Hamburg. Kirsten Boie, Michael Otto, John Neumeier und Udo Lindenberg trafen sich zum Talk mit Lars Haider. “Eine spezielle Panik-Familie.“
In einem gemeinsamen Auftritt im Rathaus haben vier Hamburger Ehrenbürger am Dienstagabend die Entwicklung der Stadt in den vergangenen Jahren gelobt, aber gleichzeitig angemahnt, dass man nicht stehenbleiben dürfe angesichts des demografischen Wandels, der Konkurrenz anderer Städte und der Krisen wie der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Schriftstellerin Kirsten Boie (72), Unternehmer Michael Otto (79), Ballettchef John Neumeier (83) und Musiker Udo Lindenberg (76) schilderten bei einem – bislang –einzigartigen Auftritt vor geladenen Gästen des Überseeclubs im Großen Festsaal ihre persönliche Sicht auf Hamburg und die Herausforderungen der Zukunft. Ehrenbürgerin Hannelore Greve konnte nicht teilnehmen.
Boie beklagte, dass Kinder aus einigen Quartieren – sie nannte Wilhelmsburg – noch nicht einmal den Hafen der Stadt gesehen hätten. Allerdings, sagte Boie, hätten sich die in Studien gemessenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Vergleich der Bundesländer deutlich verbessert, „obwohl die Bevölkerungszusammensetzung schwierig ist“. Boie spielte auf hohe Anteile von Migranten in einzelnen Stadtteilen an, wo es viele Kinder gebe, „deren Muttersprache bei der Einschulung nicht Deutsch ist“.
Hamburg: Ehrenbürger im Talk mit Lars Haider
Lindenberg hob das „große Denken in dieser Stadt“ hervor. „Think big, wir brauchen Utopien.“ Seine Ehrenbürgerschaft, um die er so lange, so still gebuhlt hatte, schien er mit einem Hohelied auf Hamburg förmlich zu umarmen. „Hamburg ist eine so offene Stadt, in der ich gerne lebe. Und ich bin überhaupt erst der zweite Musiker nach Johannes Brahms, der Ehrenbürger wurde.“ Lindenberg mahnte aber auch „mehr Frauenpower“ an und kritisierte aus der eigenen Branche die Gangster-Rapper, die sich frauenfeindlich und homophob gerierten.
Unternehmer Otto schrieb eine große Linie fort vom Hafen Hamburg als Logistikdrehscheibe zu einem Wirtschaftsstandort, in dem endlich auch die Wissenschaft eine Rolle spiele. „Wir haben Medizintechnik, die Wissenschaft und eine Start-up-Szene. Wir haben vier Exzellenzcluster, die Klimaforschung, das Desy. Im Laufe der Jahre ist Hamburg außerdem eine international anerkannte Kulturmetropole geworden. Das holt die besten Talente nach Hamburg.“ Das, so sagte er vor rund 600 Gästen im Rathaus, reiche aber nicht, wenn man die alternde Gesellschaft betrachte und die Probleme, vor denen sie stehe. „Man müsste eine Gesamt-Nachhaltigkeitsstrategie formulieren.“
Michael Otto: Wissenschaft top, Baustellen Flop
Otto hatte die Lacher auf seiner Seite, als er auf die Baustellen-Situation anspielte: „Die Abstimmung zwischen den Straßenbauten – da ist noch Verbesserungspotenzial.“ Gleichzeitig fragte er sich, wo die Reserven des Arbeitsmarktes sein können, wenn immer mehr Menschen in den Ruhestand gehen und zu wenige die bestehenden Jobs ausfüllen können. Otto sieht Reserven bei den Frauen, denen es häufiger ermöglicht werden müsse, Vollzeit zu arbeiten.
„Kinder sollten nachmittags nicht nur aufbewahrt werden, sondern sie sollten Pädagogen haben, die ihre Sprache fördern, ihnen die MINT-Fächer nahebringen.“ Otto forderte außerdem eine „gezielte Einwanderungspolitik wie Kanada, sonst werden wir nicht genügend Menschen haben, die auch in die Rentenkasse einzahlen“.
