Hamburg. In den 1990er-Jahren reisten Süchtige und Kleindealer aus ganz Deutschland nach Hamburg, um hier günstig Heroin zu kaufen.

Sein Name war so falsch wie sein Alter. Als am 21. Februar 1992 die Leiche eines angeblich 16-Jährigen am Kanzlerhofer Weg aus einem Graben gezogen wurde, war den Ermittlern schnell klar, dass es sich hier um eine Hinrichtung gehandelt haben muss. Das Opfer war einer der vielen jungen Kurden, die damals auf den Straßen Hamburgs im Auftrag der herrschenden Clans Heroin verkauften. Dieser angeblich 16-Jährige hatte auspacken wollen und sich als Kronzeuge der Polizei zur Verfügung gestellt, aber nicht ins Zeugenschutzprogramm gewollt. Deshalb musste er sterben.

Im neuen Podcast „Blaulicht“ erinnert Polizeireporter André Zand-Vakili an die 1990er-Jahre, die in Hamburg von extremer Drogenkriminalität geprägt waren. Aus ganz Deutschland reisten damals Süchtige und Kleindealer in die Hansestadt, um hier günstig qualitativ hochwertiges Heroin zu kaufen. In dieser Zeit wurde der Begriff „Wilhelmsburger Beutel“ geprägt, eine Portion von mindestens fünf Gramm der Droge.

Polizei Hamburg: Als Drogen und Tausende D-Mark-Scheine aus Fenstern flogen

Die Dealer waren oft junge Kurden, die sich als minderjährig ausgaben und damit wegen des Jugendstrafrechts vor allzu restriktiver Strafverfolgung weitgehend sicher waren. Die meisten kamen als „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“ nach Deutschland und entzogen sich damit der Verteilung auf andere Bundesländer. Zugleich bekamen sie in Hamburg schnell Unterkünfte, zogen oft in Jugendwohnungen. Manchmal dauerte es nur wenige Tage, bis sie hier ihre „Arbeit“ aufnahmen.

Berüchtigt war die Wohnunterkunft An der Hafenbahn auf der Elbinsel Wilhelmsburg. Vom Hauptbahnhof aus wurden die potenziellen Heroinkäufer dorthin gelotst. Als die Polizei die aus mehreren Wohngebäuden bestehende Unterkunft stürmte, flogen aus den Fenstern der Wohnungen portionierte Drogen und Tausende von D-Mark-Scheinen.

Hamburg war Hotspot der Drogenszene

Hamburg galt damals als Hotspot der Drogenszene – mit allen Begleiterscheinungen. Die Polizei verzeichnete 1992 in Hamburg mehr als 5200 Raubüberfälle. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor waren es 1462. Die Zahl der Kfz-Delikte, in der Regel Autoaufbrüche, stieg damals auf unfassbare 65.200 Taten an, heute sind es 10.664. Hauptziel der Täter waren Auto­radios, die gleich an Hehler verkauft oder gegen Heroin getauscht wurden.

Die Polizei reagierte mit zwei „Kurden-Sokos“: Sie konnte die Strukturen zerschlagen und die Hintergründe aufdecken. Es stellte sich heraus, dass drei Clans die Szene beherrschten. Als Statthalter fungierten drei ältere Herren, einer davon mit Kanarienvogel, die oft in geselliger Runde zusammensaßen. Die Clans verdienten Millionen mit dem Rauschgift, das als Opium aus Afghanistan in die Türkei kam, dort in Laboren in Heroin umgewandelt und dann über die Balkanroute nach Deutschland gebracht wurde. Das Geld wurde in kleinen Stückelungen in die Türkei transferiert. Auch diesen Job übernahmen zu einem großen Teil „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“.

Polizei Hamburg nahm Farid Ö. in Harburg fest

Damals gelang der Polizei die Festnahme von Farid Ö., der nach Hamburg angereist war, weil die Geschäfte „nicht rundliefen“. Beamte der Spezialeinheit nahmen ihn in Harburg fest. Der Mann schwor während seiner Haft Rache. Daraufhin wurde tagelang das Polizeipräsidium wie eine Festung abgeriegelt – aus Angst vor einem Bombenanschlag.

Heute hat sich die Szene deutlich verändert, schildert Zand-Vakili im Podcast, und benennt zwei Gründe: So ging die Polizei gezielt gegen die Clans vor. Heroin verlor zudem an Bedeutung. Kokain, damals Schickeriadroge, ist mittlerweile die meistkonsumierte harte Droge. Sie kommt aus Südamerika und wird von verschiedensten Gruppen gehandelt.