Hamburg. Abgesehen vom „Stern“ stehen wohl alle Magazintitel des geschluckten Verlags zum Verkauf. Brosda appelliert an Bertelsmann.

Der Sehnsuchtsort für Journalisten lag Jahrzehnte am Hamburger Hafen, und es war kein Zufall, dass er mit seiner Optik an ein Schiff erinnerte. Wer es zu Gruner + Jahr am Baumwall geschafft hatte, war ein glücklicher Mensch, und das nicht nur, weil er von seinem Büro aus zum Beispiel die Elbe oder den Michel sehen konnte. Der Verlag zahlte in der Spitze zwar nicht ganz so viel wie Axel Springer („Bild“, „Welt“), und die politische Bedeutung des „Spiegels“, an dem er beteiligt war, erreichte er auch nicht.

Aber die Atmosphäre im Haus, die journalistischen Freiheiten und Möglichkeiten und den Zusammenhalt beschrieben die, die das alles erleben durften, als einmalig. Gruner + Jahr war für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Herzensangelegenheit, und das merkte man Titeln wie „Stern“, „Gala“, „Brigitte“, „Geo“ und „Schöner Wohnen“ an, die das Hamburger Unternehmen mit vielen anderen Magazinen zwischenzeitlich zum größten Zeitschriftenverlag Europas werden ließen.

Gruner + Jahr: Enttäuschung und Wut am Hafenrand

Das Gebäude am Baumwall gibt es immer noch, aber die einzige Sehnsucht, die wenn überhaupt zu spüren ist, ist die nach der guten alten Zeit. Ansonsten lassen sich die Gefühle der Menschen, die hier arbeiten, eher mit Worten wie Enttäuschung und Wut beschreiben, manchmal auch mit Verzweiflung. Denn Gruner + Jahr existiert nicht mehr, und das, was davon übrig geblieben ist, also vor allem die bekannten Magazine, will Eigentümer Bertelsmann loswerden, am besten gleich im ersten Quartal des neuen Jahres.

Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, dass bis auf den „Stern“ nahezu alles zum Verkauf stehe, was am Baumwall geschrieben und produziert wird, erste andere Verlage würden bereits auf Titel wie die „Brigitte“ bieten. Es soll um Beträge zwischen 50 und 100 Millionen Euro gehen.

"Beispiellose Kaskade geplatzter Versprechen“

Wahrscheinlich werden die, die bei „Brigitte“ und bei anderen ehemaligen Gruner+Jahr-Magazinen arbeiten, froh sein, wenn sie anderswo eine neue Heimat finden. Denn das, was sie in den vergangenen Monaten nach der Fusion mit RTL Deutschland und unter ihrem neuen Chef Thomas Rabe erlebt haben, war „eine beispiellose Kaskade geplatzter Versprechen“, um es mit den Worten des Medienjournalisten Roland Pimpl zu beschreiben.

Oder passt diese Einschätzung aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ noch besser? Die schreibt: „Man kann dem Bertelsmann-Chef Thomas Rabe nicht vorwerfen, beim Ausradieren des Gruner+Jahr-Verlags übertriebene Sentimentalität an den Tag zu legen. (…) Jetzt muss er nur noch die alten Magazine loswerden.“

Wie konnte Gruner + Jahr derart marginalisiert werden?

Was ist da passiert? Wie konnte Gruner + Jahr, das doch eigentlich zusammen mit RTL Deutschland ein neues, großes und starkes Medienhausunternehmen bilden sollte, innerhalb von zwölf Monaten derart marginalisiert werden? Und waren die Ankündigungen zu Beginn des Jahres, als eine Fusion der beiden Häuser „auf Augenhöhe“ kommuniziert wurde, gelogen?

Bertelsmann-Chef Thomas Rabe.
Bertelsmann-Chef Thomas Rabe. © picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, landet bei Thomas Rabe, der seit 2012 Chef von Bertelsmann ist, und dann schnell auf dessen Twitter-Account. Der verrät deutlich mehr über den Spitzenmanager, als es die wenigen Interviews tun, die er gegeben hat. Rabe ist wie Bertelsmann Meister einer Kommunikation, aus der man kaum etwas herauslesen kann.

Rabe will in allem, was er tut, schneller, besser und größer werden

Auf Twitter ist es etwas anderes, dort sieht man ihn wechselweise als CEO und als Sportler, mal im legeren Business-Outfit, mal in Trainingsanzug oder kurzer Hose. Die Botschaft ist aber immer dieselbe: Dies ist der Account eines Hochleistungsmenschen, der diszipliniert und ehrgeizig ist, und dem es vor allem um Zahlen geht. Am 2. Juli postet Rabe Bilder von sich beim „Brixen/Bressanone Dolomites Marathon“ und schreibt: „After 6:32 hours, I made it to he 96th place this time! 15 minutes faster than last year!“ Zu einer Teilnahme am Berlin-Marathon schrieb er einmal: „Marathon in 3:48 hours, my personal best time!“

Wenn man nach einer Zahl sucht, der Thomas Rabe bei Bertelsmann nachläuft, findet man sie 2013: Damals kündigte er an, den Umsatz des Unternehmens auf mehr als 20 Milliarden Euro schrauben zu wollen. Der Vorstandsvorsitzende will in allem, was er tut, schneller, besser und größer werden, und deshalb arbeitet er so, wie er arbeitet.