Was die Ehrenbürger von Kühnes Opern-Idee halten
Für den langjährigen Ballettchef Neumeier war die Diskussion um eine neue Oper, die Unternehmer Klaus-Michael Kühne angestoßen hatte, etwas befremdlich. Er verdrehte dezent die Augen, als Moderator Lars Haider (Chefredakteur des Hamburger Abendblatts) ihn danach befragte. „Ich glaube, wichtiger als Glass and Bricks (Glas und Ziegelsteine) sind die Menschen.“ Man könne nicht ein neues Haus bauen und denken, dadurch würde die Oper sensationell. „Der Mensch steht im Mittelpunkt.“
In einem spitzfindigen Satz sprach Unternehmer Otto von einem Unternehmer, der eine neue Oper vorschlägt, und einem, der sie bezahlt. Beide Milliardäre, Kühne wie Otto, haben als Mäzene große Summen in Projekte ihrer Heimatstadt gesteckt, ob in die Elbphilharmonie, die Medizin am UKE oder andere Projekte. Otto sagte zudem: „Ob eine Location am Ende der HafenCity ideal ist, darüber muss man nachdenken. Das ist noch nicht ausdiskutiert.“
Im Rathaus wurde selten so gelacht
Die launige Runde war voller Humor. Möglicherweise ist selten so oft (und so laut) im Festsaal des Rathauses von einer so hanseatischen Zuhörerschaft wie der im Überseeclub so herzhaft gelacht worden. Natürlich trug der Ehrenbürger-Joker Lindenberg dazu bei, aber eben auch Neumeier, Boie und Otto. Es hatte in kleinen Momenten einen Hauch von einer Show mit Otto, Udo, Johnny (das sagte er selbst) und Kirsten. Ottos kleine Spitzen gegen Kühne oder die von Übersee-Clubpräsident Michael Behrendt an den Moderator („Eine Zeitung, der Sie nahestehen“) würzten das Programm.
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Als Michael Otto Udo Lindenbergs Hut trug
Otto verriet, dass er gerne mal mit Udo tauschen würde, um zu sehen, „was da so abläuft beim Rock ‚n‘ Roll auf der Bühne.“ Udo verriet, dass er schon mal bei Otto gesungen habe. Den Hut allerdings, den echten von Udo, habe plötzlich der Unternehmer aufgehabt. Udo würde gerne mal John sein, um zu erfahren, wie man die Tanzschritte optimieren kann. „Man nennt mich ja die Nachtigall, aber auf der Bühne bin ich ‚ne Gazelle.“ John sagte, er könne sich nicht vorstellen, mit einem der Ehrenbürger zu tauschen. „Denn ich wäre nicht so gut wie sie.“
Kirsten Boie sagte, sie würde in keinem Fall mit Udo die Rollen wechseln. „Es wäre keine Freude, mich singen zu hören." Aber mit dem Unternehmer Otto, ja, da könne sie sich schon vorstellen, mal zu tauschen. Die Autorin hatte zuvor von ihrem Engagement für Kinder gesprochen. Es gebe nun mal Projekte, die ihr wichtig seien. Das koste aber alles viel Geld. Wenn sie mit Otto tausche, könne sie sich vielleicht dafür „ein bisschen was nehmen".
Überraschenderweise (für Beobachter) sind offenbar Übersee-Clubpräsident Behrendt und Lindenberg lange Freunde. Behrendt führte ein Video vor, das den Musiker zeigt, wie er der hanseatischen Institution zum 100. Geburtstag in diesem Jahr gratuliert. Ein Video, das Lindenberg extra produzierte. Er sang „Wozu sind Kriege da?“. Und der Udo grüßte vorher ganz herzlich den Michael mit einem der größten Komplimente, das er zu vergeben hat: „Ihr seid eine spezielle Panik-Familie.“
Zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Udo Lindenberg hat das Hamburger Abendblatt den Ehrenbürger-Eierlikör herausgebracht. Spannende Einblicke in den Überseeclub bietet das Magazin „100 Jahre Überseeclub“. Beides erhältlich in der Hamburger Abendblatt Geschäftsstelle am Großen Burstah.