Hamburg. Neues Verfahren gilt als klimaschonende Alternative zu Bestattungen. Experten haben Bedenken – Kirche und Behörden nicht.

Sie wurde als neue Bestattungsform und „Beitrag zum Klimaschutz“ gelobt: die Reerdigung. Mit ihr solle ein Toter binnen 40 Tagen vollständig zu Kompost verwandelt werden, ganz natürlich und damit gut für die Umwelt, wirbt das verantwortliche Unternehmen. Seit dem Frühjahr läuft im schleswig-holsteinischen Mölln ein Pilotprojekt. Und auch Hamburg setzt sich jetzt mit dem Prozedere auseinander und prüft, ob es hier zugelassen werden kann.

Ernsthafte Bedenken kommen unterdessen von Experten in Sachen Tod: Nach Überzeugung von führenden Hamburger Rechtsmedizinern kann „aus wissenschaftlicher Sicht eine Reerdigung als potenzielle Alternative zur Erd- und Feuerbestattung derzeit nicht befürwortet werden“.

Reerdigung: Experten äußern Zweifel an dem Verfahren

Diese Form der Bestattung werfe noch zu viele Fragen auf, meinen der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE, Prof. Benjamin Ondruschka, und sein Vorgänger als Chef-Rechtsmediziner, Prof. Klaus Püschel. Es fehlten „wissenschaftlich belastbare Informationen, welche allesamt für die Sterbenden und ihre Angehörigen tiefe ethische, religiöse und rechtliche Aspekte tangieren“. Es müsse sichergestellt werden, eine „Transparenz des neuen Verfahrens zu gewährleisten“, die sich nicht von „schönen Bildern“ und „moderner Kommunikation“ leiten lasse, sondern eine „auf klaren Fakten basierende Bewertung“ ermögliche.

Bei der Reerdigung, die das Berliner Unternehmen Circulum Vitae mit der Marke „Meine Erde“ entwickelt hat und in Deutschland etablieren möchte, wird ein Leichnam zwischen Stroh und Blumen gebettet und kommt in einen großen sargähnlichen Behälter; die Firma nennt das „Kokon“. Bei der Reerdigung würden „natürliche Prozesse mit moderner Technologie verknüpft“. Durch „natürliche Mikroorganismen“ und bei „dafür idealen Temperaturen“ werde der Körper zu einer Art Humus transformiert, heißt es.

Umweltbehörde prüft die Zulassung von Reerdigungen in Hamburg

Die beschleunigte Transformation sei nach 40 Tagen abgeschlossen. Vor der anschließenden Beisetzung werde die gewonnene Erde „verfeinert“, damit sich der Humus für neues Pflanzenleben eigne. Der Körper werde „eins mit der Natur“. Die Bestattungsform sei „würdevoll“ und „nachhaltig“, weil sie komplett CO2-neu­tral sei, wirbt die Firma. Deshalb eigne sich die Beerdigung als Alternative zur Erd- und Feuerbestattung. Nach der Beisetzung auf dem Friedhof der Wahl könne die Grabstelle direkt bepflanzt werden.

Ob Reerdigungen auch in Hamburg zugelassen werden, stehe nach Auskunft der Umweltbehörde noch nicht fest. „Wir befinden uns noch in der Prüfung“, sagte eine Behördensprecherin. Es gebe derzeit Gespräche zwischen einem Unternehmen, das diese Bestattungsform anbietet, dem Friedhof und der Umweltbehörde. „Es spielen in diesem Zusammenhang Arbeitssicherheit und hygienische Fragestellungen eine Rolle. Auch wäre eine Änderung des Bestattungsgesetzes erforderlich. All diese Aspekte sind noch nicht abschließend geklärt.“

Rechtsmediziner: Leichen können sich nicht in 40 Tagen zersetzen

Nach Überzeugung der Rechtsmediziner Ondruschka und Püschel gibt es etliche weitere Faktoren, die noch validiert werden müssen. So sei es aus fachlicher Sicht ausgeschlossen, dass sich ein menschlicher Leichnam innerhalb der von der Anbieter-Firma versprochenen 40 Tage vollständig zersetzen könne — zumindest nicht, wenn dies allein durch natürliche Prozesse geschehen soll. In diesem Fall würden beispielsweise relevante Teile des Knochengerüstes noch intakt bleiben.

