Hamburg. Schulsenator Ties Rabe (SPD) fordert mehr Anstrengungen für Ausbildungsplätze und erklärt, was im Corona-Winter drohen könnte.

Seit elf Jahren ist Deutschlands dienstältester Kultusminister im Amt: Schulsenator Ties Rabe (SPD) erklärt im Abendblatt-Sommerinterview, was er gegen die Leseschwäche vieler Schülerinnen und Schüler unternehmen will, kritisiert die hohe Zahl von Studienabbrechern und blickt auf das dritte Corona-Schuljahr voraus, das nächste Woche beginnt.

Hamburger Abendblatt: Das dritte Corona-Schuljahr steht bevor. Worauf müssen sich die Schulen einstellen?

Ties Rabe: Die gute Nachricht ist, dass die Bundesregierung sehr klar gesagt hat, Schulschließungen wird es nicht mehr geben. Das ist eine große Sicherheit, die die Schulen jetzt brauchen. Was mögliche künftige Sicherheitsmaßnahmen angeht, sollen die Schulen nicht anders behandelt werden als andere öffentliche Bereiche, nicht besser und nicht schlechter. Das ist ein zweiter wichtiger Punkt. Ansonsten gehen wir in das Schuljahr genauso, wie wir vor den Sommerferien aufgehört haben. Die Sicherheitsmaßnahmen können jederzeit wieder in Kraft gesetzt werden. Aber solange es die Infektionslage nicht gebietet, soll die Schule ein Ort des normalen Lebens sein wie andere öffentliche Bereiche auch.

Gibt es eine Art Stufenplan, ab wann welche Sicherheitsmaßnahmen wie etwa die Masken- oder Testpflicht greifen könnten?

Kein Stufenplan hat in der Vergangenheit Bestand gehabt, den ein Schulministerium allein definiert hat. Es macht insofern keinen Sinn, wenn die Schulbehörde hier etwas allein auf den Weg bringt. Wir handeln nach den Vorgaben, die die Ministerpräsidenten zusammen mit der Bundesregierung ausarbeiten. Im Moment hat sich die Bundesregierung noch nicht mit großer Klarheit geäußert, ob die Inzidenz, die Hospitalisierungs- oder Mortalitätsrate die Leitlinie für das künftige Handeln sein soll. Aber wir sind gut vorbereitet. Wenn es erforderlich ist, werden wir zum Beispiel die Luftfilter sehr schnell wieder einschalten oder die Testpflicht einführen können.

Corona: Rabe schließt Schulschließungen in Hamburg aus

Und wie sieht es mit der Maskenpflicht aus?

Eine Maskenpflicht darf es laut Bundesregierung vor dem 1. Oktober nicht geben und danach nur für die weiterführenden Schulen. Zuallerletzt würde es zu Änderungen des Schulbetriebs kommen, nicht aber zu Schulschließungen, nicht zu Wechselunterricht. Ich will auch keinen Wechselunterricht, der in Wahrheit auch eine Schulschließung ist, nämlich zu 50 Prozent. Darüber reden wir also nicht, sondern gegebenenfalls über Einschränkungen im Musik- oder Sportunterricht oder im Verhalten auf dem Schulhof. Das sollte aber nur das letzte Mittel sein.

Können Sie garantieren, dass es angesichts der Energiekrise in den Klassenräumen warm genug ist, oder müssen die Schülerinnen und Schüler frieren?

Wir haben uns die Temperaturvorgaben gemeinsam mit Schulbau Hamburg angesehen. Unsere Vorgaben entsprechen dem, was auch in anderen Lebensbereichen üblich ist: Im Klassenraum sollen es 20 Grad sein und 14 bis 17 Grad in den Sporthallen. Ich finde, die Schulen haben einen Anspruch darauf, dass bei uns die gleichen Regeln gelten wie in anderen Bereichen. Kälter sollte es nicht sein.

Und Sie garantieren, dass es nicht kälter wird, wenn die Energieversorgung schlechter werden sollte?

Die Schulen gelten als schützenswerte Institutionen, die nicht von der Gasversorgung abgeschaltet werden. Von daher gehe ich fest davon aus, dass die Kinder nicht im Schneeanzug und mit Pudelmütze im Klassenraum sitzen müssen, sondern in angenehmer Atmosphäre lernen können.

Die digitale Ausstattung der Schulen bleibt ein wichtiges Thema. Anfang des Jahres waren 60 Prozent der Bundesmittel aus dem Digitalpakt – 95 Millionen Euro – abgerufen worden. Wie sieht es jetzt aus und wofür wurde das Geld verwendet?

