Hamburg. Was ein Einsatz in einer Winternacht mit einer Obermeisterin aus Hamburg machte – und wie Kinder heute von den Folgen profitieren.
Dies ist eine dieser ganz seltenen Geschichten, von denen man lange nicht weiß, wie man sie überhaupt erzählen soll. Als die Geschichte einer Aktion der Hamburger Polizei, die Kindern, die zu Opfern werden, kleine bemalte Steine schenkt? Oder vielleicht als Geschichte, wie die Polizeiführung und unmittelbare Vorgesetzte mit Mitarbeitern umgehen, die infolge eines Einsatzes erkranken, der sie nicht mehr schlafen lässt und Angstzustände auslöst? Oder als die Geschichte einer Hamburger Polizistin, die an einem Einsatz beinahe zerbrochen wäre?
Aber der Reihe nach. Alles beginnt mit einem Anruf der Polizeipressestelle, in dem es um „Troststeine“ geht, um die Aktion „Glückssteine für Kinder“. Um handbemalte kleine Steine, mit denen jetzt jede Wache und jeder Einsatzwagen ausgestattet werden, um sie Kindern zu schenken. Kinder, die Opfer von Straftaten geworden sind, Opfer von Unfällen oder die als kleine Zeugen Dinge beobachtet haben, die sie nie hätten sehen sollen. Steine mit lustigen Motiven, handbemalt, bunt, die die Kinder erst einmal ablenken sollen von der schlimmen Situation. Und auf denen auch die Notrufnummer 110 vermerkt ist.
Vater bricht mit Baby im Eis ein: Fall wird für Hamburger Polizistin zum "Stolperstein"
Rückblende. Es ist der Abend des 25. Januar 2016. Nach etlichen frostigen Nächten ist es jetzt nicht mehr ganz so kalt. Die Temperatur steigt auch nachts wieder über null Grad. Kurz vor 23 Uhr geht an der Harburger Polizeiwache ein Notruf ein: Überfall am Lohmühlenteich. Das Opfer, ein junger Mann, hat sich mit Messerstichen schwer verletzt vor seinen Angreifern auf den zugefrorenen Teich gerettet. Doch das Eis hält nicht. Der junge Mann bricht ins eiskalte Wasser ein – und mit ihm sein wenige Monate altes Baby im Tragetuch.
Carmen Lamprecht eilt mit Dutzenden Kolleginnen und Kollegen hin. Viele von ihnen verfolgen – erfolglos – die Täter, andere kümmern sich um Vater und Tochter. Lia Sophie, die Neugeborene, wird später bundesweit zum „Baby aus dem Eis“. Ein Baby, das schon tot ist, als die Rettungskräfte Vater und Tochter aus dem Wasser ziehen. Die Kleine ist bedeckt von Matsch und Dreck, als die Ersthelfer mit der Reanimation beginnen. Mit jedem vorsichtigen Herzdruck treten Schlamm und Wasser aus Lia Sophies Ohren, aus Augen, Nase oder Mund.
Es sind diese Bilder, die die Einsatzkräfte lange nicht vergessen werden. „Ich habe sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen“, sagt die Polizistin heute. „Der Einsatz wird für Carmen Lamprecht zum Stolperstein“, sagt die Hamburger Polizei.
Zwei Wochen nach geglückter Reanimation stirbt Baby im UKE
Aus dem UKE kommt Stunden später die scheinbar erlösende Nachricht: Die Reanimation, begonnen in der Harburger Winternacht, ist gelungen. Es scheint gut auszugehen für Baby Lia Sophie und ihre jungen Eltern. Doch zwei Wochen später stirbt Lia Sophie ein zweites Mal – ohne dass es den Ärzten auf der Intensivstation der Uniklinik erneut gelingt, das Baby zurückzuholen. Die Folgen des Überfalls waren zu viel für die Kleine.
