Hamburg. Die grausamen Spuren von Verbrechen in Wohnungen sind für Hinterbliebene kaum erträglich. Wie der Weiße Ring ihnen hilft.
Ein blutdurchtränkter Teppich. Spritzer an den Wänden und auf den Möbeln. Die Spur zieht sich durch die Wohnung. Beinahe jeder Raum ist rostrot gesprenkelt. Die Spuren sind eindeutig. Auch ein Laie kann daraus lesen, dass hier ein schwer verletzter Mensch versucht hat, seinem Mörder zu entkommen. Er hat es nicht geschafft. Auf dem Wohnzimmerteppich ist er zusammengebrochen — und gestorben.
Wenn Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Hamburg-Vorsitzende beim Weißen Ring, in eine solche Wohnung kommt, sieht sie die eindeutigen Spuren des Verbrechens. Sie erkennt aber vor allem auch, dass es eine unzumutbare Belastung für die Angehörigen des Verstorbenen wäre, ihn mit dem Blut und dem Chaos allein zu lassen.
Weißer Ring kümmert sich um die Opfer
„Die Hinterbliebenen sind ohnehin unter Schock, sie sind in Trauer. Sie müssen den Schmerz ertragen, einen geliebten Menschen plötzlich und durch eine Gewalttat verloren zu haben. Da brauchen sie in jeder Hinsicht Unterstützung — und das auch ganz praktischer Natur“, sagt Erichsen-Kruse. Deshalb kümmert sich die Hamburger Vizechefin der Opferschutz-Organisation darum, dass ein Tatort-Reiniger die Abdrücke des Grauens beseitigt.
Die optisch sichtbaren zumindest. Gegen die Spuren, die ein Verbrechen auf der Seele der Familie hinterlässt, kommt keine noch so potente Reinigungsaktion an. Hier helfen nur Zuwendung, Trost, Unterstützung.
Für all dies ist der Weiße Ring da, kümmert sich um die Opfer und die Hinterbliebenen, um eine psychologische Betreuung, um juristischen Rat, um bürokratische Notwendigkeiten, um finanzielle Hilfe. „Wir kriegen das Gesamtpaket“, fasst Erichsen-Kruse zusammen. „Wir betreuen die Familie, in jeder Hinsicht. Und wenn in einer Wohnung nach einem Verbrechen großer Handlungsbedarf ist, sehen wir zu, dass wir jemanden an Land ziehen, der das macht.“
Tatort-Reiniger putzen blutverschmierte Wohnungen
Ein Tatort-Reiniger also. Viele kennen diesen Beruf aus der gleichnamigen Serie mit dem genialen Schauspieler Bjarne Mädel. Tatort-Reiniger kümmern sich um Wohnungen, in denen Menschen zu Tode gekommen sind, sie gehen mit speziellen Mitteln gegen Insektenbefall vor, sie putzen verdreckte, blutverschmierte Matratzen, Teppiche, Möbel.
Also alles Arbeiten, die an die Grenzen gehen, die der Ästhetik und die der Belastbarkeit. Manche Betten oder Bodenbeläge sind auch mit den besten Reinigungsmitteln und der größten Mühe nicht mehr zu retten. Sie müssen dann als Sondermüll entsorgt werden.
Ob eine Wohnung, in der ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen ist, ein Fall für einen Tatort-Reiniger ist, entscheidet in Hamburg der Weiße Ring in Absprache mit der Mordkommission. Vor zwölf Jahren schon wurde bei der Opferschutzorganisation beschlossen, dass die Hinterbliebenen eines Gewaltverbrechens mit den oft gruselig zugerichteten Räumen nicht allein gelassen werden dürfen.
Weißer Ring übernimmt Gebühr für Tatort-Reinigung
„Damals haben wir verabredet, dass der Weiße Ring sich für die Tatort-Reinigung zuständig fühlt“, erzählt Erichsen-Kruse. „Es gibt Fälle, in denen die Mordkommission anruft und sagt, dass ein Tatort-Reiniger notwendig sei. Dann gehen wir hin, gucken uns die Wohnung an und bestellen die Experten.“ Je nach Aufwand müssen für so eine Tatort-Reinigung etwa 300 bis 1000 Euro bezahlt werden, die der Weiße Ring übernimmt.
Neben Erichsen-Kruse ist beim Weißen Ring Wolfgang Zumpe für diese besondere Aufgabe zuständig. Insgesamt haben die beiden ehrenamtlichen Mitarbeiter mehr als 25 Tatorte begutachtet und vor Ort entschieden, ob Möbel gereinigt werden können oder entsorgt werden müssen. Die Experten der Tatort-Reinigung beseitigen dabei nicht nur Blutspuren oder andere Rückstände eines Verbrechens.