Eigentlich ist unser Geld ausgegeben, die meisten Investitionen sind getätigt. Wir haben für die Schülerinnen und Schüler und für die Lehrerinnen und Lehrer über 45.000 Laptops gekauft. Und wir haben jeden Klassenraum mit einer digitalen Tafel ausgestattet, in der Regel große Flachbildschirme oder Beamer-Konstruktionen. Wir haben darüber hinaus in die Ertüchtigung des WLAN investiert – ein sehr teures Projekt. Aufgrund der dicken Mauern und Wände alter Schulgebäude brauchen wir ungewöhnlich viele Access-Points, also Zugangsstationen. Alle weiterführenden Schulen haben jetzt hochwertiges WLAN in allen Klassenräumen. Einige Grundschulen verfügen zurzeit noch über eine abgespeckte Variante, aber Ende des Jahres soll die Ertüchtigung auf den Standard der weiterführenden Schulen abgeschlossen sein.

Heißt das, dass es an den Grundschulen dann WLAN mit einem Gigabit geben soll?

An Grundschulen mindestens 500 m/bit, Ziel ein Gigabit. An weiterführenden Schulen ein Gigabit.

Es gibt immer wieder die Kritik, dass die Schulen in sozialen Brennpunkten schlechter ausgestattet seien als Standorte in anderen Stadtteilen. Was sagen Sie zu der Kritik?

Das ist Quatsch. Wir haben eine klare Vorgabe gemacht: Wir nutzen das Bundes-Geld, um für jeden vierten Schüler an den Grundschulen einen Laptop zu kaufen, an den weiterführenden Schulen für jeden fünften. Das gilt für alle Hamburger Schulen. Eigentlich war von der Bundesregierung nur ein Gerät für jeden zehnten Schüler ermöglicht worden, aber weil andere vom Bund vorgesehene Maßnahmen bei uns schon umgesetzt waren, konnten wir mehr für die Schüler tun als vorgesehen war.

Hamburg: Schulbaumaßnahmen geraten ins Stocken

Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen mehr als 44 neue Schulen und etliche Standorte erweitert werden, um den erwarteten Schülerzuwachs aufzufangen. Ist das Programm angesichts wachsender Baustoffknappheit noch zu halten?

Man darf hier durchaus besorgt sein. Wir haben schon im letzten Jahr die Erfahrung gemacht, dass wir nicht alle Bauprojekte umsetzen konnten. Wir haben im vergangenen Jahr für Schulneubauten 400 Millionen Euro bereitgestellt und mussten leider feststellen, dass es nicht gelungen ist, das Geld auszugeben. Der Markt in Hamburg ist derart angespannt, dass wir nicht genügend Handwerkerfirmen finden. Die Stadt hat sich hier allerdings auch eine große Aufgabe gestellt. Der einfachere Weg wäre, die Zahl der Schüler in den Klassen etwa von 25 auf 28 zu erhöhen. Wir wollen das ausdrücklich nicht. Deshalb müssen und werden wir viele neue Unterrichtsräume bauen und auch viele zusätzliche Lehrkräfte einstellen.

Ihre Vorschläge für neue Bildungspläne mit einer Stärkung des Leistungsprinzips haben zu erheblichen Protesten von Schülern, Eltern und Lehrern geführt. Bleibt es dabei, dass Sie bis Ende September in Zusammenarbeit mit den Schulleitungen einen Änderungsvorschlag vorlegen wollen?

Ja. Es war richtig, dass wir neue Bildungspläne im Entwurf präsentiert haben. In den alten kam das Thema Digitalisierung nicht vor, und die Weiterentwicklung von Pädagogik und Schule war nicht angemessen berücksichtigt. Wir haben immer gesagt, dass wir auf Kritik eingehen und nachbessern werden. Die Entwürfe werden jetzt überarbeitet.

Rabe: Zahl der Klausuren muss erhöht werden

Werden Sie bei der Erhöhung der Zahl der Klausuren und der stärkeren Gewichtung des Schriftlichen gegenüber dem Mündlichen nachgeben?

Die Zahl der Klausuren muss erhöht werden. Die Entwürfe haben eine Vorgabe gemacht, die sehr weitgehend ist. Ich kann mir vorstellen, dass wir da einen Kompromiss finden werden. Was die Gewichtung des Schriftlichen gegenüber dem Mündlichen angeht, gibt es die Tendenz in der Kultusministerkonferenz, dem Hamburger Vorschlag zu folgen. Da sind wir offensichtlich auf einem guten Weg.