Und das, so erzählen es Menschen, die ihn gut kennen, mit einer Präzision und Entscheidungskraft, die „schon beeindruckend“ sei. Rabe wird als kluger, kompetenter Manager beschrieben, aber auch als ein Getriebener, der im Zweifel die Führung von Tochterunternehmen, bei denen es nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, an sich reißt. Gruner + Jahr war nach dem Zusammengehen mit RTL Deutschland so ein Unternehmen.

Mit Stephan Schäfer rückte ein Mann aus Hamburg an die Spitze

Die kurze Geschichte der Fusion sei, so sagt es eine ehemalige Führungskraft, voll von falschen Versprechungen, die sich am Anfang des Jahres noch so gut angehört hatten. Damals hatte Rabe die Kombination der Stärken von RTL Deutschland und Gruner + Jahr als große Chance verkauft, gerade für die Zukunft der etablierten Magazine. Und tatsächlich sah es so aus, als meine der Bertelsmann-Chef es ernst damit, als habe er nicht vor, das „alte Printhaus“ Gruner + Jahr abzuwickeln.

Stephan Schäfer rückte an die Spitze des neuen Unternehmens.
Stephan Schäfer rückte an die Spitze des neuen Unternehmens. © Klaus Knuffmann | KLAUS KNUFFMANN

Im Gegenteil: Mit Stephan Schäfer, der kurz zuvor die ausgeschiedene Julia Jäkel als Gruner+Jahr-Chef abgelöst hatte, rückte ein Mann aus Hamburg an die Spitze des neuen Unternehmens, der bisherige RTL-Chef Bernd Reichart musste für viele überraschend weichen. Das war nicht die einzige gute Nachricht, die es für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Gruner + Jahr gab, die dem Zusammengehen mit RTL („das passt doch weder inhaltlich noch kulturell“) skeptisch gegenüberstanden. Schäfers Kollegen und enge Vertraute Oliver Radtke und Frank Thomsen bekamen in der neuen Firma ebenfalls herausgehobene Posten, zwischenzeitlich wirkte es so, als werde künftig die Hamburger Fraktion bei RTL Deutschland den Ton angeben.

Schäfer musste von einem Tag auf den anderen gehen

Doch das täuschte, und wie sehr, zeigt sich allein daran, dass keiner der genannten drei Männer am Ende des Jahres 2022 mehr da ist. Stephan Schäfer, den Thomas Rabe für den Job des Co-CEO (zusammen mit Matthias Dang) ausgesucht hatte und der einen Teil der Magazine („Barbara“), die jetzt verkauft werden sollen, selbst erfunden hat, musste im Sommer von einem Tag auf den anderen gehen. Denn Rabe hatte jemanden gefunden, dem er die Führung von RTL Deutschland eher zutraute – sich selbst.

Gut eine Woche nach dem Wechsel hatte er seinen ersten großen Auftritt bei der RTL-Sommerparty am Baumwall und schrieb dazu auf Twitter: „Ich freue mich sehr auf die Arbeit mit meinen neuen Kollegen.“ Das war am 25. August und muss für die Kollegen, die damals dabei waren, heute zynisch klingen. Denn für viele wird der Mann, der sich so auf sie freute (und der nach einer Stunde wieder von der Party verschwand), im Lauf des Jahres 2023 nicht mehr ihr Chef sein.

Die Enttäuschung bei den Mitarbeitern war riesig

Zwei Tage vorher, am 23. August, waren in der Hamburger Zentrale die Schilder ausgetauscht worden, ein Vorgang, den der Mediendienst Kress wie folgt beschrieb: „Statt dem grünen G+J-Logo prangt nun am Baumwall in Rot, Blau und Grün ein RTL-Logo. ‚An diesem Morgen hatten viele Kollegen und Kolleginnen Tränen in den Augen‘, sagte eine altgediente Redakteurin.“ Die Enttäuschung war riesig, was sicher auch daran lag, dass Thomas Rabe in den Monaten davor immer wieder davon gesprochen hatte, dass der Name Gruner + Jahr und der Standort Hamburg sakrosankt seien, daran werde sich nichts ändern. Wörtlich hatte der Bertelsmann-Chef gesagt: „Gruner + Jahr bleibt in Hamburg. Hauptsitz und Namen tasten wir nicht an.“

