Hamburg. UKE-Chefarzt Stefan Kluge und Virologe Jonas Schmidt-Chanasit überraschen mit einer positiven Einschätzung.
Seit vier Monaten regiert in Hamburg wieder die Normalität – nur eine Frage bleibt: Was passiert, wenn dieser Sommer endet? Zum Herbstbeginn blicken Hamburger Corona-Experten aber überraschend gelassen auf die kommenden Monate. Führende Ärzte und Virologen sehen keine Anzeichen, dass erneut ein Kollaps des Gesundheitswesens durch Covid-19-Patienten im Herbst und Winter drohen könnte. Die Sozialbehörde bleibt dagegen vorsichtig. Auch wartet die Stadt noch auf die neuen Impfstoffe, die besonders wirksam gegen neue Omikron-Varianten sein sollen.
Im UKE, das als Hamburger Flaggschiff im Kampf gegen Corona gilt, herrscht keine große Besorgnis vor. Im Gegenteil spricht Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin, von einer sehr ruhigen Lage. „Wir sehen, dass die Sterblichkeit und Häufigkeit von schweren Verläufen sehr deutlich abgenommen hat“, sagte Kluge dem Abendblatt. „Corona hat sich in seiner Gefährlichkeit immer weiter und extrem nah an die herkömmliche Influenza angeglichen. Abgesehen von der Häufigkeit von Nachbeschwerden besteht kaum noch ein Unterschied.“
Corona Hamburg: Virus oft nicht der Grund für Klinikaufenthalt
Deshalb warnt Kluge auch davor, etwa pauschal von noch immer vielen Corona-Toten zu sprechen. „Da fehlt mir die Differenzierung.“ Bereits Ende Juni veröffentlichte das UKE eine Studie, in der die Todesursache von 227 verstorbenen Corona-Patienten seit Mai 2020 untersucht und der jeweilige Virustyp bestimmt worden war. Ergebnis: Von 39 untersuchten Omikron-Infizierten waren nur 46 Prozent auch tatsächlich infolge der Infektion verstorben. Bei Delta lag diese Rate demnach noch bei 82 Prozent.
Im UKE sei auch beim „überwältigenden Anteil“ aller stationär behandelten Corona-Patienten das Virus eben nicht der Grund, warum die Betroffenen in die Klinik mussten. „Durch die regelhaften Testungen werden Infektionen, die auch völlig symptomfrei sein können, nur eben auch registriert“, sagt Kluge. Auch insgesamt ging die Corona-Inzidenz in Hamburg zuletzt stetig zurück und lag in der vergangenen Woche bei einem Sieben-Tage-Wert von 200,4.
UKE-Chefarzt Kluge und Virologe Schmidt-Chanasit sehen Herbst gelassen entgegen
Mit Blick auf Herbst und Winter hält Kluge es für „sehr unwahrscheinlich“, dass durch Corona-Patienten auf den Stationen ein Kollaps des Gesundheitssystems drohen könnte. „Wir werden, wenn nicht ziemlich plötzlich gefährlichere Varianten auftreten und schnell dominant werden, keine vergleichbare Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen wie in den vergangenen beiden Wintern bekommen.“
Der bekannte Virologe Jonas Schmidt-Chanasit kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. Dass es in diesem Jahr erstmals eine Sommerwelle an Infektionen gab, habe mit „hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass die Anzahl derer, die weder geimpft noch genesen sind, verschwindend gering geworden ist“. Entsprechend seien auch mehr Menschen zumindest vorübergehend sogar vor einer erneuten Infektion geschützt.
„Dies kann dazu führen, dass ein erneuter Anstieg der Infektionszahlen nicht im Herbst, sondern vielleicht erst im Winter stattfindet“, sagt Schmidt-Chanasit. Auch dann würde es nach seiner Einschätzung aber erst gefährlich, wenn eine neue gefährliche Variante auftauche, die er genauso wie Kluge für „sehr unwahrscheinlich“ hält.
Problematisch könnten Personalausfälle werden
Beide Experten sehen dennoch Herausforderungen in den kommenden Monaten. Problematisch könnte laut dem UKE-Direktor Kluge werden, dass eine steigende Infektionszahl auch vermehrte Ausfälle beim Personal im Gesundheitswesen nach sich ziehen würde. „Wenn viele Mitarbeitende dann mindestens fünf Tage fehlen, ist das bei der angespannten Situation vor allem in der Pflege eine starke Belastung“, so Kluge.
