Hamburg. Julian Petrin sucht nach versteckten Perlen. Der Leiter des Büros Urbanista für Stadtentwicklung berät Kommunen deutschlandweit.
Wenn es um die Zukunft von Städten geht, kommt sein Name ins Spiel. Wenn Freiburg Zukunftsszenarien für 2040 entwickelt, Paderborn den Masterplan für sein Zukunftsquartier sucht oder Hamburg beim Bauforum über die Magistralen von morgen diskutiert, Julian Petrin ist mit dabei. Er ist Gründer, Leiter und Partner von Urbanista, einem führenden Büro für Stadtentwicklung und urbane Zukunftsstrategien.
In diesen Tagen blickt der 54-jährige Hamburger aber etwas ratlos auf die Gemengelage: „Derzeit fällt Optimismus schwer. Es ist ernüchternd, wie langsam wir oft bei der Umsetzung von Veränderung vorankommen, etwa beim Klimawandel. Bei der Bändigung des motorisierten Individualverkehr planen wir große Schritte, kommen aber nur zentimeterweise voran und trippeln manchmal sogar zurück.“ Ihn erschrecke, dass man nicht einmal in Ottensen 50 Meter Straße rechtssicher sperren kann. „Wie wollen wir dann die großen Fragen in den Griff kriegen?“, fragt Petrin.
„Städte werden nicht an Attraktivität verlieren"
In den Abgesang auf die Metropolen stimmt der studierte Stadtplaner allerdings nicht mit ein. Eine Flucht aufs Land, in die Natur sieht er nicht. „Natürlich gibt es das Phänomen – aber das gab es schon vor Corona. In gewissen Lebensphasen drängt es Menschen hinaus ins Grüne, sie wollen einen Garten für die Kinder.“ Daraus sollte man keinen Megatrend ableiten. „Städte werden nicht an Attraktivität verlieren. Denn sie sind die Orte, an denen die Musik spielt.“ Viele der Stadtflüchtigen zögen zudem nur wegen der überhöhten Preise fort: „Wenn wir das in den Griff bekommen, wird die Preisflucht wieder abnehmen.“
In diesem Zusammenhang sieht er die Rückgänge am Immobilienmarkt als Chance. Insgesamt nennt er die Preisentwicklung „ambivalent“. Denn zugleich erlahme die Bautätigkeit. Die Ziele der Stadt, jährlich 10.000 Wohnungen zu errichten, seien ernsthaft gefährdet. „Unter den derzeitigen Bedingungen ist es für die Bauindustrie extrem schwierig zu planen und zu bauen. Viele Projekte sind momentan auf Pause gestellt. Das ist bedenklich in einer Stadt, in der wir in vielen Segmenten eine Wohnraumknappheit haben.“
Urbanista mit Sitz im Weltkulturerbe Sprinkenhof hat den Markt im Blick. Das Büro für strategische Stadtentwicklung setzt zu einem frühen Zeitpunkt im politischen Prozess an. „Wir beginnen, wo Politik und Verwaltung nach Orientierung suchen, die Dinge noch fließen, wo sich noch nicht alles verfestigt hat.“ Die Arbeit ist laut Petrin nicht einfacher geworden in einer Zeit, „in der jedes Jahr eine neue Zukunft auf uns hereinkracht“. „Wir versuchen, die Städte ein bisschen dabei zu trainieren, reaktionsfähig zu bleiben.“
Schwierige Lage der Innenstädte ist eine wiederkehrende Aufgabe
Eine wiederkehrende Aufgabe ist die schwierige Lage der Innenstädte: „Wir arbeiten momentan viel in Kommunen, in denen die Probleme noch viel größer sind als in Hamburg. Unsere Innenstadt hat zwar im Bereich der klassischen Shoppinglagen Probleme, in anderen Teilen funktioniert sie noch ganz gut.“ Insgesamt litten Einkaufsstraßen allerorten unter ihrer Monokultur. Viele Citylagen haben sich rein auf den Einzelhandel beschränkt und in den zurückliegenden Jahrzehnten andere Nutzungen verdrängt.
