Hamburg. Gruner+Jahr ist jetzt RTL: Verliert das stolze Hamburger Verlagshaus nach seinem Namen auch seine Seele?

Wahrscheinlich werde ich mich nie an dieses Bild gewöhnen: Am Verlagshaus Baumwall prangen nicht mehr die Buchstaben G+J für Gruner und Jahr, sondern die von RTL. Über dem wunderbaren Schiff, das der Verlag einst mit seinem überschäumenden Selbstbewusstsein an der Elbe festgemacht hat, weht nicht länger die Fahne der vergangenen Jahrzehnte, sondern die von Radio Télévision Luxembourg.

Für viele Beschäftigte kam das Ausflaggen völlig überraschend – ein weiterer Nackenschlag. Eine Ära ist zu Ende gegangen. Was am Affenfelsen an der Alster begann und ab 1990 am Baumwall zum Wahrzeichen des Medienstandortes Hamburg wurde, es ist dahin. Hätte man vor 30 Jahren vorhergesagt, dass der Verlag als Tochter von RTL endet, hätte jeder diese Geschichte als Farce, als Tragödie, als Unsinn abgetan. Das alles ist es auch. Leider ist es wahr.

Gruner + Jahr war das Traumziel der Kreativen

Sie merken schon, hier schreibt ein Autor mit Herzblut, ein Betroffener. Stolz durfte ich als Student 1996 ein Praktikum am Baumwall absolvieren – zeitgleich mit einer Architekturstudentin, die ihre Zeit nutzte, um vier Wochen das Haus in Ruhe zu erkunden. Gruner + Jahr war nicht nur das Traumziel angehender Journalisten, sondern aller Kreativen. Da ich mich offenbar nicht sonderlich dämlich anstellte, haben sie mich angestellt. Ich kam an Bord des Journalistendampfers. Zugegeben: Es war die „Gala“. Ich war jung und brauchte das Geld.

Und wurde schnell heimisch: ein spektakulärer Bau, ein grandioses Betriebsrestaurant, die beste Kaderschmiede, glorreiche Feste auf lichtdurchfluteten Fluren. Wir lebten auf dem Sonnendeck des Journalismus. Der ganze Verlag atmete die Wertschätzung für das gedruckte Wort, und die Beschäftigten zahlten es ihm mit einer kolossalen Wertschöpfung zurück. Wir waren nicht stolz, Redakteure zu sein, wir waren stolz, G+J-Redakteure zu sein. Später ging ich dann doch.

RTL lebt immer noch von Dschungelcamp & Co.

Wer bis zum Aufstieg des Internets gute Zeitschriften verlegte, konnte sehr gutes Geld verdienen. Ob „Geo“, „Stern“, „Art“, „Capital“ oder „Brigitte“, hier bezogen Journalisten Stellung. RTL befasste sich damals vorrangig mit Stellungen – der Schmuddelsender aus Luxemburg feierte Erfolge mit Erika Bergers Sendung „Eine Chance für die Liebe“.

Das RTL des Jahres 2022 ist besser als das RTL der 1990er – aber die superdiverse Senderfamilie lebt eben immer noch von Dschungelcamp, „Deutschland sucht den Superstar“, der Nackedei-Kuppelshow „Love Island“ oder Bachelor und Bachelorette. Man muss sehr viel auf Bilanzen starren und sehr wenig von Journalismus verstehen, wenn man da große Synergien mit „Geo“, „Stern“ & Co. sieht.

Magazine sind nicht mehr die Rendite-Raketen

Nun gehört zur Wahrheit dazu, dass Magazine nicht mehr die Rendite-Raketen vergangener Tage sind. Das Internet hat die Branche umgewälzt. So wie die Quoten mit dem Privatfernsehen Einzug in die Fernsehwelt hielten, hat das World Wide Web mit kostenlosen News-Seiten das Geschäft vieler Magazine erschwert. Es dauerte eineinhalb Jahrzehnte, bevor die hoch bezahlten Medienmanager auf die Idee kamen, dass das Verschenken von Content keine ganz grandiose Geschäftsidee ist.

Zugleich haben zu viele das neue Medium nicht verstanden – wer wenn nicht die Wundertüte stern.de hätte zur ersten Adresse der Wundertüte WWW werden können? Zur Wahrheit gehört aber auch, dass G+J Pech gehabt hat. Die eigene gute Suchmaschine Fireball scheiterte am Aufstieg von Google. Dann begann der Abstieg und der Ausverkauf.

Gruner+Jahr fortan von RTL regiert

Einen Teil der Fehler haben Manager gemacht, die den Journalismus nicht genug liebten – den Rest Redaktionen, die ihre Rolle vergaßen. Journalismus, der bekehrt, ist verkehrt: Die „Geo“-Chefredaktion kam auf die Schnapsidee, „gendersensibel“ zu schreiben, und erntete Abbestellungen. Der „Stern“ veröffentlichte 2020 eine ganze Ausgabe „zusammen mit Fridays for Future“ – aber Leser bezahlen Journalisten wegen ihrer Unabhängigkeit. Flugblätter sind kostenlos. Inzwischen schämt man sich am Baumwall wegen Henri Nannens Kriegsbiografie sogar seines Gründers.

Irren ist menschlich. Bis heute bietet jeder „Stern“, jedes „Geo“-Heft, jede „Brigitte“ guten Journalismus. Viele machen hier mit Herzblut so bunte wie kluge Blätter. Nun segeln sie unter anderer Flagge. Gruner+Jahr wurde eingeholt. Fortan regiert RTL. Ich bin traurig.