zahl der Alten gegenzurechnen gegen die polizeilich registrierten Unfälle. „Es geht nicht nur um Häufigkeit von Unfällen, sondern um das Setzen der Ursache. Und als Unfallverursacher steigt die Anzahl der Menschen jenseits der 75 relevant an.“
Püschel verweist auf von älteren Menschen verursachte Verkehrsunfälle, die er selber rechtsmedizinisch untersucht hat. So wie der folgenschwere Verkehrsunfall in der Hamburger City im Jahr 2010, als ein Autofahrer zu schnell aus einer Parklücke fuhr. Zwei Menschen wurden schwer verletzt, und ein vier Jahre alter Junge starb. Spätere Analysen ergaben, dass der 74 Jahre alte Autofahrer deutlich zu viel Gas gegeben hatte. Dadurch hatte das Fahrzeug unangemessen beschleunigt. Und insbesondere bei den Verkehrsunfällen an der Waitzstraße, auf die Bezirksamtschefin von Berg Bezug nimmt, gilt überwiegend als Ursache, dass Senioren Gas und Bremse verwechselt haben.
Wohl schon jeder habe wiederholt ältere Menschen im Straßenverkehr beobachtet, so Püschel, „bei denen er den Wunsch hatte, dass er diesem Autofahrer nicht in einer unübersichtlichen Situation selbst begegnet oder dass ein Kind über die Straße läuft“. Die zunehmende Unfallhäufigkeit zeige, dass es „einen dringenden Handlungsbedarf gibt, die Fahreignung von Seniorinnen und Senioren regelmäßig zu überprüfen“, betont der Fachmann. „Ich bin mir bewusst, dass ich selbst zu den Alten gehöre“, erklärt der 70-Jährige. „Deswegen nehme ich die sogenannten Rückmeldefahrten, also Kontrollfahrten mit Fahrlehrer, seit meinem 65. Lebensjahr wahr.“
Unfälle in Hamburg: Fahrlehrer-Initiativen können helfen
In Hamburg gebe es „die sehr nützliche Initiative der Fahrlehrer, um die Verkehrseignung im Alter zu kontrollieren und zu verbessern“. Dies werde aber viel zu wenig wahrgenommen, meint der Rechtsmediziner. Es müsse eine systematische, verpflichtende Kontrolle der Verkehrseignung geben.
„Ich möchte ganz besonders die Rolle der Ärzte ansprechen, die als äußere Beobachter und Gutachter am ehesten die nachlassende geistige Spannkraft und die körperlichen Unzulänglichkeiten ihrer Patienten feststellen“, erklärt Püschel. Es gebe „wissenschaftliche Arbeiten, dass entsprechende Aufklärungsaktivitäten der Ärzteschaft hervorragend geeignet sind, die Unfallfrequenz bei älteren Menschen herabzusetzen“. Einerseits könnten Mediziner sehr gezielt Aktivitäten und Trainingsprogramme empfehlen und begleiten, mit denen ihre Patienten länger fit gehalten werden, „auch im Sinne von Verkehrseignung!“
Zudem habe sich gezeigt, dass allein die Aufklärung über die Anforderungen im Straßenverkehr und die eigenen Einschränkungen bei älteren Menschen zu einem vorsichtigeren und besser angepassten Verkehrsverhalten führten. Dies sei letztlich auch „ganz im Sinne der Patienten, dass diese nicht Gefahr laufen, Unfälle und Schäden zu verursachen, insbesondere Verletzungen anderer Menschen und natürlich auch bei sich selbst.“
Aus seiner Erfahrung als Rechtsmediziner sei es „außerordentlich bedrückend, dass ich in Prozessen vor dem Strafgericht immer wieder ältere Menschen erleben muss, die im Straßenverkehr die Übersicht verloren und unerklärliche Unfälle verursacht haben – und die von ihrer körperlichen Konstitution her nicht mehr hätten fahren dürfen. Eine sehr bittere Erfahrung ist: Viele aus dem Umfeld haben das geahnt oder gewusst, zum Beispiel Nachbarn, Freunde, Verwandte. Sie haben aber keinen Zugang gefunden, diesen Autofahrer zum Aufgeben der Teilnahme am Straßenverkehr zu bewegen.“
Püschel nimmt auch die Autohersteller in die Pflicht
Darüber hinaus ist Püschel der Meinung, dass Fahrzeuge unbedingt besser auf die psychischen und motorischen Fähigkeiten älterer Menschen abgestimmt werden müssten: also mit einfachen Schaltungen und einfachem Display sowie mit Sicherheitssystemen, die körperliche Ausfallerscheinungen ausgleichen und registrieren und dann auch zu Warnmeldungen führen.
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Angesichts des demografischen Wandels nehme das Problem der schwindenden Fahreignung von Senioren „absehbar zu“, betont Püschel. „Es geht mir nicht darum, ältere Menschen von der Mobilität auszuschließen – im Gegenteil. Es geht mir darum, dass tatsächlich Schaden von den Älteren ferngehalten wird, durch Verletzungen oder ein schlechtes Gewissen, wenn etwas passiert ist. Für einen alten Menschen mit einer großen Lebensleistung ist es ein ganz besonderes Erschrecken und Schuldgefühl, wenn er aufgrund seiner Uneinsichtigkeit andere verletzt hat, zum Beispiel ein Kind.“