Und für Carmen Lamprecht. Die Polizei nimmt noch in der Nacht die komplette Schicht außer Dienst, schickt ein Kriseninterventionsteam nach Harburg. Einige Monate hält Carmen Lamprecht nach der vierwöchigen Krankschreibung unmittelbar nach der Tat noch durch. Schleppt sich zum Dienst, schleppt sich wieder nach Hause. Doch die Angstzustände und Weinkrämpfe werden schlimmer. Die Mutter eines Mädchens und eines Jungen (heute 10 und 14 Jahre alt) zieht sich immer mehr zurück. Sie kann nicht mehr schlafen. Die Bilder des dramatischen Einsatzes haben sich tief in ihre Seele gegraben.
Polizei Hamburg: "Lamprecht kämpft sich zurück in den Dienst“
Bei jedem Einsatz, zu dem sie im Lauf des Jahres 2016 gerufen wird, hat Carmen Lamprecht Angst. Angst davor, die Opfer könnten wieder Kinder sein. Die Belastung steigt von Monat zu Monat. Ihr Mann, selbst ein Polizist im Schichtdienst, managt die Familie. Aber nach einem Jahr kann Carmen Lamprecht nicht mehr. Sie selbst geht von einer PTBS aus, also einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auf der Suche nach Hilfe stößt sie auf Kolleginnen und Kollegen und ihre Gruppe „Help for Cops“.
Was folgt, sind zweieinhalb Jahre Behandlung. Eine lang andauernde Traumatherapie, in der der Ehemann die Familie weiter am Leben hält. Erst im Herbst 2019 ist Carmen Lamprecht wieder so stabil, dass sie an einer neuen Wache mit der Wiedereingliederung in den Polizeialltag loslegen kann. „Carmen Lamprecht kämpft sich zurück in den Dienst“, beschreibt das die Polizei.
Hamburger Polizistin gründet Facebookgruppe „RosengartenStones“
„Längst kann ich über diese schlimmen Jahre offen sprechen. Und das mache ich ganz bewusst, weil das Thema PTBS noch immer und überall totgeschwiegen wird“, sagt die Polizistin. Sie hofft, dass ihre Offenheit „betroffenen Kolleginnen und Kollegen hilft“. Sie habe sich damals für ihre Verletzlichkeit furchtbar geschämt, habe es nicht geschafft, das Thema anzusprechen. „Aber es muss sich niemand schämen. Es muss sich niemand verstecken. Reden hilft“, sagt die 49-Jährige.
In der Traumatherapie hatten sie ihr empfohlen, sich mit ihren Kindern ein neues gemeinsames Hobby zu suchen. „Und so haben wir angefangen, Steine zu bemalen“, sagt Lamprecht. Was folgt, lässt sich so kurz zusammenfassen: Der Polizeijob macht wieder Spaß, die Angst (auch vor Einsätzen mit Kindern) ist weg, und die bemalten Steine werden immer mehr.
Nach ihrer Therapie gründet Lamprecht eine Facebookgruppe, nennt sie die „RosengartenStones“, die Steine aus Rosengarten. Es entstehen Hunderte bemalte Steine mit kindgerechten Motiven. „Bemalte Steine strahlen Freude und Wärme aus“, erzählt Carmen Lamprecht. Es folgt die Facebookgruppe „Aktion 110 112“. Mehr als 800 Mitglieder hat die inzwischen, 150 Frauen und Männer aus der Gruppe malen selbst. Wer einen Schwung bunter Steine fertig hat, schickt sie Carmen Lamprecht.
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Hamburger Polizistin hat komplette Polizei von Lübeck mit Steinen ausgestattet
Bei ihr laufen zugleich die Anfragen von Polizeien und Feuerwehren aus halb Deutschland nach den Steinen für Kinder zusammen. Gerade erst hat die Hamburger Polizistin die komplette Polizei von Lübeck damit ausgestattet – umsonst und ehrenamtlich, versteht sich. Die Kollegen in Lübeck wollen mit den Steinen jungen Opfern nicht nur Mut machen und mit ihnen ins Gespräch kommen, sondern „Kindern die Notrufnummer 110 auch präsent machen“.