„Welche anatomischen Strukturen bleiben übrig? Wie und mit welchem Gerät werden diese weiter behandelt (gemahlen, gemörsert, geschreddert?)“, fragen Püschel und Ondruschka und verdeutlichen mit diesen Beispielen gleichzeitig, was getan werden müsste, um beispielsweise Knochen effizient zu zerkleinern. „Was geschieht mit den metallischen Überresten von Implantaten (zum Beispiel Prothesen, Schrittmacher, Goldzähne)?“ wollen die Experten weiter wissen und stellen zahlreiche weitere Fragen, unter anderem: „Wie häufig und intensiv wird der ,Kokon‘ gedreht, bewegt?“

Reerdigung: Illegale Störung der Totenruhe?

Gerade dieser Aspekt sei unter ethischen, juristischen und strafprozessualen Gesichtspunkten relevant, schreiben die beiden Hamburger Experten in einem wissenschaftlichen Aufsatz, den sie gemeinsam mit ihrem Frankfurter Kollegen Prof. Marcel A. Verhoff für die älteste kriminalistische Fachzeitschrift, das „Archiv für Kriminologie“, verfasst haben. „Durch das wiederkehrende und andauernde Drehen des ,Kokons‘ sei eine mögliche Störung der Totenruhe zu prüfen, die in Paragraf 168 des Strafgesetzbuches geregelt ist.

"Ethische und religiöse Grundsatzfragen bleiben offen“, meint der Rechts­mediziner Klaus Püschel. © Roland Magunia/Funke Foto Services

„Noch ist außerdem nicht bekannt, wie die Reste aus dem ,Kokon‘ ins vorgesehene Grab übergeführt werden sollen.“ Ferner ergebe sich die Frage, „wie sichergestellt werden kann, dass naturschutzrechtlich sowie friedhofsrechtlich alle zur Reerdigung eingesetzten Materialien auf den Friedhof gelangen und nicht zuletzt keine pathogenen Erreger übrig bleiben“. „Definitiv überschritten wird zudem durch das 40-Tage-Intervall die gesetzliche Bestattungsfrist für Erdbestattungen“, so die Rechtsmediziner. Diese sei auf maximal neun Tage festgelegt.

Transparente Dokumentation liege nicht vor

Ein weiterer, kritisch zu würdigender Aspekt ist nach Überzeugung der Hamburger Experten, dass es bei einer Reerdigung, ähnlich wie bei einer Feuerbestattung zu „irreversiblem Substanzverlust des menschlichen Gewebes“ komme. Dies sei für kriminalistische Fragen wesentlich, etwa beim später auftauchenden Verdacht von Tötungsdelikten und Gifteinwirkungen, und deshalb sei vor einer Kremierung auch eine sogenannte zweite Leichenschau durch extra geschulte Experten vorgeschrieben.

Bei der Reerdigung werde offiziell berichtet, „dass nach 40 Tagen ,alles Erde‘ sei. Mitnichten!“, sagt Rechtsmediziner Benjamin Ondruschka.
Bei der Reerdigung werde offiziell berichtet, „dass nach 40 Tagen ,alles Erde‘ sei. Mitnichten!“, sagt Rechtsmediziner Benjamin Ondruschka. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services

„Unstrittig“ sei aus ihrer Sicht, schreiben Ondruschka und Püschel, „der unbedingte Bedarf einer zweiten Leichenschau vor jeder Alternative einer Erdbestattung“. Insgesamt monieren die Experten, dass eine wissenschaftliche Begleitung und eine transparente Dokumentation für die Reerdigung nicht vorliege.

Jasberg: "Klimaneutrale Alternative"

Jennifer Jasberg, Vorsitzende der Grünen-Fraktion Hamburg, steht dem Thema positiv gegenüber. „Der Umgang mit dem Tod und der verbundenen Trauer ist ein Thema, das uns letztlich irgendwann alle betrifft. Die neue Bestattungsform der Reerdigung passt gut zu den Herausforderungen unserer Zeit. Sie ist eine klimaneutrale Alternative zu den bisherigen Möglichkeiten der Erd- sowie Feuerbestattung“, sagte Jasberg dem Abendblatt.