Bislang gilt bei der Benotung, dass mündliche und schriftliche Leistungen im Verhältnis 60 zu 40 Prozent bewertet werden.

Offiziell steht in den noch gültigen Bildungsplänen, dass das Schriftliche nicht überwiegen darf. Übersetzt wird es in den meisten Schulen mit 40 zu 60. Mindestens in der Oberstufe kann ich mir vorstellen, dass es zu 50/50 kommt. In den anderen Jahrgangsstufen kann man möglicherweise auch mit dem Prinzip 40 zu 60 leben.

Zugunsten des Schriftlichen?

Nein, zugunsten des Mündlichen.

Das wäre ja dann gar keine Veränderung.

Das Anliegen der Schulbehörde ist es, dass die Schriftlichkeit gestärkt wird. Da müssen wir besser werden, weil Hamburgs Schüler hier nachweislich große Schwächen haben. Da gibt es viele Stellschrauben. Dazu zählt die Frage, wie viele Klausuren geschrieben werden, wie viele ersetzt werden können zum Beispiel durch Präsentationen, und dazu zählt auch die Frage der Bewertung. Nicht alle Vorschläge, die in den Entwürfen stehen, müssen umgesetzt werden.

Sie haben vor zwei Monaten für viel Wirbel gesorgt, als Sie vor der Bürgerschaft sagten: „Wir werden uns nicht damit abfinden, dass 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler nach Klasse vier so schlecht lesen, dass sie gerade eben ein Pixi-Buch lesen können und an jedem Schulbuch scheitern.“ Wie kann das in einem so gut ausgestatteten Schulsystem wie dem Hamburger angehen?

In der Tat ist das ein großes Problem – und zwar ein bundesweites. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wir haben eine veränderte Schülerschaft. In 28 Prozent der Familien wird in Hamburg zu Hause nicht Deutsch gesprochen. Viele Kinder kommen aus bildungsfernen Familien. Und die Schule ist mit vielen zusätzlichen Aufgaben konfrontiert, sodass die Basics Lesen, Schreiben und Rechnen nicht mehr die Rolle spielen wie noch vor längerer Zeit. Das will ich ändern.

Kinder sollen mehr Zeit zum Lesenlernen bekommen

Wie?

Ich will, dass wir beim Lesen, Schreiben und Rechnen sorgfältiger sind, mehr Zeit aufwenden und den Kindern mehr Zeit zum Üben lassen. Wir haben zum Beispiel mit dem Programm BISS – Bildung in Sprache und Schrift – in Zusammenarbeit mit dem Mercator-Institut neue Formen des Lesenlernens in den Schulen auf den Weg gebracht. Die ausführenden Wissenschaftler sagen uns sehr deutlich, dass es derzeit auch an der Übung mangelt. Wenn Kinder nicht ständig selber lesen, lernen sie es nicht. Oft wird in der Schule zu wenig geübt. Das wollen wir ändern.

Dass 20 Prozent der Viertklässler nicht richtig lesen können, ist doch eigentlich ein Offenbarungseid für einen Schulsenator, der wie Sie seit elf Jahren im Amt ist, oder?

Das treibt mich um, das macht mich traurig, wühlt mich auf und empört mich. Das will ich ganz offen sagen. Es ist auch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, denn es sind ja immer dieselben Gruppen, die hier durch das Raster fallen. Es sind Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien, deren Eltern vielfach selbst in der Schule Schwierigkeiten hatten. Das ist für unser Schulsystem eine ganz schwierige Lage. Aber alle Länder von Baden-Württemberg bis Berlin haben exakt die gleichen Probleme. Im Bundesvergleich hat sich Hamburg sogar deutlich verbessert.

Jedes Jahr wird der Rekord von 1,0-Abiturienten überboten und die Zahl der Absolventen mit einer Eins vor dem Komma wächst. Werden die Lehrerinnen und Lehrer immer großzügiger mit den Noten?

Wir gucken uns das genau an. Die Zahl der 1,0-Abiturienten steigt zwar. Der Durchschnitt der Abiturnote dagegen hat sich in Hamburg über fast zehn Jahre mit etwa 2,4 kaum geändert. Eine Ausnahme bildet die Corona-Phase. Eigentlich müssen sich alle Lebensbereiche fragen, ob sie mit der Bewertung immer richtig liegen. An den Hochschulen etwa fallen Absolventen mittlerweile schon auf, wenn sie mit einer Zwei ihr Examen machen.

