Hamburg. Bei der Rede im Übersee-Club fordert der Bundespräsident die intensive Suche nach neuen Partnern und neue Freihandelsabkommen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat angesichts des Ukrainekriegs vor einem Rückzug Deutschlands und seiner Unternehmen aus der Welt gewarnt. „Es ist gefährlich, wenn wir jetzt die falschen Schlüsse ziehen“, sagte Steinmeier bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Übersee-Clubs in der Hamburger Laeiszhalle. „In einer Zeit, in der einige schon das Ende der Globalisierung prophezeien und andere es herbeisehnen, will ich eines ganz klar sagen: Wir dürfen uns jetzt nicht in den eigenen Hafen zurückziehen, das Tor zur Welt zumauern und von Autarkie träumen!“

Spätestens seit dem 24. Februar sei allen „bitter bewusst: Wir können unseren Weg nicht einfach weitergehen, als wäre nichts passiert – weder in der Politik noch in der Wirtschaft“, so der Bundespräsident. Umso mehr müsse Deutschland jetzt „möglichst viele neue Partner gewinnen – und damit gleichzeitig unsere Verwundbarkeit verringern“, betonte der Bundespräsident vor rund 900 Gästen in Hamburg.

Steinmeier in Hamburg: Aus schädlichen Beziehungen lösen

„Wir dürfen nicht nur darüber diskutieren, wie wir von etwas wegkommen, wir müssen auch klären, wo wir stattdessen hinwollen und wo wir wieder andocken können! Wenn wir uns auf den Weltmärkten neu ausrichten und breiter aufstellen, wenn wir unsere Abhängigkeiten klug austarieren und uns aus schädlichen Beziehungen lösen, dann können wir unsere politische und unsere ökonomische Widerstandskraft stärken“, so Steinmeier.

Michael Behrendt übergibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Laeiszhalle ein Buddelschiff.
Festakt in der Laeiszhalle: Michael Behrendt übergibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Buddelschiff. © Marcelo Hernandez | Unbekannt

Auch in Zukunft gelte, dass Deutschland Wohlstand nur erwirtschaften und Arbeitsplätze erhalten könne, wenn es ein Industrie- und ein Exportland bleibe. „Dass ein rohstoffarmes Land wie Deutschland, mit einer Bevölkerung von nur 83 Millionen Menschen, zur viertgrößten Wirtschaft der Welt aufsteigen konnte, ist vor allem durch die Internationalisierung zu erklären“, so Steinmeier. „Nur wenn es uns jetzt gelingt, gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und der Welt umzusteuern, nur dann werden wir einen vorderen Platz in der Weltwirtschaft halten, nur dann werden wir die Chancen der Globalisierung auch in Zukunft nutzen können.“

Wichtig: Unabhängig von russischen Energieimporten werden

Bei all dem sei und bleibe es „richtig, dass wir Russland politisch und ökonomisch unter Druck setzen und uns selbst von russischen Energieimporten unabhängig machen“. Aber Russland sei nur das eine. „Wir müssen jetzt unsere Lektion lernen und entschlossen handeln, um ganz generell unabhängiger von autoritären Staaten zu werden und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.“

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Dabei richtete Steinmeier auch einen Appell an die Unternehmer. „Der kurzfristig günstigste Preis einer Ware oder eines Rohstoffes spiegelt eben nicht immer alle politischen, ökologischen oder moralischen Risiken wider. Märkte wissen nicht immer alles“, so der Präsident. „Und in einer Welt, in der alles zur Waffe werden kann, wie der britische Historiker Mark Galeotti es formuliert hat; in einer Welt, in der Rohstoffe und Technologie strategisch eingesetzt werden können; in dieser Welt ist auch die Wirtschaft in besonderer Verantwortung und muss ihren Blick auf die Welt und die Märkte neu ausrichten.“