Das mit dem Namen hat sich erledigt, die Sache mit dem Hauptsitz wohl auch. Erstens, weil Magazine wie „Gala“, „Geo“ oder „Brigitte“ bald nicht mehr zu RTL Deutschland gehören werden. Zweitens, weil Bertelsmann frühere Pläne, ein neues Hauptquartier in der HafenCity zu bauen, längst abgesagt hat. Im Gebäude am Baumwall ist man nur noch Mieter, den Komplex hatte Gruner + Jahr an den amerikanischen Konzern Tishman Speyer verkauft. Übrigens nachdem man sich zuvor eigentlich mit der Stadt Hamburg geeinigt hatte, dass sie die Immobilie übernimmt – ein Geschäft, das wieder rückgängig gemacht wurde, weil die Amerikaner bereit waren, deutlich mehr zu bezahlen als der Senat. Was Thomas Rabe, siehe oben, natürlich freute.

Die G+J-Teile, die stark wachsen, hat sich Bertelsmann längst einverleibt

Hamburg hat in den vergangenen Jahren viel dafür getan, dass Gruner + Jahr der Medienstadt erhalten bleibt, Thomas Rabe soll das Bürgermeister Peter Tschentscher persönlich zugesagt haben. Aber natürlich hat er nicht gesagt, was vom Verlag übrig bleibt … Die G+J-Teile, die stark wachsen, hat sich Bertelsmann längst einverleibt, zuallererst Applike, eine Firma, die mehr als eine halbe Milliarde Euro wert ist und die Thomas Rabe der Weitsicht des ehemaligen Digital-Chefs Arne Wolter zu verdanken hat, der ebenfalls nicht mehr im Unternehmen ist.

Als die Fusion von G+J und RTL Deutschland bekannt gegeben wurde, war Applike allein mehr wert als der Rest des Verlages. Die Geschichte des Start-ups, das innerhalb eines Konzerns so groß werden konnte, zeigt aber, genauso wie etwa der Erfolg von chefkoch.de, dass Gruner + Jahr durchaus aus sich heraus und digital wachsen konnte.

Gruner + Jahr: Die Chefin Julia Jäkel trat 2021 von ihrem Amt zurück

Davon wird jetzt Bertelsmann auf dem Weg zu seinen Umsatzzielen profitieren, der Rest ist Geschichte. Gruner + Jahr gibt es nicht mehr, weder auf Schildern noch in den Köpfen, und es ist erstaunlich, dass man, um es mit der „FAZ“ zu sagen, eine Medienmarke so schnell und radikal „ausradieren“ konnte. Auf der Strecke bleiben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bis zuletzt gedacht haben, dass es Thomas Rabe ernst meint mit seinen Ankündigungen vom Anfang des Jahres.

Julia Jäkel, die erste Frau an der Spitze von Gruner + Jahr, gehörte nicht dazu. Sie erkannte offenbar früh, was der Chef in Gütersloh vorhatte, und trat 2021 von ihrem Amt zurück, weil sie das nicht mitmachen wollte. Jäkel hätte die Magazine, die aus Gruner + Jahr das gemacht haben, was es war, niemals verscherbelt.

Gruner + Jahr-Chefin Julia Jäkel trat 2021 von ihrem Amt zurück.
Gruner + Jahr-Chefin Julia Jäkel trat 2021 von ihrem Amt zurück. © Roland Magunia / Funke Foto Services | Roland Magunia

„Sie wollte das Herz des Verlags nicht verkaufen, die großen Zeitschriften, den klassischen Journalismus. Trotzdem wollte sie einen modernen Verlag“, schrieb die „Zeit“ in einem Porträt über Jäkel und zitierte sie so: „Es geht um die Finanzierung von Qualität, egal ob das Geld nun mit digitalen Inhalten oder Gedrucktem verdient wird. Wir wollten nicht das eine gegen das andere ausspielen.“

Gruner + Jahr: Brosda appelliert an RTL

Am Freitag schaltete sich Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) in die Debatte ein. Er appellierte an Rabe, den Verkauf der Zeitschriftentitel zu überdenken: „Die Titel des ehemaligen Hauses Gruner + Jahr stehen für eine publizistische Erfolgsgeschichte, die es dringend zu bewahren gilt“, sagt der SPD-Politiker. Und weiter: „Wer Verantwortung für ein Medienhaus trägt, übernimmt damit nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und öffentliche Verantwortung. Ich hoffe daher sehr, dass die einmalige journalistische Tradition des Hauses nicht nur nach aktuellen Marktgegebenheiten und den Interessen des Fernsehsenders RTL bewertet wird.“

Brosda macht den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Hamburg Mut: „Die starken publizistischen Marken von ‚Stern‘ über ‚Geo‘ bis ‚Brigitte‘ stehen für sich und besitzen nach wie vor eine große Kraft. Wir unterstützen jeden, der sie in die Zukunft tragen will.“