Hamburg. Lindenberg ist der zweite Musiker, den die Stadt so auszeichnet. Nun steht er in einer Reihe mit Johannes Brahms. Über den Festakt.
Keine Ahnung, warum einem beim Festakt zur Ernennung Udo Lindenbergs zum Hamburger Ehrenbürger ausgerechnet Erich Honecker einfällt. Aber die Begegnung zwischen dem Panikrocker und dem Staatsratsvorsitzenden der DDR im September 1987 vor dem Friedrich-Engels-Haus in Wuppertal steht sinnbildlich für viele Eigenschaften von Udo Lindenberg und auch für einen der Gründe, warum er nach langen Jahren des mehr oder weniger geduldigen Wartens endlich Ehrenbürger wird.
Egal, wie spießig, streng oder lodenjoppig bieder die Umstände sind, Lindenberg dreht sie bei seiner Ankunft sofort um. Mit seiner Mischung aus Charme und Nonchalance und augenscheinlich völliger Sorglosigkeit findet er überall eine Bühne. Er wickelte Einreise-Beamte am Flughafen in den USA ebenso um den Finger wie den grauen SED-Betonkopf „Honey“, dem Udo Briefe, eine Lederjacke und in Wuppertal auch noch eine E-Gitarre („Gitarren statt Knarren“) aufdrängte. Sein Ziel: maximale Lässigkeit. So wie er alles nicht so eng sah, sollten sich auch Ost und West mal ein wenig lockerer machen. Wahrscheinlich war Lindenberg einer der letzten, der im September 1987 noch an den Fall der Mauer glaubte.
Udo Lindenberg empfing auch Wladimir Putin
Politische Naivität, Anbiederung an diktatorische Regime, Einschmeicheln bei den jeweiligen Establishments und drehen des Hutes in jedweden Wind wurde ihm bei seinem Konzert im Ost-Berliner Palast der Republik 1983 ebenso vorgeworfen wie beim Schwatz mit Honecker 1987, beim Entgegennehmen seiner Bundesverdienstorden 1989 und 2019 oder wann immer er mit Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft in einem Raum weilte.
Zum Beispiel 2004, als er Wladimir Putin und Gerhard Schröder im Hotel Atlantic zu einem Plausch empfing. Dabei verschaffte sich Lindenberg nur einen Überblick über die Lage, nutzte sein Privileg, quasi den Generalschlüssel zu jeder geschlossenen Gesellschaft zu haben, um zu prüfen, ob man sich Sorgen machen muss. So wie bei seinen nächtlichen Touren im Porsche oder zu Fuß durch Hamburg. Mal die Lage checken. Wenn Lindenberg dann einen Song über Atomkriege, Nazischläger oder Umweltsünden schrieb, wusste man: Okay, irgendwas stimmt nicht, der Berufsoptimist Udo macht sich Sorgen.
Termin im Großen Festsaal dauerte 90 Minuten
Wer so viel erlebt und durchgemacht hat an Erfolgen und Krisen, bösen Reinfällen und Abstürzen, leeren Taschen (und Flaschen) und vollen Stadien, Begegnungen mit dem Jenseits und mit Menschen mit Macht über Leben und Tod, der sitzt einen 90 Minuten langen Termin im Großen Festsaal des Rathauses auf einer Backe ab, auch wenn das eine lange Zeit ohne Zug an der Zigarre ist. 19.45 Uhr ist auch nicht gerade seine bevorzugte Tageszeit. Mitternacht wäre schon besser. Aber um diese Zeit einen großen Auftritt abliefern ist für ihn ja Tournee-Alltag.
Das Klickerklacker und nervöse Gepiepe der Kameras und Blitzgeräte, das Geraune und Gemurmel, das Gescharre von Absätzen auf dem edlen Parkett ist vielleicht nicht so Rock ’n’ Roll vor einer Show wie Steffi Stephans brummender Bassverstärker oder Bertram Engels zitternde Schlagzeugfelle. Aber als sich Politik, Presse, Prominenz, Panikorchester, Preisträgerinnen und Preisträger und natürlich El Panico im Festsaal eingefunden haben, wird schnell deutlich: Das hier wird kein protokollarisches Händeschütteln mit Urkunde, sondern eine „Honky Tonk Show“.
Lindenberg folgt mit Auszeichnung Johannes Brahms
Nicht der Sonderzug nach Pankow, sondern der Gospel Train, der Mittelstufenchor der Goethe Schule Harburg macht Station im Rathaus und singt „Goodbye Sailor“: „Jetzt steh’n wir hier, schwer bemüht, dass der andere keine Tränen sieht. Doch weißt du, was das Größte ist? Dass du wirklich mein bester Freund geworden bist.“ Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) gibt unter großem Jubel den Beschluss des Parlaments bekannt, Lindenberg zum Ehrenbürger zu ernennen.
Sie vergisst nicht zu erwähnen, dass diese Ehre 133 Jahre nach Johannes Brahms erst dem zweiten Musiker zuteilwird: „Das ist ein etwas schiefes Verhältnis, denn Hamburg ist ja nicht nur eine bedeutende Handelsstadt, sondern auch eine Kulturmetropole.“ Sie würdigt in ihrer Rede auch Inga Rumpf, City Preachers, Atlantis, die ganze Hamburger Szene der späten 60er und frühen 70er, die den Ruf der Musikstadt Hamburg in Deutschland prägte. So was hört man selten in diesem Saal. Vielleicht meinte Lindenberg das damals mit seiner „Bunten Republik Deutschland“, jedenfalls sieht man förmlich den Schalk hinter der Sonnenbrille blitzen und die Mundwinkel Richtung Hutkrempe zucken. Genau sein Ding. Er wippt. Könnte noch ein bisschen panischer werden, aber Udo hat Geduld.
