Hamburg. Unser Autor hat früher stets Urlaub genommen und kein Spiel verpasst – nun will er keines mehr schauen. Wie es dazu kam.
Als Donald Trump 2016 Präsident der Vereinigten Staaten wurde, war ich nicht mehr wirklich schockiert. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, dass Dinge, die völlig ausgeschlossen waren, doch eintrafen. Es war ja auch ausgeschlossen gewesen, dass die Briten für den EU-Austritt stimmen. Und wirklich total, völlig und ganz und gar ausgeschlossen war, dass die Fußball-WM an ein Land vergeben wird, das kleiner als Schleswig-Holstein ist und auch weniger Einwohner hat.
Und nun tue ich eben etwas, das Menschen, die mich kennen, für ausgeschlossen hielten: Ich ignoriere diese Weltmeisterschaft. Ich werde kein Spiel sehen, auch keine Ausschnitte, ich werde keine Spielberichte lesen, ich werde Kneipen wieder verlassen, falls dort Fußball läuft, und jedes Gespräch, das in Richtung WM driftet, mit den Worten beenden: interessiert mich nicht.
WM 2022: Vom Extrem-Fan zur Abstinenz – Ende einer Leidenschaft
Das an sich ist natürlich nichts Besonderes. Schließlich interessiert sich ungefähr halb Deutschland nicht für Fußball, ob er nun in Kiel oder Katar gespielt wird. Ich gehör(t)e aber zum harten Kern der anderen Hälfte. Ich war Spieler (Höhepunkt: Aufstieg in die Kreisklasse B mit dem SV Timmerhorn-Bünningstedt II), Schiedsrichter (Höhepunkt: „Heute hast du gar nicht mal sooo scheiße gepfiffen.“) und Jugendtrainer (frei von Höhepunkten). Vor allem aber war ich Konsument. Seit ich denken kann.
Meine erste Erinnerung datiert von 1974. Als die Bundesrepublik gegen Australien 3:0 gewann. Dem Siebenjährigen war erklärt worden, dass Australien auf der anderen Seite der Erde liegt. Also ziemlich weit weg. Die Spieler sahen aber genauso aus wie unsere, was ich enttäuschend langweilig fand. Im Gegensatz zur Mannschaft aus Zaire, deren Spieler sahen für mich wirklich nach ganz weit weg aus – und haben jedes Spiel furchtbar hoch verloren. Meine Sympathien für Underdogs haben da ihren Ursprung.
Weltmeisterschaften mit theatralischen Schiedsrichtern undexzentrischen Torhütern
Ich ließ den Fußball im Allgemeinen und Weltmeisterschaften im ganz Besonderen nicht mehr los. Ja, das deutsche Team stand schon im Fokus meiner Aufmerksamkeit, aber da war so viel mehr. Ich litt mit den Schotten, die immer so knapp in der Vorrunde scheiterten (bevor sie begannen es vorzuziehen, knapp in der Qualifikation zu scheitern); ich lernte Uruguay (und ihre wunderschönen Trikots) lieben, dieses kleine Land mit weniger Einwohnern als Berlin, das Fußball mit solchen Pathos zelebriert, dass ich Gänsehaut bekomme, schon wenn sie ihre Hymne singen; ich freute mich mit Kamerun und seinem 42 Jahre alten Torjäger, das 1990 als erstes afrikanisches Land ein Viertelfinale erreichte.
Ich hatte meinen Spaß mit theatralischen Schiedsrichtern, durchgeknallten Trainern, exzentrischen Torhütern und all den völlig chancenlosen Außenseitern, die mit sechs Toren hinten lagen, aber vor Glück ausrasteten, als sie das eine schossen.
Das Leben wurde um Fußballspiele herum organisiert
Dass ich Allesgucker war, versteht sich von selbst. Das andere Leben wurde um die Spiele herum organisiert. Und als ich Urlaub nicht mehr einfach machen konnte, sondern nehmen musste, da nahm ich ihn eben. Bei jeder WM. Irgendwann ging ich mit Freunden dazu über, ein Haus an der Ostsee zu mieten. Mit zwei Fernsehern, damit wir die parallel stattfindenden letzten Gruppenspiele gleichzeitig sehen konnten. Fußball total.