Als moderne Großstadt sei „Hamburg der ideale Standort für die Einführung der Reerdigung als ergänzendes Angebot von Bestattern“. Aktuell werde auf Landes­ebene eine mögliche Gleichstellung der Reerdigung zu konventionellen Möglichkeiten bestattungsrechtlich geprüft. „Ich hoffe“, so Jasberg, „dass es bald losgehen kann und Hamburg als erstes Bundesland diese Bestattungsform anbietet.“

Nordkirche steht der Bestattungsform positiv gegenüber

„Eine Reerdigung stellt die derzeit innovativste, nachhaltigste und lebensbejahendste Bestattungsart dar“, sagt Pablo Metz. Er ist neben Max Huesch Geschäftsführer von „Meine Erde“. Auf deren Homepage heißt es „Wir geben Ihren Körper an die Natur zurück. Der natürliche Kreislauf schließt sich. So wird der Tod zum Anfang von etwas Neuem.“

Und die Nordkirche sagt: „Die Nord­kirche steht der neuen Bestattungsform, der ,Reerdigung‘, aufgeschlossen gegenüber und unterstützt ein entsprechendes Modellprojekt in Mölln“, erklärt ein Sprecher. „Dem Kirchenkreis ist es dabei wichtig, dass die Kirche diese Erprobung aktiv begleitet, indem sie sich Gedanken darüber macht, welche Form der Seelsorge bei dieser Bestattungsform hilfreich ist. Auch möchte man Neuem gegenüber aufgeschlossen sein und lernen, was diese neue Form der Erdbestattung für die Menschen bedeutet.“

Helber: Reerdigung ermögliche einen pietätvollen Abschied

Bei der Reerdigung würden die Über­reste eines Leichnams, nachdem dieser im „Kokon“ zersetzt wurde, in ein nur 30 Zentimeter tiefes Grab gelegt. „Darüber kommt eine Schicht Friedhofserde“, so der Sprecher der Nordkirche. „Die Reerdigung zahlt am Ende des Lebens auf den ökologischen Fußabdruck jedes Menschen mit ein. Im Vergleich zur Feuerbestattung wird circa eine Tonne CO2 eingespart.“

Carsten Helberg, Geschäftsführer der Hamburger Friedhöfe, hält das Thema Reerdigung „für überaus interessant, weil es neben der Grabbeisetzung und der Kremation eine sinnvolle Ergänzung für die Hamburgerinnen und Hamburger ist“, sagte Helberg dem Abendblatt.

„Bei der Reerdigung handelt es sich um eine nachhaltige, Ressourcen schonende Möglichkeit, die trotzdem einen pietätvollen Abschied ermöglicht. Wir haben bereits eine Beisetzung dieser Art auf dem Ohlsdorfer Friedhof gehabt. Und es gibt einen weiteren Graberwerb, der wahrscheinlich Anfang kommenden Jahres stattfindet.“

"Meine Erde" arbeite mit der Wissenschaft zusammen

Dieser positiven Reaktion steht die kritische Position der beiden wissenschaftlichen Experten, der Rechtsmediziner Püschel und Ondruschka, gegenüber. Vom Abendblatt damit konfrontiert, erklärte „Meine Erde“, man arbeite „mit Partnern aus dem Bereich der Wissenschaft und Forschung sowie spezialisierten Unternehmen“ zusammen. Es sei „in unserem großen Interesse, den Prozess der Reerdigung wissenschaftlich transparent zu begleiten“.

Wissenschaftliche Facharbeiten würden „in Kürze“ veröffentlicht. Zu einer zweiten Leichenschau habe sich das Unternehmen selber verpflichtet. Und beim Prozess der Beerdigung werde der ,Kokon‘ mit dem Leichnam nur „sehr sanft“ bewegt, sodass das die Totenruhe nicht beeinträchtige."