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Es sei deshalb nachvollziehbar, bei der noch verbliebenen Maskenpflicht in Bussen und Bahnen zu bleiben. Eine Notwendigkeit für darüber hinaus gehende Maßnahmen sieht der Intensivmediziner aber nicht. Der Virologe Schmidt-Chanasit spricht von einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass sich in den kommenden Monaten doch Virusvarianten herausbilden, die die Immunabwehr der Bevölkerung durch Impfung und Genesung zumindest teilweise umgehen könnten.
Corona Hamburg: Angepasste Impfstoffe sollen bald kommen
Die Hersteller Biontech und Moderna hatten zuletzt angepasste Impfstoffe für die Omikron-Untervarianten entwickelt. Etwa in Niedersachsen wird bereits in den kommenden Wochen die erste Charge der Präparate erwartet, die besonders gut vor der Variante BA. 1 schützen sollen. Für Hamburg gebe es noch keinen detaillierten Zeitplan, sagte Martin Helfrich, Sprecher der Sozialbehörde, auf Anfrage. Man rechne aber „zeitnah“ mit der Verfügbarkeit.
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Helfrich betont, dass die Stadt bei der Vorbereitung auf den Herbst auch Lehren aus den ersten zwei Jahren der Pandemie gezogen habe. „Dazu zählt, dass die Impfzentren nicht abgebaut wurden, sondern eine skalierbare Infrastruktur aufrecht erhalten wurde – für den Fall, dass erneut, womöglich spontan, ein deutlich erhöhter Bedarf besteht“. Und für die kommenden Monate rechne man durchaus mit einer „steigenden Nachfrage“.
Im Oktober werden weitere Impfstoffe erwartet
Sollten Hamburgerinnen und Hamburger vor einer anstehenden (Auffrischungs-)Impfung auf die neuen Impfstoffe warten? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) empfahl das zuletzt, da es sich nur um „ein paar Tage“ handele. Dominant ist aber bereits seit Längerem nicht mehr die Omikron-Untervariante BA. 1, sondern BA. 5 – auch weitere, darauf ausgerichtete Impfstoffe sind zwar auf dem Weg der Zulassung, werden jedoch erst im Oktober erwartet.
Die ebenfalls SPD-geführte Sozialbehörde widerspricht Lauterbach zudem. Wenn nach offizieller Empfehlung oder individueller Beratung mit Medizinern eine weitere Auffrischung sinnvoll sei, „dann sollte man diese zeitnah in Anspruch nehmen“, so Helfrich. „Ein Abwarten auf mögliche angepasste Impfstoffprodukte empfehlen Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht.“
Corona Hamburg: Kluge warnt vor Verwirrungen
Wie die Stadt verweist auch der UKE-Intensivmediziner Stefan Kluge auf die Empfehlung der Ständigen Impfkomission (Stiko). Er warnt bei der vierten Impfung und bei den neuen Impfstoffen davor, Verwirrung in der Bevölkerung zu stiften. „Wenn zwischendurch immer wieder teils gegensätzliche Empfehlungen von anderen Entscheidungsträgern kommen, können die Menschen einfach nicht mehr durchblicken.“
Im Grunde aber sei die Lage einfach: „Alter ist der größte Risikofaktor für einen schweren Verlauf. Wir brauchen dringend eine Vereinfachung“, so Kluge. „Die lautet nach heutigem Stand unabhängig vom Impfstoff: Drei Impfungen für Menschen unter 60 Jahre und eine vierte für alle Menschen über dieser Grenze – dann besteht ein guter Schutz.“
Senat zufrieden mit Corona-Impfquote in Hamburg
Der Senat hatte sich vor dem „Freedom Day“ am 1. Mai bereits insgesamt zufrieden mit der Impfquote in Hamburg gezeigt. Mit einer Prognose für den Herbst und Winter hält sich der Behördensprecher Martin Helfrich auf Anfrage zurück. Auch wenn die Stadt Corona weiterhin nicht mit der Grippe gleichsetzen will, setzt sie auf Routine: Man gehe davon aus, dass die Hamburgerinnen und Hamburger beim Infektionsschutz schon „sehr geübt“ seien. Sie wüssten etwa, dass es sinnvoll sei, in vollen Innenräumen eine Maske zu tragen. Zur dunklen Jahreszeit ergebe es Sinn, solche einfachen Schutzmittel wieder öfter zu beherzigen – „ganz so, wie man zum Winter hin auch Winterreifen beim Auto aufzieht.“