Hamburg. Der Direktor der Vier Jahreszeiten und der Chef der Hanse Lounge sprechen über das, was für sie gute Umgangsformen ausmacht.

Sind gute Umgangsformen wichtig? Ist Knigge noch zeitgemäß? Kann man Stil lernen? Oder haben Gentlemen alter Schule à la James Bond ausgespielt? Zum Jahreswechsel 2022/2023 widmen wir uns heute mal nicht den Klassikern der guten Vorsätze (Abnehmen, Sport treiben, Haus renovieren), sondern der Frage, wie man es im neuen Jahr mit der Etikette zu halten gedenkt.

Knigge: Gute Umgangsformen ist immer noch gefragt, sagen die Experten

Denn tatsächlich sind gute Umgangsformen immer noch gefragt, vor allem, wenn man auf dem gesellschaftlichen Parkett nicht peinlich ausrutschen will. Das Abendblatt arbeitet deshalb bereits an einem 108 Seiten starken Knigge-Magazin (es erscheint Mitte Februar) – und hat in diesem Zuge auch zwei absolute Profis getroffen, die uns hier vorab schon einmal ihre Sichtweise zum Thema darlegen.

Das Fachgespräch führen wir mit zwei stadtbekannten Herren, die sich mit ­Manieren, Wertschätzung und Respekt ­bestens auskennen: ­Michael Kutej, ­Geschäftsführender Gesellschafter der Hanse Lounge am Neuen Wall, und Ingo C. Peters, seit mehr als 25 Jahren Direktor des Hotels Vier Jahreszeiten. Der Ort der besonderen Begegnung passt ins Bild: Es ist der Jahreszeiten Salon des Fünf-Sterne-Hauses am Neuen Jungfernstieg.

Hamburger Abendblatt: Herr Kutej und Herr Peters, was machen Sie mit einem Gast, der bekleidet mit weißen Socken und Badelatschen bei Ihnen zum Essen erscheint?

Ingo C. Peters: Wir würden ihn freundlich darauf hinweisen, dass sein Auftreten nicht unserem Dresscode entspricht. Es könnte sich nur um einen Hausgast handeln. Sonst käme ja niemand auf diese Idee.

Michael Kutej: Unser Dresscode ist vorgegeben und bekannt. Für Einzelfälle hängen Jacketts zum Ausleihen bereit. Grundsätzlich gilt die Faustregel: Je größer die Bedeutung des Gastes, desto unkomplizierter ist er.

Michael Kutej legt bei sich das Knigge-Buch aus und ist als Trainer aktiv.
Michael Kutej legt bei sich das Knigge-Buch aus und ist als Trainer aktiv. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Was ist aus Ihrer Sicht eigentlich schlimmer: Schlabber-Leggins zu tragen oder ein erkennbar zu kurz geratenes T-Shirt über der Plauze?

Kutej: Beides grauenhaft. In der Praxis unserer Lounge kommt weder das eine noch das andere vor. Hin und wieder wird eine Tischreservierung abgesagt, wenn Gäste von Clubmitgliedern nicht angemessen gekleidet sind.

Peters: Wenn Damen im Sommer bauchfrei erscheinen, muss das nicht unbedingt schmeichelhaft aussehen. Wenn sie durch das Hotel gehen, würden wir nichts sagen. Wenn sie Platz nehmen möchten, schon.

Ist Knigge noch aktuell?

Kutej: Absolut. Gutes Benehmen kommt niemals aus der Mode. Man ist lieber mit Menschen zusammen, die sich anständig zu verhalten wissen. Rüpel mag keiner.

Peters: Ein Hotel ist nur so gut wie seine Gäste. Hin und wieder sind gute Manieren ein bisschen ins Hintertreffen geraten. Wir geben uns alle Mühe, dass der Stil gewahrt bleibt. Es geht keinesfalls ausschließlich um Kleidung, sondern um Etikette und Umgangston.

Knigge weiter aktuell: "Zeitgemäße Umgangsformen sind ein Weg zum Erfolg"

Sollen Ihre Mitarbeiter das Werk des Adolph Freiherr Knigge von 1788 lesen?

