Hamburg. Selten konnte das Land ein Erfolgserlebnis so gut gebrauchen wie 2022 – ich hoffe auf ein Wintermärchen.
Deutschland muss ein schreckliches Land sein. Wer in sozialen Foren unterwegs ist oder sich auf schlecht gelaunten Nachrichtenseiten tummelt, wird den Eindruck nicht los, dass der Untergang unmittelbar bevorsteht. Dort schafft sich Deutschland schon seit 2010 ab, den Absturz eines Superstars beklagen wir seit 2004. In vielen bildungsbürgerlichen Haushalten geben die Sarrazins und Steingarts den Sound vor. Bei Oswald Spengler geht das Abendland sogar schon seit 104 Jahren unter.
Die Apokalypse ist unsterblich. Und die Konservativen glauben fest daran. Dieser Tage hadern sie wieder mit der Politik, der drohenden Depression und beklagen den Kantersieg im Kulturkampf durch die Linke. Statt dagegen zu halten, gehen sie Golf spielen, fliegen zum Shoppen nach New York oder sinnieren gleich über das Auswandern.
Die Linken glauben an den Weltuntergang
Deutschland muss ein schreckliches Land sein. Das finden auch viele Linke. Früher glaubten sie an den Fortschritt und die Verbesserung der Welt, heute an den Weltuntergang. Die Endzeitsekte der „Letzten Generation“ klebt sich auf Straßen, hierzulande beklagt die Linke wachsende Armut, steigende Ungerechtigkeit, grassierenden Rassismus. Die Welt ist die Hölle – und hier ist die Zentrale. Keine Ungerechtigkeit vom Klimawandel bis zum Kolonialismus, an der die Deutschen nicht mindestens die Hauptverantwortung tragen.
Und eine immer größere werdende Heerschar von Beauftragten gegen Diskriminierungen aller Art, gegen Rassismus, Transfeindlichkeit, Homophobie oder Sexismus, findet – das ist im Übrigen Teil ihrer Jobbeschreibung – selbstverständlich immer neue Belege für die unhaltbaren Zustände im Land. Schade, dass Zeitreisen in die Vergangenheit physikalisch unmöglich sind: In den 80er-Jahren sah die Welt deutlich bitterer aus. Warum kann man Fortschritte nicht einfach mal feiern?
Aber zum Lachen und Feiern gehen die Deutschen schon seit Jahrzehnten in den Keller. So war es übrigens schon einmal vor einer Fußball-Weltmeisterschaft. Im Jahr 2005 – damals war Deutschland der kranke Mann Europas, beklagte 5,3 Millionen Arbeitslose und war notorisch schlecht gelaunt – starteten Werber, Medienunternehmen und Prominente die größte Social-Marketing-Kampagne in der Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie hieß „Du bist Deutschland“, warb für mehr Zuversicht und ein positiveres und lockereres Nationalgefühl.
Ob es an der 30 Millionen Euro schweren Kampagne lag, weiß man nicht genau – aber nur wenige Wochen nach dem Auslaufen der Kampagne erlebte die Bundesrepublik im Sommer 2006 ihr himmelblaues Wunder. Plötzlich fiel Millionen Deutschen auf, dass sie ganz anders sind, als sie immer dachten – unverkrampfter, fröhlicher, bunter, gastfreundlicher. Die deutsche Nationalmannschaft spielte sich in die Herzen der Fans. Und das gemeinsame Feiern brachte viele unterschiedliche Menschen in Kneipen, auf Fanmeilen und Sportfesten zusammen. Plötzlich überwog das Gemeinsame. Statt schlechter Laune bekam das Land in diesem Sommer eine Überdosis Zuversicht.
Wir könnten ein Wintermärchen gebrauchen
Genau das könnten wir wieder gebrauchen: nach dem Sommer- nun ein Wintermärchen. Natürlich passt eine Fußball-Weltmeisterschaft in ein Wüstenemirat wie Turmspringen ins Eismeer, natürlich sind die Bedingungen in Katar anders, als wir sie uns wünschen, und natürlich wird der Fußball von der Fifa auf furchtbare Weise verraten und verkauft. Aber wir neigen dazu, nur noch das Negative wahrzunehmen. Zur Wahrheit gehört auch, dass sich in Katar wegen der Weltmeisterschaft vieles zum Besseren gewendet hat. Die Kritik kommt im Übrigens zwölf Jahre zu spät – und wird nicht besser, wenn sie dafür jetzt um so lauter ausfällt.
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Sehen wir es doch mal positiv, auch wenn’s uns schwerfällt: Es spielen nun die besten Fußballer der Welt für ihre Nationalmannschaften, die Spiele versprechen auch unter der Wüstensonne Leidenschaft, Ästhetik, Dramatik. Und sie bieten etwas Zerstreuung in finsteren Zeiten. Vielleicht schenkt sie einem gespaltenen und übellaunigen Land ein paar gemeinsame Sternstunden. Kurz vor der WM 2006 ging die deutsche Mannschaft im Fiasko von Florenz gegen den späteren Weltmeister Italien mit 1:4 unter. Und es wurde trotzdem ein Sommermärchen. Die Italiener übrigens sind bei dieser WM nicht dabei – ob sie glücklicher sind?