Und nun also der Entzug. Dass ich ihn machen würde, habe ich direkt nach der WM-Vergabe beschlossen. Die FIFA führte (und führt weiter) eine derart groteske Schmierenkomödie auf, die man jedem Drehbuchschreiber wegen fehlenden Realitätssinns um die Ohren gehauen hätte. Das größte Sportereignis der Welt in einem Wüsten-Zwergstaat, der sich bei der Abstimmung gegen die USA durchsetzt – das ist in etwa so, als ob sich bei der Vergabe der Olympischen Spiele Elmshorn gegen Paris durchgesetzt hätte ...
WM in Katar: Viele Gründe, die dagegen sprechen
In den vergangenen Wochen hat die Debatte um Katar erwartungsgemäß an Heftigkeit zugenommen. Und ja: Was die (seriösen) Kritiker ins Feld führen, stimmt ja auch alles. Katar als Staat ist ein – aus westlicher Sicht – absurdes Gebilde. Ein absolutistischer Staat, in dem der Emir ohne jede Kontrollinstanz regiert. Die Scharia ist laut Verfassung Hauptquelle des Rechtssystems. Und es gibt nur 300.000 Staatsbürger – aber 2,7 Millionen Zugewanderte, weitgehend ohne Rechte. Und auch wenn sich die Lage dieser Gastarbeiter in den vergangenen Jahren wegen der internationalen Aufmerksamkeit etwas gebessert haben mag, bleibt sie doch grauenvoll.
So sehr das alles Grund genug ist, diese WM abzulehnen, so sehr nervt aber auch die Scheinheiligkeit, mit der manche (Deutsche) nun argumentieren. Zum Beispiel die katarische Einstellung zu Homosexualität. Als die WM 2006 in Deutschland war (übrigens dank Schmiergeldzahlungen), da war es übrigens gerade einmal zwölf Jahre her, dass Homosexualität letztmals als Straftat in Deutschland verfolgt wurde; die Homo-Ehe war noch verboten, und Homophobie ist bis heute auch in diesem Land weit verbreitet.
Auch das traurige Schicksal Zigtausender ausländischer Leiharbeiter auf deutschen Baustellen und in deutschen Schlachthöfen sollte man schon bedenken, bevor die ganz große Moralkeule geschwungen wird. Vom in Doha um Gas bettelnden Wirtschaftsminister Habeck mal ganz zu schweigen ...
"Ich bin bekennender Fußball- und Sozialromantiker"
An meinem WM-Entzug ändert das nichts. Dass er mir (glaube ich) leicht fallen wird, hat aber noch andere Gründe. Ich bin bekennender Fußball- und Sozialromantiker und stelle seit Jahren eine Entfremdung fest. Vor einiger Zeit habe ich eine TV-Doku über die ersten Jahre im deutschen Profifußball gesehen.
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Da gab es eine Szene aus den späten 1960er-Jahren, in der ein Bergmann, noch schmutzig nach der Schicht, sich in schönstem Ruhrpott-Slang über einen lauffaulen Spieler aufregte: „Die Sau kriegt 2500 Mark im Monat, dafür muss ich drei Monate malochen, da soll er sich gefälligst den Arsch aufreißen.“ Echte Empörung, weil ein Fußballprofi dreimal so viel Geld verdient wie ein Arbeiter. Heute bekommen einige das Tausendfache. Doch derlei Obszönitäten regen kaum noch jemanden auf, man hat sich daran gewöhnt.
Fußballberichte im Sport- oder Wirtschaftsteil?
Ich bin mir bei Fußballberichten manchmal nicht mehr sicher, ob ich eigentlich den Sport- oder Wirtschaftsteil lese. Wenn von vielversprechenden Neuverpflichtungen die Rede ist, verspricht der Club sich zuerst viel Gewinn beim Weiterverkauf – sportliche Leistung scheint nur mehr Mittel zum Zweck.
Früher wurde ein Spieler als „Verräter“ ausgepfiffen, wenn er vor Vertragsende den Verein verlassen wollte. Heute gelten Spieler als Verräter, die nach Auslaufen ihres Vertrags den Club wechseln, weil dem Verein dann eine Ablösesumme entgeht – Vertragstreue ist mittlerweile geschäftsschädigend.
Statt WM 2022 lieber Oberliga Hamburg
Ganz ohne Fußball werde ich nie leben wollen. Auch jetzt nicht, und zum Glück spielt die Oberliga Hamburg auch während der WM. Bevor dann im Januar das Zittern um den Klassenerhalt weitergeht: am Millerntor. Und 2026, wenn die WM in den USA, Kanada und Mexiko stattfindet (zusammen übrigens 1850-mal größer als Katar)? Schaun mer mal.