Wolfgang Zumpe arbeitete bei der Mordkommission
Sie putzen auch beispielsweise weg, was die Spurensicherung bei ihrer Arbeit am Tatort hinterlassen hat, etwa das schwarze Pulver, mit dem Fingerspuren gesichert werden. Während die Profis der Tatort-Reinigung in ihren Schutzanzügen und oft mit speziellen Reinigungsmitteln putzen und wienern, sind Erichsen-Kruse beziehungsweise Zumpe dabei.
„Wenn man den Angehörigen eine Wohnung zumuten würde, wie sie von der Polizei nach ihrer Arbeit freigegeben wird, wäre das für die Hinterbliebenen eine zu große Belastung“, hat auch Wolfgang Zumpe immer wieder erfahren. Der Mitarbeiter des Weißen Ringes, der früher bei der Kripo und auch eine Weile bei der Mordkommission gearbeitet hat, hat entsprechende Erfahrungen mit Tatorten.
„Es gab eine Blutspur durch die ganze Wohnung“
Für den Weißen Ring kümmerte er sich beispielsweise zusammen mit einem Tatort-Reiniger um eine Wohnung in Marienthal, in der eine Frau im Jahr 2017 niedergestochen worden war. Das Opfer konnte auf den Balkon fliehen und überlebte. „Es gab eine Blutspur durch die ganze Wohnung“, erinnert sich Zumpe. „Der Tatort war noch abgeklebt, die nummerierten Spurenmarkierungen lagen noch da.“
In anderen Fällen, wenn es Tote gab, war früher noch die Kreide-Umrahmung zu sehen, wo der Leichnam gelegen hatte. Wenn die Profis mit ihren Putzmitteln da waren, ist die Wohnung sauber. „Wir erleben bei den Hinterbliebenen sehr häufig große Erleichterung, dass da jemand hilft“, erzählt Zumpe. „Und zugleich staunen die Menschen, wenn sie in die gereinigte Wohnung kommen und vom Tatgeschehen praktisch nichts mehr zu sehen ist.“
„Die Frau hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten"
Wie er selber mit der Belastung am Tatort umgeht? „Ich habe in meinem Beruf gelernt, mit Toten und dem Tod umzugehen“, sagt Zumpe. „Es geht immer darum zu helfen. Und viele der Angehörigen sind sehr dankbar.“ So beispielsweise der Vater, dessen Lebensgefährtin in einer Beziehungskrise versucht hatte, sich und das gemeinsame Kind zu töten. „Die Frau hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Es gab keinen Raum, der nicht mit Blut bespritzt war.“
Der Vater, der zwei Schwerstverletzte gefunden hatte, „war total durch den Wind. Er war später mit mir dabei, als drei Tatort-Reiniger ihre Arbeit gemacht haben.“ Der Mann habe sich von vielen Gegenständen trennen wollen. Dingen, die Erinnerungen auslösten, die zu belastend waren, um sie ertragen zu können.
Leichen erst nach einer Woche gefunden
Kristina Erichsen-Kruse wurde unter anderem in eine Wohnung im Hamburger Nordosten gerufen, in der eine Frau von ihrem Mann erstochen worden war. „Da war für den Tatort-Reiniger sehr viel zu tun, weil in mindestens drei Räumen Blutanhaftungen waren“, erzählt sie. Erichsen-Kruse begann mit einer Einschätzung, welche Möbel und Teppiche noch gesäubert werden können und welche entsorgt werden müssen. „Die Angehörigen waren einverstanden mit allem, was ich vorgeschlagen habe.“
Und in den Elbvororten wurde Erichsen-Kruse in eine Wohnung gebeten, in der ein Mann seine Frau erstochen und dann sich selber getötet hatte. Die Leichen wurden erst nach einer Woche gefunden, von der Tochter. „Das war für sie ein totaler Schock. Sie hatte sich zwar Sorgen gemacht, aber nicht geahnt, was wirklich passiert war.“
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Sie habe gelernt, sich „abzugrenzen“, erzählt die Stellvertretende Hamburg-Vorsitzende des Weißen Ringes. „Wenn in meinem Inneren ein Film ablaufen würde, was in dieser Wohnung wohl im Einzelnen geschehen ist, könnte ich das nicht machen.“ Die Abgrenzung bedeute aber nicht, dass sie nicht mitfühle, wie die Verstorbenen gelitten hätten. „Die Bilder bleiben, aber man verdrängt sie. Ich tue meine Arbeit auch für den, der getötet wurde.“
Weißer Ring: Hinterbliebene von Spuren oft überrascht
Erichsen-Kruse hat Hinterbliebene erlebt, die vor der Besichtigung dachten: „Es wird schon nicht so schlimm sein. Und dann sehen sie das Drama. Sie haben einen Film im Kopf, was sich hier abgespielt hat. Manche wollen nicht darüber sprechen. Und manche sagen: Ich habe jetzt erst begriffen, was passiert ist.“