„Seit über 50 Jahren ist Hamburg Ihre Wahlheimat"
Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) hält seine zweite Laudatio an diesem Tag: „Seit über 50 Jahren ist Hamburg Ihre Wahlheimat. Sie sind ein Urgestein der Hamburger Musikszene, gestartet im legendären ,Onkel Pö‘, dem Mittelpunkt des Hamburger Jazz der 70er-Jahre, dem Sie die erste Zeile des ersten Liedes Ihres ersten Erfolgsalbums ,Alles klar auf der Andrea Doria‘ gewidmet haben. Rock auf Deutsch: Das war damals neu und hat den Nerv der Zeit getroffen. Mit Ihrer Musik und Ihrer Persönlichkeit sind Sie weit über Hamburg hinaus bekannt geworden – einer der erfolgreichsten Künstler unseres Landes.“
Den Blick von Hamburg aus weit über den Horizont gerichtet, hält Lindenberg Zeit und Geschehen im Blick, setzt Impulse in Kultur und Politik für eine bessere Zukunft aller. Damals wie morgen. „Seit Jahrzehnten engagiert sich Udo Lindenberg gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Diskriminierung. Er zeigt Haltung und spricht vielen Menschen aus der Seele, mit bewegenden Worten, mit Lebensfreude, Leidenschaft, einem einzigartigen Stil und einem Hauch geheimnisvoller Magie“, fasst Tschentscher Lindenbergs Werk und Wirkung zusammen und verspricht dem „Ehrenmann“: „Heute ist die Zeit für einen Eierlikör.“
Udo Lindenberg bedankt sich bei Anwesenden
Das ist so langsam ganz nach dem Geschmack von Ehren-Udo, der seine Urkunde bekommt und sich bei allen Anwesenden bedankt: „Ich bin tief bewegt und schwer gerührt“, sagt er mit Blick auf viele Freundinnen und Freunde. Er weiß nicht genau, was er sagen soll, also: „Rock‘n‘Roll ohne Protokoll“. Trotzdem erwähnt er höflich alle Anwesenden und erzählt noch mal ausführlich seinen Hamburg-Werdegang. „Hamburg ist mein Eldorado.“
Der Trick in dieser Stadt ist für ihn „einfach zu überleben“ in schwindelig-schweren Zeiten. In seiner Zeit habe sich Hamburg wahnsinnig entwickelt, mit Musicals, Theatern, der Elbphilharmonie und dem größten Clubfestival Europas auf der Reeperbahn. Für ihn, mit Brahms im Geiste, geht es weiter auf dem Weg, Kultur über alle Grenzen hinweg zu tragen, zu tauschen, sich zu verständigen. Gegen Widerstände wie dem „Kriegsverbrecher Putin“. Auch persönlich hat Udo noch viel vor. Seinen 100. Geburtstag verspricht er am Fuß-Denkmal von Uwe Seeler zu feiern.
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Wie bei jedem Anlass über nimmt der Astronaut jetzt endgültig die Steuerung. Er singt mit dem Chor „Wozu sind Kriege da?“, bevor der Gospel Train zum Hit-Medley („Cello“, „Wieder genauso“, „Kompass“, „Mein Ding“, „Alles klar auf der Andrea Doria“) anstimmt. Dann geht es nach einem kurzen Udo-Imagefilm hinter dem „Horizont“ weiter, gesungen von einer der besonders populären Hamburger Abteilungen der weitläufigen Panik-Family: Johannes Oerding zollt seinem Vorbild, dem „König aller Musiker“ Tribut.
Udo Lindenberg: Dank auch von Corny Littmann
Und der Abend im Rathaus wird noch bunter. Auch Kiez-Kultur-Schrittmacher Corny Littmann dankt dem Mann, der immer für guten Bar-Umsatz in Cornys Etablissements sorgte. Für ihn ist Udo „eigentlich ein ganz Normaler“ und die Ablehnung des Ehrenbürger-Antrags durch die AfD-Fraktion schlicht „ein Skandal“ - aber auch eine weitere Auszeichnung. Noch einmal geht die Reise von Pankow bis zum Kiez. Und als Sankt-Paulianer Littmann erzählt, wie sehr Uwe Seeler im Saal fehlt, geht ein Seufzen der Rührung durch die Reihen.
Nach einem weiteren Chor-Medley geht es musikalisch auf den Heimweg. Auf die „Reeperbahn“. Zwei Mal hatte Udo Lindenberg dem Kiez unter diesem Songtitel Denkmäler gesetzt. Ein kritisches, melancholisches auf der Beatles-Melodie von „Penny Lane“ 1978, und ein hymnisches, feierliches 1989. Gaststar Jan Delay singt im Rathaus die zweite, tagesaktuell umgedichtete Version. Denn Udo Lindenberg ist ja Optimist. Hoffen wir, dass sich sein Traum erneut erfüllt: Gitarren statt Knarren.