Peters: Unser Hotel führt von jeher ein Büchlein mit Regeln, die ständig aktualisiert werden. Es umfasst etwa 50 bis 60 Seiten und ist praktisch unser eigener Knigge. Und unsere Seminare „Knigge für Kids“ sind seit 25 Jahren ein Dauerbrenner. Ursprünglich wollten wir junge Leute ans Hotel binden. Irgendwann folgte die Frage: „Haben Sie auch Kurse für Erwachsene?“

Kutej: Knigges Buch „Über den Umgang mit Menschen“ liegt bei uns aus. Wir ­sprechen regelmäßig über die Aktualität des Themas. Es geht um Wertschätzung, Achtung und Respekt. Zeitgemäße Umgangsformen sind ein Weg zum Erfolg – beruflich wie privat. Seit drei Jahren bieten wir entsprechende Kurse für den Nachwuchs unserer Mitglieder und für Mitarbeiter an.

Ingo C. Peters führt ein Büchlein mit Regeln, die ständig aktualisiert werden
Ingo C. Peters führt ein Büchlein mit Regeln, die ständig aktualisiert werden © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Ist heutzutage erlaubt, was gefällt?

Kutej: Viele denken das; aber es ist nicht richtig. Bei Knigge geht es nicht darum, wie man das Essbesteck richtig hält, sondern um die Geisteshaltung. Wenn man einer jungen Dame aus dem Mantel hilft, kann sie das natürlich auch selber machen. Doch darum geht es überhaupt nicht. Gutes Benehmen muss anlass- und adressatengerecht sein, keine Selbst­darstellung.

Peters: Sehe ich ebenso. Seit etwa fünf Jahren beobachten wir eine Renaissance. Gute Manieren sind angesagt. Ganz einfach: Alles was rar ist, gewinnt an Wert.

"Kultivierte Bekleidungsgeschäfte erleben eine neue Blüte"

Bietet der Zeitgeist denn noch Freiraum für Gentlemen alter Schule? Oder hat der Typus James Bond ausgedient?

Peters: Ganz im Gegenteil: Er kommt wieder. Angemessenes Verhalten und ein respektvoller Umgang miteinander sind das Gegenteil von verstaubt und altbacken. Kultivierte Bekleidungsgeschäfte wie Ladage & Oelke erleben neue Blüte. Ich würde niemals vor einer Dame durch die Tür laufen, sondern diese aufhalten. In der Regel erntest du ein Lächeln.

Kutej: Ingo hat vollkommen recht. Es gibt so viele kleine Beispiele, seinen Mit­menschen Achtung zu zollen. Ich bin gerne mit Leuten zusammen, die sich gut benehmen. Das fängt im Kleinen an und hat mit Show nichts zu tun.

Apropos Kleinkram: Wohin denn nun mit der Serviette nach dem Essen?

Kutej: Nicht zerknüllen, nie auf den Teller.

Peters: Falten und danebenlegen.

Darf man Kartoffeln mit dem Messer schneiden?

Peters: Kein Problem. Und bemerkt man ein Knochenstück im Mund: bitte so zurück auf den Teller, wie es kam. Also auf der Gabel. Möglichst mit Serviette vor dem Mund, den Knorpel auf dem Teller ein wenig überdecken.

Kutej: Und Brot wird mit der Hand gebrochen und dann stückchenweise mit Butter bestrichen.

Machen Kleider Leute?

Verstanden. Kann man Stil lernen?

Peters: Bei meinen Großeltern musste ich früher mit einem Besenstil im Rücken am Mittagstisch sitzen. Wegen der geraden Haltung. So etwas ist natürlich passé. Gut so. Früher wusste ich eine Menge nicht. Das folgte während der Hotellehre. Pi mal Daumen würde ich sagen: 90 Prozent habe ich mir so angeeignet.

Kutej: Selbstverständlich kann man sich beraten lassen, beispielsweise in Kleidungsfragen. Ein Schneider kann einem die Kleidung auf den Leib schneidern. Ich kann mich vier Stunden in die Lobby des Vier Jahreszeiten setzen – und eine Menge mitbekommen. Oder beim Essen die Basics erlernen. Getreu der Weisheit: Speise zu Hause wie beim Kaiser, dann speist du beim Kaiser wie zu Hause.

Machen Kleider Leute?

Kutej: Wir geben oder bekommen immer nur einen ersten Eindruck. Und der ist gut oder eben nicht. Später ist er schwer zu korrigieren. Manche geben sich zu wenig Mühe für diesen entscheidenden Moment. In der Regel erkennt man im Nu, wen man vor sich hat.

Man kann auch in Jeans gut gekleidet sein

Wie denn?

Kutej: Viele Details ergeben ein Gesamtbild. Zum Beispiel: Wer ein Glas mit Stiel anfasst am Bauch, ist stillos und ein Lauch.

