Hamburg. Vor allem in Problemstadtteilen soll das Programm für bessere Lesefähigkeit sorgen. Diskussion über Äußerungen des Senators.

Es war ein Satz, der aufhorchen ließ: „Wir werden uns nicht damit abfinden, dass 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler nach Klasse vier so schlecht lesen, dass sie gerade eben ein Pixi-Buch lesen können und an jedem Schulbuch scheitern“, sagte Schulsenator Ties Rabe (SPD) in der Debatte über neue Bildungspläne Ende Juni vor der Bürgerschaft.

Im Abendblatt-Sommerinterview legte Rabe nach und kündigte Konsequenzen aus dem dramatischen Befund an. „Die Schule ist mit vielen zusätzlichen Aufgaben konfrontiert, sodass die Basics Lesen, Schreiben und Rechnen nicht mehr die Rolle spielen wie noch vor längerer Zeit. Das will ich ändern“, sagte der Senator und wies unter anderem darauf hin, dass in 28 Prozent der Familien zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, es allerdings ein bundesweites Problem sei.

Schule Hamburg: Rabe setzt auf BiSS für Grundschüler

Rabe setzt vor allem auf das bundesweite Programm BiSS (Bildung in Sprache und Schrift), an dem zunächst 20 und seit 2019 aufwachsend mittlerweile 72 der 200 staatlichen Hamburger Grundschulen (bundesweit mehr als 600 Standorte) teilnehmen. Die meisten Schulen liegen in sozial schwierigen Stadtteilen, die den Sozialindex KESS 1 oder KESS 2 („stark oder eher stark belastete soziale Lage der Schülerschaft“). Jede teilnehmende Schule erhält ein jährliches Büchergeld in Höhe von 1000 Euro zur Anschaffung von geeigneter Literatur.

Kern des Ansatzes ist die Einführung eines 20-minütigen „Lesebands“ an drei bis fünf Tagen pro Woche in den Klassen zwei bis vier. Dazu gehört, dass alle Kinder im Chor laut lesen, sogenanntes Tandem-lesen und das Lesen mit Hörbüchern. Das systematische Lesetraining ist nicht auf den Deutschunterricht begrenzt, sondern schließt alle Fächer bis auf Sport abwechselnd mit ein. Die Leseflüssigkeit der Schülerinnen und Schüler wird zweimal pro Schuljahr mithilfe des Salzburger Lesescreenings erhoben.

„Die Kinder haben keine Angst vor dem Vorlesen"

„Das Programm BiSS ist hocheffektiv und vor allem für Kinder in KESS-1- und KESS-2-Gebieten genau richtig“, sagt Gudrun Wolters-Vogeler, Schulleiterin der Grundschule An der Haake in Hausbruch und stellvertretende Vorsitzende des Verbands Hamburger Schulleitungen (VHS). Das feste Ritual des gemeinsamen Lesens fördere das Leseverständnis. „Die Kinder haben keine Angst vor dem Vorlesen. Es macht ihnen Spaß, und das schafft einen hohen Akzeptanzgrad.“

Die Fortschritte der Jungen und Mädchen seien erkennbar und würden den Eltern auch zurückgemeldet. „Lesen lernt man nur durch Lesen“, sagt Wolters-Vogeler, die das mit BiSS verknüpfte Fortbildungsprogramm für Lehrerinnen und Lehrer als „hervorragend“ bezeichnet.

„Die Schüler haben Erfolgserlebnisse"

Ähnlich positive Rückmeldungen erhalte die Schulbehörde, sagt Eric Vaccero, Leiter des Referats Steigerung der Bildungschancen. „Die Schüler haben Erfolgserlebnisse – und die Lehrer sind begeistert, weil das Konzept so einfach ist und sich Verbesserungen bei der Leseflüssigkeit zeigen.“ Durch die Corona-Pandemie habe das Programm allerdings erheblich gelitten. Während der Schulschließungen habe das BiSS-Lesetraining kaum stattfinden können. Die Übermittlung der Ergebnisse aus den Lesetests an das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung sei für die Schulen nicht durchgängig möglich gewesen.

Vor der Ausweitung der systematischen Leseförderung in Hamburg war das BiSS-Projekt zunächst an sechs Hamburger Grundschulen in den Klassen 2 bis 4 drei Jahre lang erprobt und wissenschaftlich begleitet worden – laut Schulleitern und Behörde mit dem Ergebnis, dass sich unterstützte Schüler deutlich verbesserten.