In der Hamburger Polizei-Statistik für das vergangene Jahr sind 31.831 Opfer von Straftaten erfasst. 2000 oder umgerechnet 6,2 Prozent davon sind Kinder. Die Zahl ist gegenüber dem Vorjahr deutlich gestiegen. 2000 Hamburger Kinder werden im Jahr Opfer einer Straftat – umgerechnet sind das mehr als fünf pro Tag. Eine weitere Opferzahl findet sich in der Verkehrsstatistik: Im Jahr 2021 sind 419 Kinder unter 15 Jahren verunglückt – deutlich mehr als im Jahr zuvor. Der Bedarf, sich Kindern, die zu Opfern werden stärker zuzuwenden, ist da.
Den ersten Stein schenkte die Polizistin einem Wilhelmsburger Mädchen
Den ersten Stein, erinnert sich Carmen Lamprecht noch genau, hat sie einem Wilhelmsburger Mädchen geschenkt. Einem von fünf Geschwistern, so 8 oder 9 Jahre alt. Der Einsatz lautete „Verdacht auf häusliche Gewalt“. Die Kinder hatten Angst, mit der Frau in Uniform und ihrem Kollegen zu sprechen. Die Älteste blockte alle Versuche erst einmal ab. Allein mit der Acht- oder Neunjährigen in einem Zimmer, schenkte die Polizistin dem Mädchen einen ihrer Steine, den sie noch in der Hosentasche fand. „Der hat das Eis gebrochen“, erinnert sich die 49-Jährige.
Aus diesem einen Stein und diesem einen Einsatz wurde eine Aktion. „Mir hat in Einsätzen immer etwas gefehlt. Kinder sind oft die Leidtragenden, erleben Gewalt, sind verstört, verängstigt, verletzt. Aus diesem Grund kam ich darauf, ihnen einen Stein als Glücksbringer in die Hand zu geben und ihnen dadurch ein kleines Lächeln zu schenken“, hat Carmen Lamprecht den Machern des „Hamburger Polizeijournals“ erzählt.
Hamburger Polizeiverein ist begeistert von der Aktion und unterstützt Lamprecht
Egal ob die Steinchen ein Einhorn zeigen oder einen Peterwagen, einen Polizeihund oder einen Schutzmann in Superman-Outfit – die 110, also die Notrufnummer der Polizei, ist immer zu sehen. „Ich finde, dass man Kindern damit den alten Leitsatz ,Polizei – dein Freund und Helfer‘ wieder ein Stück näher bringen kann und sich der Notruf so vielleicht etwas leichter einprägt“, sagt Carmen Lamprecht.
Die Aktion wird jetzt hamburgweit ausgerollt. Mit 27 weiteren Malerinnen hat Lamprecht zuletzt fast 1500 Steine bemalt, die dieser Tage stadtweit ausgeliefert werden. Jede Wache bekommt welche, jeder Einsatzwagen. Der Hamburger Polizeiverein ist von dem Projekt der Wilhelmsburger Obermeisterin begeistert. „Unser Leitspruch ist ,Verständnis wächst aus Kenntnis‘. Mit ihrer Aktion unterstützt die Kollegin genau dieses Motto. Und deshalb unterstützen wir sie“, sagt der Vereinsvorsitzende, der ehemalige Polizeipräsident Werner Jantosch.
Hamburger Polizistin hält noch Kontakt zur Mutter des toten Babys
Der Polizeiverein übernimmt die Kosten für die kleinen, bruchsicheren Marmorsteinchen aus dem Baumarkt, für Pinsel und Farbe. „Mit den Steinen schenken wir den Kindern Zuwendung und auch ein wenig Glück“, freut sich Jantosch und hofft dabei auch auf eine „positive Hinwendung zur Polizei“.
Noch immer wird Carmen Lamprecht regelmäßig an den Fall vom Harburger Lohmühlenteich erinnert – die Polizistin und die Oma der kleinen Lia Sophie (die Mutter des Babys war damals gerade 18 Jahre alt) halten den Kontakt, der auf einem Krankenhausflur mit einer Umarmung begann.
Übrigens: Der Überfall auf den jungen Vater, den die kleine Lia Sophie nicht überlebte, ist bis heute nicht geklärt.