Kann es sein, dass die Schülerleistung immer weiter auseinanderklafft, es also eine größer werdende Gruppe in der Leistungsspitze gibt – und eine andere, ebenfalls wachsende Gruppe am unteren Ende?

Dass die Heterogenität der Schüler immer größer wird, ist in allen Bereichen klar abzulesen. Das kann hier auch eine Rolle spielen. Beim Abitur ist für mich klar: Wir wollen helfen und fördern – aber am Ende muss jeder die nötige Leistung bringen. Das Abitur soll unter meiner Leitung keinen Millimeter leichter werden. Wir waren deshalb sehr konsequent, als es darum ging, bundesweite Vorgaben in Hamburg umzusetzen, weil wir ein Abitur auf Bundesliga-Niveau wollen und kein anderes.

Sie haben beklagt, dass 60 Prozent der Schulabgänger mit dem ersten und mittleren Abschluss keinen Ausbildungsplatz finden. Was kann man dagegen unternehmen?

Ich finde, das ist bedrückend. Wir kümmern uns so stark um Abiturienten und das Studium. Aber das hier Tausende von jungen Menschen ohne eine Perspektive zurückbleiben, das darf nicht so bleiben. Zu Beginn meiner Amtszeit fanden sogar nur 25 Prozent der Schulabgänger einen Ausbildungsplatz. Wir haben deshalb in der Schule das Fach Berufs- und Studienorientierung eingeführt. Zweitens haben wir mit der Jugendberufsagentur im Übergang zwischen Schule und Beruf eine Institution geschaffen, die alle Schülerinnen und Schüler berät. Drittens haben wir für die 60 Prozent, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, eine besondere Maßnahme in den Berufsschulen auf den Weg gebracht, nämlich Unterricht, bei dem die Schüler zugleich in den Betrieben lernen. Dadurch haben wir erreicht, dass viele von denen, die im ersten Anlauf keinen Ausbildungsplatz bekamen, ein Jahr später doch in einer Firma eine Ausbildung beginnen können. Dennoch müssen hier alle ran: die Schulbehörde, Lehrerinnen und Lehrer, die schon viel gemacht haben, und die Eltern. Wir brauchen aber auch die Betriebe. Es kann nicht sein, dass überall der Facharbeitermangel beklagt wird und jedes Jahr 2500 Hamburger Schülerinnen und Schüler nach dem Abschluss keinen Ausbildungsplatz finden.

Rabe: Zu viele Abiturienten gehen an die Uni

Wollen zu viele junge Menschen studieren? Droht gar eine „Akademikerschwemme“?

Lange Zeit hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Deutschland vorgeworfen, wir hätten zu wenige Akademiker. Ich bin froh, dass wir jetzt über die andere Richtung diskutieren. Denn tatsächlich gehen zu viele an die Uni. Das kann man daran klar erkennen, dass sehr viele abbrechen und das Studium nicht zu Ende bringen. Wie viele Abbrecher es gibt, wüsste ich gerne. Die Hochschulen müssten dieses schwierige Thema sorgfältiger aufarbeiten. Bundesweit gibt es hier kaum belastbare Zahlen. Während wir über jeden einzelnen Schulabbrecher Hamburgs genau Bescheid wissen, gilt das für Studienabbrecher nicht. Die Vermutungen sind, dass ein Viertel bis ein Drittel derjenigen, die ein Studium beginnen, am Ende nicht erfolgreich sind.

Könnte es in Hamburg in zwei bis drei Jahren zu einem Lehrermangel kommen, wie bereits jetzt in anderen Ländern?

Nein. Im Moment haben wir anderthalb bis doppelt so viele Bewerbungen wie Plätze. Deshalb rechne ich nicht so schnell mit einem Rückgang – auch weil wir gegengesteuert und die Zahl der Referendariats­plätze um 40 Prozent erhöht haben. Die Universität zieht jetzt nach und erhöht die Zahl der Masterstudienplätze. Hamburg hat im Moment eine gute, privilegierte Situation – aber das wird nicht so bleiben. Jeder zehnte Hamburger Abiturient müsste erfolgreich ein Lehramtsstudium abschließen, damit wir genügend Lehrer haben. Das ist wohl auf Dauer nicht zu erreichen, denn es gibt auch viele andere attraktive Berufe. Kein Bundesland wird einem Lehrermangel entgehen können. Am langen Ende handelt es sich um ein demografisches Problem in Deutschland. Es werden weniger Kinder geboren. Das wird sich in allen Arbeitsfeldern auswirken, ob in Kitas und Schulen, im öffentlichen Dienst oder in der Wirtschaft.