Diese Monofunktion rächt sich in Zeiten des wachsenden Internet-Handels. „Wenn wir darüber reden, wie wir Innenstädte attraktiver machen, müssen wir an das Geschäftsmodell der Innenstadt-Immobilie heran.“ Es gebe heute Renditeerwartungen in City-Lagen, die nur sehr wenige Marktakteure mitgehen könnten. „Und das sind oft die, die wir als Ketten nicht mehr cool finden.“
"Eine wahre und gute Stadt sollte eine Bandbreite von der schrabbeligen Nische bis zum Palast haben"
Wie in anderen Innenstädten habe in Hamburg ein Umdenken hin zu mehr Nutzungsmischung begonnen, sagt Petrin. Sorge macht ihm aber eine hausgemachte Entwicklung: „Es ist gewagt, mit dem Überseequartier eine Art zweite Innenstadt anderthalb Kilometer südlich der Mönckebergstraße zu bauen. Es gab einmal das Versprechen der HafenCity, der Innenstadt keine Konkurrenz zu machen. Nun kommt es anders.“
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Noch bleibe unklar, ob sich eine Synergie zwischen den beiden Zentren ergeben wird oder sich die Krise der Innenstadt verschärft. Bessere Verbindungen seien wichtig, würden aber allein nicht reichen. „Das ist eine Distanz, die selbst in heimeligen Städten ambitioniert ist.“ Petrin erwartet, dass die Quartiere eine unterschiedliche Klientel anziehen werden. „Das Überseequartier richtet sich stärker auf Besucher der Stadt aus als die Mönckebergstraße.“
Insgesamt bewertet er das ambitionierte Stadterweiterungsprojekt positiv, wenngleich sich die HafenCity noch setzen müsse. „Noch fehlt ein wenig das Nischenhafte, das Kleine, das Unfertige. Eine wahre und gute Stadt sollte eine Bandbreite von der schrabbeligen Nische bis zum Palast haben.“ Diese Bandbreite sei in der HafenCity etwas zu klein, könne sich aber entwickeln.
Funktionierende Innenstadt stehe auf mehreren Beinen
Eine funktionierende Innenstadt stehe auf mehreren Beinen, sagt der Stadtentwicklungsexperte: Dazu zählt Petrin den Handel, das Arbeiten, das Wohnen, die Kultur. „In Hamburgs Innenstadt wird zu wenig gewohnt. Wir haben zwar das Thalia Theater, die Oper und das Bucerius Kunst Forum. Aber die Kunstmeile ist schon an den Rand gerückt. Die Gräben, die man überwinden muss, sind zu groß.“
Petrin fasst es zusammen: „Die Beine, auf denen die Innenstadt steht, sind ein bisschen schwach und dünn.“ Die Politik sei gefordert, die richtigen Anreize zu setzen: „Die Innenstadt ist die ,Tagesschau‘ der Stadt. Die City ist Abbild von gesellschaftlicher Mitte, ein Ort mit der größtmöglichen Bandbreite von Lebensstilen, Milieus und sozialen Gruppen. Ihre Entwicklung ist eine öffentliche Aufgabe.“
Leider sei diese Funktion verloren gegangen, weil viele Gruppen die Innenstadt nicht mehr interessant finden oder sie unbezahlbar geworden sei. Die City müsse bunter und vielfältiger werden – vor diesem Hintergrund lobt er die Idee der Zwischennutzungen. Derzeit sind Künstler und Kreative in leer stehende Geschäfte eingezogen und bespielen auch das frühere Karstadt-Warenhaus.
Insgesamt wünscht sich Petrin mehr Mut zur Veränderung
So sieht er Potenzial für Nachnutzungen und Aufwertungen der Kaufhäuser und verweist auf Beispiele aus Oldenburg und Lünen – oder dem dänischen Aarhus. Auf dem Dach des Kaufhauses Saaling ist ein spektakulärer Dachgarten entstanden, eine Treppenlandschaft in 25 Metern Höhe, mit Bar, Café, Lounge und Meerblick. „Es sind oft kleinere Städte und kleinere Kaufhäuser, die sich erfolgreich transformieren lassen.