Viele Schulen wollen bei Leseförderung mitmachen

„Seit der Ausweitung der Leseförderung von 20 auf nun 72 Schulen haben wir noch keine kontinuierliche Datenreihe, deshalb können wir noch nicht sagen, ob sich die Erfolge an den sechs Pilotschulen genauso auch in der großen Gruppe der Grundschulen zeigen“, sagt Eric Vaccero. Eine entsprechende Auswertung solle „möglichst bald“ vorliegen.

Ob die Leseförderung langfristig womöglich an sämtlichen Hamburger Grundschulen verankert werden wird, sei offen. „Es melden sich immer noch weitere Schulen bei uns, die gerne mitmachen wollen – das ist derzeit aber nicht möglich.“ Vaccero verweist darauf, dass es neben der BiSS-Leseförderung allgemeine Fortbildungen zur Leseförderung am Landesinstitut für Lehrerbildung gebe sowie Sprach-Lern-Berater an jeder Schule, also Lehrkräfte, die bei Bedarf Förderangebote zum Lesen veranlassen könnten.

Weitere Initiativen benötigt

Birgit Stöver, bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, hält neue Programme zur Erhöhung der Lesekompetenz für „gut und richtig“, wird in ihrer Kritik aber grundsätzlich. „Dass rund 20 Prozent der Viertklässler nicht richtig lesen können, ist ein seit Jahren bekanntes Problem, welches der Schulsenator einfach nicht in den Griff bekommt. Auch die von ihm abgeleitete Erkenntnis, dass durch stetiges Üben das Lesen verbessert werde, ist eine von der Forschung bereits jahrelang erklärte Auffassung“, sagt Stöver. Sie spricht von einer „bildungspolitischen Bankrotterklärung“ Rabes.

Nach Auffassung Stövers benötige es gerade in den Grundschulen weitere Initiativen wie eine frühere, zielgerichtetere und häufigere Überprüfung des Leistungs- und Entwicklungsstands. „Um alle Kinder bestmöglich zu unterstützen, muss die Förderung in der Grundschule früher, individueller und passgenauer erfolgen“, sagt Stöver, die bereits im Juni 2021 ein entsprechendes Konzept vorgelegt hatte.

Leseförderung als fester Bestandteil

„Die aufgelegten Programme zur gezielten Leseförderung greifen meiner Meinung nach viel zu kurz. Lesekompetenz und Leseverständnis bilden die Grundlage für Teilhabe und Chancengleichheit“, sagt Sabine Boeddinghaus, Fraktionsvorsitzende und schulpolitische Sprecherin der Linken in der Bürgerschaft.

Angesichts der großen Gruppe von Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang zum Lesen haben, müsse Leseförderung inklusiver Bestandteil allen Unterrichts sein. Dafür brauchten die Schulen aber die nötige Zeit, die notwendige Qualifizierung und die Ressourcen.

Schule Hamburg: Förderung auch für muttersprachlichen Unterricht

„BiSS ist gut, aber es muss auf alle Grundschulen ausgeweitet werden“, sagt die FDP-Bürgerschaftsabgeordnete Anna von Treuenfels-Frowein. Sicheres Lesen und eine korrekte Rechtschreibung seien Grundkenntnisse, die immer wieder und in großem Umfang geübt werden müssten. „Es ist gut, dass der Schulsenator so ehrlich ist, das Problem offen zu benennen, auch wenn es kein allein Hamburger Problem ist“, sagte Treuenfels-Frowein.

„Dass das Programm an Hamburgs Schulen noch nicht strukturell verankert ist, kann bemängelt werden“, sagt Ivy May Müller, bildungspolitische Sprecherin der Grünen Fraktion. „Wir sind jedoch auf einem guten Weg und werden nach den Evaluierungen das Programm mithilfe einer guten Datenbasis weiter ausbauen.“ Müller sagt, sie wolle künftig auch die Förderung der Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler in den Blick nehmen. „Gerade Länder wie Finnland zeigen, dass die Stärkung der Muttersprache für die persönliche Identitätsbildung und das Erlernen der Landessprache für Schülerinnen und Schüler aus Familien mit fremdsprachigem Hintergrund von enormer Bedeutung ist.“