Hamburg. Nicht nur Magersucht beschäftigt Mediziner in Hamburg stark. Wie sich Störungen entwickeln – und wer besonders gefährdet ist,

Über Magersucht, sagt Dr. Helge Fehrs, werde zwar am meisten gesprochen, doch es gebe noch zwei weitere Essstörungen, die weiter verbreitet seien: „Die Ess-Brech-Sucht, auch als Bulimie bekannt, kommt häufiger vor, und auch das sogenannte Binge-Eating hat zugenommen“, sagt der Oberarzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vom Asklepios Westklinikum im Gesundheits-Podcast vom Abendblatt.

Unter Binge-Eating verstehe man „Heißhungerattacken, gegen die sich Betroffene kaum wehren können“: „Sie essen sehr viel in sehr kurzer Zeit.“ Mittelfristig führe dieses Verhalten zu Übergewicht, gar Adipositas. Alle Essstörungen seien der unbewusste Versuch, psychische Probleme von der Seele auf den Körper zu verschieben.

Essstörungen: Wer ist besonders gefährdet?

„Es geht darum, unlieb­same Gefühle besser auszuhalten“, erklärt der Experte. Die Betroffenen könnten mit Ärger, Trauer oder Wut nicht umgehen und bemühten sich über ihr Essverhalten um eine innerseelische Stabilisierung, eine Art „faulen Kompromiss“. „Es ist ein Kreislauf“, sagt der Mediziner und erklärt es am Beispiel der Bulimie: „Die Betroffenen fühlen sich schlecht, also essen sie viel, um sich kurzfristig besser zu fühlen. Dann setzt jedoch die Angst, dick zu werden, ein, und die Betroffenen wollen das Essen schnellstmöglich wieder loswerden.“

Sind bestimmte Charaktere oder Persönlichkeiten besonders anfällig für Essstörungen? „Magersucht findet man vor allem bei Perfektionisten, bei Menschen, die gern alles und vor allem auch sich selbst extrem kontrollieren“, sagt der Oberarzt. Bulimie betreffe oft jene, die emotional instabil seien, wenig Selbstwertgefühl hätten. „Und Binge-Eating geht oft mit depressiven Verstimmungen einher.“

Meist treten Essstörungen in den Teenagerjahren erstmals auf, häufig auch mit Mitte 20, weil in diesen Phasen Identitätsentwicklung und Ablösung von der Ursprungsfamilie anstünden. „Dass jemand mit Mitte 40, beispielsweise nach einer traumatischen Trennung eine Essstörung entwickelt, ist möglich, aber ex­trem selten.“

Essstörungen bei Kindern: Eltern sollten Gespräch suchen

Doch was sind Warnsignale, auf die das Umfeld reagieren sollte? „Wenn die Tochter oder der Sohn gemeinsame Mahlzeiten meiden, sich zum Essen zurückziehen und plötzlich schwarze Listen führen mit Lebensmitteln, die sie nicht mehr zu sich nehmen, dann ist das alarmierend“, sagt der Experte. Auch eine plötzlich vegane Lebensweise solle hinterfragt werden. „Kann gesund sein, kann aber auch als Deckmäntelchen für eine beginnende Essstörung herhalten.“

Eltern sollten versuchen, das Gespräch mit den Kindern zu suchen – und zwar über das Thema Essen hinaus. „Wie fühlt sich das Kind? Was bewegt es? Was sind die Ursachen für die Veränderung?“

Essstörungen sind heilbar: 70 Prozent können Bulimie loswerden

Oft sei eine professionelle Beratung sinnvoll, manchmal auch eine stationäre oder teilstationäre Therapie in einer Tagesklinik, beides werde am Westklinikum angeboten. „Wenn ein magersüchtiges Mädchen, das nur noch 38 Kilo wiegt, zu uns kommt, dann braucht es schon einen langen Atem, bis wieder ein Normalgewicht erreicht ist“, sagt der Mediziner. Allerdings, und das sei eine gute Nachricht, seien Essstörungen heilbar.

„Bei Magersucht schafft es mindestens jede zweite Betroffene, bei Bulimie liegt die Heilungsquote sogar bei 70 Prozent.“ Wichtig sei es, das in der Klinik Erlernte mit in den Alltag zu nehmen und „fehlgeleitetes Verhalten“ langfristig abzulegen. „Das ist mühsam und schwierig, aber zu schaffen. Gerade erst bekam ich einen Dankesbrief von einer einst magersüchtigen Patientin, die mir glücklich schrieb, dass sie gerade ihr erstes Kind bekommen habe.“