Detaillierter Ablauf der Reerdigung

In dem ,Kokon‘, der wärmeisoliert sei und über Anschlüsse mit Luft und Wasser versorgt werde, würden „optimale Bedingungen für die Mikroorganismen und damit auch für den Kompostierungsprozess“ geschaffen. Nach 40 Tagen sei die organische Materie „verstoffwechselt“. Metallische Gegenstände würden nun von „Meine Erde“ „aus der neuen Erde entnommen“, nach Möglichkeit recycelt und die Erlöse an wohltätige ortsansässige Organisationen gespendet“.

Außerdem seien kleinere Knochen „meist nicht mehr in ihrer ursprünglichen Struktur erhalten“. „Große Knochen wie Schädel oder Oberschenkel bleiben in der Regel erhalten.“ Sie würden dann „verfeinert“, informiert das Unternehmen und präzisiert später, dass damit „gemahlen“ gemeint sei. Dies geschehe allerdings auch bei einer Feuerbestattung, argumentiert „Meine Erde“.

Rechtsmediziner: Statt „zerschreddern“ sagt Anbieter „verfeinern“

Rechtsmediziner Ondruschka sagte auf Nachfrage: „Bei der Kremation sind die Knochen kalzifiziert und ,verascht‘, das heißt, sie fallen beim Kontakt in sich zusammen.“ Und: Bei der Reerdigung werde offiziell berichtet, „dass nach 40 Tagen ,alles Erde‘ sei. Mitnichten!“ Und was den Umgang beispielsweise mit Herzschrittmachern betreffe, sei dies „bisher nicht kommuniziert“ worden, „obgleich logisch,“ kritisiert Ondruschka. „Erneut: Das Mikrobiom zersetzt eben nicht alles, wie man es sich biblisch vorstellen möge.“

Rechtsmediziner Püschel ergänzt: „Nach dem Kremieren sind die Knochenfragmente sehr klein, haben keine biologischen Eigenschaften mehr, weil sie ausgeglüht sind.“ Bei der Reerdigung seien indes „offensichtlich größere Elemente oder Fragmente vorhanden. Das muss man deutlich kommunizieren“, fordert Püschel.

In der jetzigen Form widerspreche ein etwaiges Zermahlen oder Zerschreddern eines Schädels „dem Bestattungsgesetz, weil der Schädel nach dem Gesetzeswortlaut die Eigenschaften eines Leichnams hat“. Außerdem frage man sich, warum die Firma das Prozedere „mit schönen Worten umschreibt und nicht die Details der Abläufe offen schildert“. Es sei von „Humus“, „verfeinern“ der Knochen und „transformieren“ die Rede. „Man vermeidet ausdrücklich Worte wie ,zerschreddern‘.“

Püschel: Wie werden hygienische Aspekte berücksichtigt?

Auch die juristischen Aspekte seien nicht umfassend erfasst. Darüber hinaus liefere das Unternehmen nur „sehr fragmentarisch Daten“, meint Püschel. Außerdem monieren Ondruschka und Püschel, dass es nicht ausreichende Details über hygienische und mikrobiologische Abläufe gebe. Es fehlten Auskünfte über etwaige Luftmessungen beim ,Kokon‘, so über die Abluft, die da rausgehe, meint Püschel.

„Man fragt sich, wie bei der Begasung und Entgasung hygienische Aspekte berücksichtigt sind.“ Bei einer herkömmlichen Erdbestattung sei seiner Meinung nach die ökologische Bilanz im Vergleich zu anderen Methoden am besten, bilanziert Püschel. Die angeblich ausgewogene Klimabilanz bei der Reerdigung müsse durch eindeutige Messungen und Qualitätssicherung noch belegt werden.

Püschel versteht die Haltung der Kirche und der Behörden nicht

Außerdem könne er derzeit die religiösen Stellungnahmen der Kirche nicht verstehen, da die Prozesse nicht offen kommuniziert worden seien. „Ethische und religiöse Grundsatzfragen bleiben offen. Die hier vorliegende Stellungnahme spricht nicht dafür, dass man die Einzelheiten des Prozesses berücksichtigt hat.“ Ähnliches gelte auch für die Behörden in Schleswig-Holstein und Hamburg: „Man fragt sich, wie die Behörden die offenen Fragen beantwortet haben oder wie sie das in Zukunft berücksichtigen wollen.“