Steinmeier richtet Appell an Unternehmen

Er wisse, dass viele Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland längst reagiert und ihre Lieferketten robuster gemacht hätten. „Gerade der deutsche Mittelstand ist da wie immer vorausblickend und beweglich, innovativ und kreativ“, so Steinmeier. „Ich weiß auch: Managerinnen und Manager großer Kapitalgesellschaften müssen Kennzahlen und Börsenkurse im Blick haben. Sie können ihre Unternehmen nicht von heute auf morgen von russischer Energie entkoppeln, klimaneutral machen und sich zugleich aus autoritären Ländern zurückziehen. Aber in dieser Zeit, in der die Welt in Unordnung geraten ist, müssen Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Verantwortung breiter fassen. Sie können sich nicht allein danach richten, was rechtens ist. Sie müssen sich auch daran orientieren, was richtig ist: moralisch richtig, gesellschaftlich richtig, ökologisch verantwortbar.“

Dabei warnte Steinmeier auch vor einer zu großen Abhängigkeit von China. „Deutsche Schlüsselbranchen sind aufs Engste mit China verflochten und auf chinesische Absatzmärkte angewiesen“, so der Präsident. „Fast jedes zweite deutsche Industrieunternehmen bezieht wichtige Teile oder Rohstoffe aus China; mancher Autohersteller verkauft jedes dritte produzierte Fahrzeug in die Volksrepublik. Zugleich hat aber auch China großes Interesse an europäischen Kunden, Fähigkeiten, Technologien und Investitionen. Wir können deshalb in Politik und Wirtschaft selbstbewusst gegenüber China auftreten, und wir müssen Verhandlungsspielräume nutzen, um uns für Klimaschutz, Menschenrechte und unsere existenziellen wirtschaftlichen Interessen einzusetzen!“

Achtzig Prozent aller Wirkstoffe für Medikamente aus China

Klar sei aber auch: „Auf manchen strategisch wichtigen Feldern ist unsere Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen deutlich größer als unsere Abhängigkeit von russischem Gas in den vergangenen Jahren.“ Das betreffe etwa pharmazeutische Produkte, achtzig Prozent aller Wirkstoffe für Medikamente kämen aus China. „Und es betrifft insbesondere Technologien, die für die Energiewende ebenso unverzichtbar sind wie für die Mobilitätswende. Für den Bau von Solaranlagen, Motoren für Elektroautos oder Windgeneratoren brauchen wir Metalle der seltenen Erden, die wir in der Europäischen Union zu fast hundert Prozent importieren und die fast ausschließlich aus China kommen.“

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Wenn Deutschland sich von Gas, Öl und Kohle aus Russland unabhängig machen und Klimaneutralität erreichen wolle, müsse es die Produktion von Elektrofahrzeugen, von Wind- und Sonnenenergie jetzt noch schneller und entschiedener ausbauen, so Steinmeier – „aber wir müssen dabei zugleich unsere Abhängigkeit von China im Blick behalten und nach Möglichkeiten suchen, Metalle der seltenen Erden auch und ergänzend aus anderen Quellen zu beziehen, sie zu recyclen oder zu ersetzen“.

Steinmeier warnt vor Erpressung durch andere Länder

Wichtig sei es, neue Partner in der Welt zu suchen. „Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Zukunft von keinem Land erpresst werden können“, so Steinmeier. „Wir müssen in Asien, Afrika und Lateinamerika neue Märkte und neue Rohstoffquellen erschließen. Hier haben wir das Potenzial zur Zusammenarbeit noch lange nicht ausgeschöpft“, sagte Bundespräsident. „Was wir dabei anstreben sollten, ist eine pragmatische Kooperation. Gerade auf afrikanische Länder sollten wir mit einer neuen Haltung zugehen. Statt diese Länder als hilfsbedürftige Mündel anzusehen, sollten wir sie endlich als das anerkennen, was sie sind: wichtige Partner, die uns helfen können, in der neuen Welt zu bestehen.“