Dabei sollten wir das Thema Handel nicht komplett ausblenden, sondern anders denken, etwa als Manufaktur, wo Herstellung, Präsentation und Verkauf zusammenfallen. Es sollte nicht nur ums Kaufen geht, sondern auch ums Erleben, Erfahren, ums Mitmachen.“ Kaufhäuser blieben aber mit ihren Gebäudetiefen, den endlosen Etagen und schwierigen Zugängen keine einfachen Gebäude, insbesondere wenn es um das Wohnen geht. „Da stellt sich oft die Frage, ob sich ein Umbau wirklich lohnt.“
Insgesamt wünscht sich Petrin mehr Mut zur Veränderung und Lust auf Experimente – auch in der Stadtgesellschaft. „Mir hat einmal ein dänischer Planer gesagt: Die Veränderung ist unser Geschäftsmodell, das exportieren wir.“ Das Neue sei in Dänemark oder Holland nie schlecht oder ein Risiko, sondern etwas Lustvolles, Faszinierendes. „Das dürfte eine Generationenaufgabe werden, sich an Innovation als etwas Gutes zu gewöhnen. Hierzulande ist für viele Menschen Veränderung problembehaftet; sie haben Angst, etwas zu verlieren.“
Seit Langem kämpft Petrin für das Konzept der Stadtrendite
Seit Langem kämpft Petrin für das Konzept der Stadtrendite, die Investoren stärker in die Pflicht nimmt und einen sogenannten Social Return einfordert. Wenn Städte Flächen vergeben, sollte zugleich die Frage beantwortet werden, was die Gemeinschaft und die Kommune zurückbekommen. „Das ist auch ein Teil von Stadtentwicklung. An wen vergeben wir Grundstücke und was haben wir als Stadt davon?“ Zwar unternehme die Stadt schon recht viel, es sei aber Luft nach oben.
Petrin und sein Büro organisieren seit Jahren Bürgerbeteiligungen – 2009 hat er das international beachtete Labor Next Hamburg auf den Weg gebracht. „Damals haben wir Methoden erproben und Dinge ausprobieren können, die heute Standard sind.“ 20 bis 25 Prozent dieser Ideen wurden später aufgegriffen und umgesetzt, sagt Petrin stolz. So hätte man vor 13 Jahren die intensivere Nutzung der Dächer vorgedacht, die heute selbstverständlich sei. „Schon damals hat uns beschäftigt, wie man Hafen und Stadt besser zusammendenken kann. Das ist das dickste Brett für Hamburg. Da ist Bewegung reingekommen, aber noch nicht genug.“
Besonders begeistert Petrin das Projekt „Verborgene Potenziale“
Beteiligungsprozesse sieht er inzwischen differenzierter als zum Start von Next Hamburg, als man sogar auf Facebook diskutierte. „Die Ergebnisse können verzerrt werden: Leute, die am liebsten alles ändern würden, sind in vielen Prozessen überrepräsentiert – wie übrigens auch Konservative, die alles verhindern wollen.“ Oft stünden sich diese Lager unversöhnlich gegenüber. Insgesamt gehe es darum, nach dem Reden auch ins Handeln zu kommen. „Wir haben sehr intensiv diskutiert, wie Hamburg im Jahr 2030, 2040, 2050 aussehen soll. Aber letztlich wollen die Menschen Veränderungen vor Ort erleben und sie mitgestalten.“
Petrin macht eine gewisse Beteiligungsmüdigkeit aus: „Da sage die Menschen: Fragt uns nicht schon wieder, jetzt macht das mal.“ Als eine Konsequenz werde der Beteiligungsprozess heute vertieft. Er nennt als Beispiel den Wohnungsbau auf dem Beiersdorf-Gelände zwischen Unna- und Quickbornstraße in Eimsbüttel. Hier konnten sich die Bürger bei der Planung der 1000 Wohnungen in einem sehr frühen Prozess einbringen und Teil der Jury werden.