Peters: Als Lehrling brachten mir die älteren Kollegen bei: Achte zuerst aufs Schuhwerk. Und im Restaurant flüstere ich bisweilen zu mir selbst: Oh, mein Gott! Da setzt sich einer als Erster hin, rücksichtslos, und fängt sofort an zu essen.

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  • Kutej: Kenne ich ebenfalls. Ich denke dann: Schade, dass denen das nie jemand beigebracht hat. Man erkennt auf Anhieb, ob jemand ein Blender ist. Oder ob er sich in seiner Kleidung wirklich wohlfühlt.

    Peters: Man kann auch in Jeans gut gekleidet sein. Alles eine Frage der Umgebung und der Persönlichkeit. Wir entwickeln einen Blick für Feinheiten. Man erkennt, ob die Uhr einen Tick zu dick ist, die Brille ein bisschen zu viel Lack aufweist, der Anzug eine Ecke zu fein ist. Letztlich ist es schwer möglich, sich zu verstecken. Das ist besonders in Stresssituationen spürbar. Gerade in solchen Situationen zeigt sich, wer ein wahrer Gentleman ist.

    Was geht gar nicht? "Weiße Socken und Sandalen"

    Was nervt Sie im Alltag am meisten?

    Peters: Egoistisches Verhalten. Vor einer Dame durch die Tür gehen. Oder eben am Esstisch auf den Stuhl flegeln und loslegen. Oder dem Gegenüber bei der Begrüßung nicht in die Augen zu gucken.

    Kutej: Das Weinglas nicht am Stiel anzufassen, wie gesagt. Den anderen ständig zu unterbrechen. Und zu denken: Der Lauteste ist der Wichtigste oder Wohlhabendste.

    Peters: In Asien habe ich das Zuhören gelernt. Meine eigenen Geschichten kenne ich ja. In Warteposition kann ich am besten lernen.

    Kutej: Man hat einen Mund, aber zwei Ohren.

    Bei aller Toleranz: Was geht gar nicht?

    Kutej: Weiße Socken und Sandalen. Zu freizügig gekleidete Frauen. Körpergeruch.

    Peters: T-Shirt in Kombination mit kurzer Hose und Flipflops.

    Wann wird ein Handy zum Problemfall?

    Peters: Manche Leute sind gnadenlos, legen im Restaurant ihr Mobilteil neben Messer und Gabel. Und brüllen durch den Raum, teilweise sogar mit eingeschaltetem Lautsprecher.

    Kutej: Direkt auf den Tisch gelegt wird das Handy zum Proletenbesteck des 21. Jahrhunderts. Oft sind die Eltern schlimmer als ihre Kinder. Dabei ist die Sache unkompliziert: Am Tisch gehört das Smartphone in die Tasche.

    Benehmen sich Hamburger besser als Berliner?

    Existieren in puncto Benehmen regionale Unterschiede? Verfügt der Hanseat über ein besseres Benehmen?

    Kutej: In der Tat gibt es gewaltige Unterschiede. In Hamburg hat man es seit Generationen gelernt, Besitztümer nicht zu zeigen, besser zu verstecken. Im Großen und Ganzen ist Berlin viel lauter. Mehr Show bei weniger Substanz.

    Peters: Stimmt, Michael. Unterschiede sind enorm. Der Münchener kommt eine halbe Stunde zu spät, erzählt vom Urlaub auf seiner Yacht. In Düsseldorf zeigt man, was man hat. In Köln war ich bei einer Veranstaltung, bei der die Gäste mit dem Bürgermeister Karaoke sangen. Unvorstellbar bei uns.

    Hand aufs Herz: Verschlug es Ihnen im Job schon einmal die Sprache?

    Peters: Als Auszubildender im Nachtdienst. Ich war um drei Uhr morgens auf dem Weg, um eine Bestellung für den Zimmerservice zu servieren. Und eine schrille Frau mit rotem Ledermantel, darunter splitternackt, öffnete mir die Tür.

    Kutej: Als junger Kellner in einem Berliner Hotelrestaurant. Als ich mich erkundigte, ob ich für die Gäste noch etwas tun könne, reichte mir einer seine Brille: bitte putzen. Es war kein Spaß. In mir hat es gebrodelt. Aber ich habe geputzt. Mein Chef riet mir damals, einfach drüber wegzugucken. Und meine Würde zu wahren.