Deutschland und Europa sollten „besonders um jene Länder werben, die sich keinem Lager zugehörig fühlen, die in der sich verschärfenden Konfrontation zwischen den liberalen Demokratien und den autoritären Regimen für keine Seite Partei ergreifen, sondern neutral bleiben wollen, so wie es viele afrikanische, aber auch asiatische Staaten tun. Vernetzung ausbauen, Verwundbarkeit abbauen, das muss die Maxime unseres Handelns werden!“

Deshalb sei „ein Comeback der Freihandelsabkommen“ nötig, „aber wir brauchen ihr Comeback in anderer Gestalt. Freihandelsabkommen neuen Typs müssen Handels- und Nachhaltigkeitspolitik miteinander verschränken.“

100 Jahre Übersee-Club in Hamburg

Vor hundert Jahren, als der Übersee-Club gegründet wurde, hätten dessen Mitglieder hier in Hamburg für den Aufbruch in ein neues Zeitalter geworben – „ein Zeitalter der Weltoffenheit, des Friedens, des Rechts, der Freiheit und des Wohlstands“, so Steinmeier. „Wir wissen, ihre Ideen für eine liberale Neuordnung der Welt setzten sich damals nicht durch, ihre Hoffnung sollte sich erst viele Jahrzehnte später erfüllen. Aber die Geschichte hat ihren Überzeugungen recht gegeben, und sie tut es bis heute! Gerade jetzt, wo Krieg und Krisen die Welt ins Chaos zu stürzen drohen, brauchen wir Vernetzung und Austausch über Grenzen hinweg. Gerade jetzt brauchen wir den Übersee-Club.“

Zuvor hatte Übersee-Club-Präsident Michael Behrendt Steinmeier, Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher und alle anderen Gäste begrüßt. Mehr als 1800 Reden und Vorträge seien seit seiner Gründung vor dem Club gehalten worden, so Behrendt, den er als „eines der großen Zentren des Meinungsaustausches“ bezeichnete. Der Club sei nicht elitär, sondern interessiert. Hier träfen sich „Bürger, die sich als Teil des Gemeinwesens verstehen“. Behrendt betonte auch die Solidarität des Übersee-Clubs und seiner Mitglieder mit der Ukraine – und bekam dafür viel Applaus.

Udo Lindenberg rät: "Lasst die Krawatten fliegen"

Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) nannte den Übersee-Club in seiner Rede einen „Raum für Zukunft“, da hier in einem „offenen Diskurs“ Impulse gegeben und nach Antworten auf die Herausforderungen der Zeit gesucht werden könnten.

Vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron wurde ein Grußwort verlesen. „Gemeinsam als Europäer reagieren wir geeint und solidarisch auf diese dramarische Rückkehr des Krieges auf unseren Kontinent“, hieß es darin – und an die Mitglieder des Übersee-Clubs: „Die Verantwortung, die Sie in diesem zweiten Jahrhundert, das nun vor Ihnen liegt, tragen, ist vielleicht sogar noch größer. Denn es ist an Ihnen, uns dabei zu unterstützen, ein geeintes Europa und eine gerechte Globalisierung zu verwirklichen und an unserer Seite zukunftsfähige Gesellschaften heranwachsen zu lassen. Möge uns der Geist, von dem der Übersee-Club einst getragen wurde und noch heute getragen wird, auf unserem Weg bei der Bewältigung dieser Herausforderungen auch weiterhin begleiten.“

Hundert Jahre Überseeclub: Dazu gab es einen Gruß von Udo Lindenberg.
Hundert Jahre Übersee-Club: Dazu gab es einen Gruß von Udo Lindenberg. © Marcelo Hernandez | Unbekannt

Zwischen den Reden spielte in der Laeiszhalle das Philharmonische Staatsorchester unter Kent Nagano Stücke von Telemann, Bach und Brahms. Und am Ende gab es dann sogar noch einen virtuellen Auftritt einer lebenden Hamburger Legende. Udo Lindenberg riet per Videobotschaft zum energischen Feiern: „Lasst die Krawatten fliegen!“ - und gab dann sein zur aktuellen Weltlage passendes Lied zum Besten: „Wozu sind Kriege da?“