Besonders begeistert Petrin das Projekt „Verborgene Potenziale“, das die Stadt mithilfe von Bundesförderung umsetzt. „Da sind alle eingeladen, die unentdeckten Räume der Innenstadt aufzuspüren“, sagt er. „An vielen Orten machen wir noch nicht genug aus den Innenstadt – vor allem aus den Wasserflächen.“
Der Urbanist verweist auf eine kleine Terrasse am Mönkedammfleet, das sich vom Adolphsplatz zum Alten Wall schlängelt. „Das ist ein wunderbarer Ort mit dem Wasser und der U-Bahn, die aus der Tiefe kommt. Warum gibt es da kein kleines Café oder einfach nur Sitzmöbel, von denen aus man die Züge oder das Wasser beobachten kann? Aus diesen kleinen Nischen können wir mehr herauszukitzeln. Und davon hat Hamburg sehr viele.“
Fünf Fragen
- Meine Lieblingsstadt … ist für einen Stadtplaner schwierig zu beantworten. Ich könnte fast einen Reiseführer meiner Lieblingsstädte herausgeben. Es gibt aber ein paar Metropolen, die vieles richtig machen. Kopenhagen wurde schon mehrmals in diesem Podcast genannt. Es gibt aber auch andere Städte: Aarhus zum Beispiel entwickelt sich im Windschatten von Kopenhagen manchmal noch smarter. Die Nummer zwei in Dänemark hat eine wunderbare Innenstadt mit innovativen neuen Quartieren. Auch Antwerpen hat in den letzten zehn Jahren einiges von großen Kulturprojekten bis hin zu einer filigranen Stadtentwicklung richtig gut gemacht.
- Mein Lieblingsstadtteil ist, Achtung Klischee, Ottensen. Aus Stadtentwicklungsperspektive ist das Viertel ziemlich perfekt, weil trotz aller Gentrifizierung der Stadtteil eine gewisse Rauheit und Buntheit bewahrt hat. Wir müssen daran arbeiten, dass solche bunten Flecken in Hamburg bunt bleiben.
- Mein Lieblingsplatz ist zum Beispiel der Rosengarten in Ottensen, den ich sehr empfehlen kann. Das ist ein kleines Stückchen Grün oberhalb von Neumühlen, wo man wunderbar den Kontrast zwischen dem bürgerlichen, dem modernen und dem industriellen Hamburg erkennt. Ein weiterer Lieblingsort, den ich auch aus planerisch strategischen Gründen wichtig finde, ist der Platz bei den Musicaltheatern auf Steinwerder. Auf der Südseite der Norderelbe müsste noch viel mehr passieren.
- Mein Lieblingsgebäude liegt in der Gaußstraße. Dort steht ein kleines Gebäude komplett aus Sichtbeton. Das werden viele nicht kennen. Aber es zeigt, wie man abseits von Klinker cool bauen kann. Hamburg hat viele gelungene Orte und Plätze, ein tolles Wohnzimmer wie die Binnenalster, da geht einem das Herz auf. Faszinierend finde ich den Radweg, der von den Deichtorhallen nach Rothenburgsort führt. Da unterquert man die Eisenbahnbrücken, passiert diese alte 50er-Jahre-Tankstelle und den Brandshof – ein tolles Spannungsfeld.
- Einmal mit der Abrissbirne ist auch schwierig zu beantworten. Natürlich müssen wir noch hin und wieder etwas abreißen. Wir lügen uns sonst in die Tasche. Es gibt ein paar Dinge, über die ich mich ärgere, etwa das Hotel auf dem Eckgrundstück an der Budapester/Simon-von-Utrecht-Straße. Da hätte man doch etwas Passenderes für St. Pauli entwickeln können. Manchmal ist es schon verwunderlich, wie wenig zeitgemäß manche Investoren bauen. Das hat auch mit Marktkräften zu tun, die sich nur schwer bändigen lassen.