Hamburg. Fahrlehrerin Bettina Netzow kennt die Gründe für die hohen Durchfallquoten – und hat hilfreiche Ratschläge für Neu-Autofahrer.

Gerade gestern hatte sie wieder so einen Fall. Sie stehen an einer roten Ampel, die Fahrschülerin soll rechts abbiegen. Es wird grün. Bettina Netzow fragt, wer jetzt Vorfahrt hat. Keine Antwort. Verschüchtert zieht die junge Frau den Kopf ein, als wollte sie sich vor der Frage wegducken. Dann streckt sie die Hand aus und zeigt nach links. Ob sie die Autos meine, die dort an der Ampel warten, fragt Bettina Netzow. Die Fahrschülerin nickt. Die Fußgänger, die rechts von ihr über die Straße gehen und die sie beim Abbiegen vorlassen muss, hat sie gar nicht wahrgenommen.

„Wenn ich den Leuten bei der Anmeldung sage, dass eine Fahrausbildung viele Stunden dauert und teuer werden kann, belächeln das viele“, sagt Bettina Netzow. „Man möchte den Führerschein, unterschätzt aber den doch enormen Lernaufwand. Viele glauben, dass es bei ihnen nicht so ist.“ Bettina Netzow leitet die Fahrschule Fölck/Netzow in Osdorf, ein Familienunternehmen, das ihr Vater vor mehr als 40 Jahren gegründet hat. Sie selbst ist seit 1984 dabei und hat beobachtet, wie sich Verkehr, Autofahrer und Fahrschüler in dieser Zeit gewandelt haben. Und dass rücksichtsloses Verhalten, Überheblichkeit und Angstzustände immer mehr zunehmen.

Verkehr Hamburg: Nur jeder zehnte Fahrschüler ist richtig vorbereitet

„Als ich mit 18 meinen Führerschein gemacht habe, ging das ratzfatz – ein paar Fahrstunden, die Prüfung hat vielleicht 15 Minuten gedauert, und es musste nicht alles perfekt sein“, erinnert sich die 61-Jährige. Heute braucht ein Hamburger Fahrschüler im Schnitt 50 Fahrstunden, inklusive zwölf Pflichtstunden, die praktische Prüfung dauert 55 Minuten – und jeder zweite ist im vergangenen Jahr an ihr gescheitert. Damit ist Hamburg im Bundesländervergleich das Schlusslicht (wir berichteten). Doch woran liegt das?

Ein kleiner Teil der Fahrschüler, vielleicht zehn Prozent, gebe richtig Gas, so Bettina Netzow. „Die sind vorbereitet, stellen sich im Auto vor der Stunde schon mal alles ein und fragen mir Löcher in den Bauch“, sagt die Fahrschulleiterin. „Das macht richtig Spaß.“ Und dann gebe es die, die auch nach der fünften Kreuzung an der grünen Ampel stehen bleiben, weil sie nicht wissen, wer jetzt fahren darf. „Eigentlich ist es wirklich meine absolute Leidenschaft, unseren Schülern das Fahren beizubringen“, sagt Netzow. „Ich will auch einfach, dass alle das schaffen.“

Den Fahrschülern fehle es häufig an Selbstständigkeit

Doch wenn das Verständnis für jegliche Verkehrsregeln fehlt, weil das theoretische Wissen bulimiemäßig reingefressen und sofort danach vergessen wurde, kommt auch die versierteste Fahrlehrerin an ihre Grenzen. Der Zoom-Theorieunterricht während der Corona-Zeit, den so mancher bei Fernsehen nebenbei hat laufen lassen, hat da natürlich nicht geholfen. Diesen Schülern rät Bettina Netzow, erst mal die Theorie nachzuarbeiten, bevor sie weiter Zeit und Geld auf der Straße lassen.

Ein Problem sei, dass die größere Motivation teilweise von den Eltern komme – den Schülern fehle es häufig an Selbstständigkeit. „Die Schüler sind mit Terminen so durchgetaktet, dass Fahrstunden dazwischengeschoben werden“, sagt Netzow. „Eine Vorbereitung findet unter anderem dadurch nicht statt.“ Manche Eltern würden sie auch bitten, „mal Dampf“ bei den Kindern zu machen, damit endlich für die Theorieprüfung gelernt wird. Bettina Netzow lacht. Zum Autofahren gehört der eigene Antrieb.

Ängstlichkeit der Fahrschüler vor dem Verkehr

Ein anderes Phänomen, dass Netzow und ihre Kollegen immer verstärkter wahrnehmen, ist die Ängstlichkeit der Fahrschüler. Schweißnasse Hände am Steuer, ein zitterndes Bein auf der Kupplung und weit aufgerissene Augen, wenn ein anderes Auto auf sie zukommt, seien bei Fahrschülern keine Seltenheit mehr. Eine Erklärung für diese große Überforderung sei natürlich das enorme Verkehrsaufkommen. „Gefühlt hat sich der Verkehr in den vergangenen 30 Jahren vervierfacht“, sagt Netzow. Wenn nicht gerade Ferienzeit sei, wisse man gar nicht mehr, wo man in den Fahrstunden noch langfahren solle, weil es überall so voll sei.

Hinzu kommt laut Netzow, dass die Fahrschüler schon von Kindheit an kaum noch den Straßenverkehr vom Auto aus wahrnehmen, weil sie statt aus dem Fenster auf Tablet und Handy gucken. „Früher hat man Spiele gespielt wie: Wann wird die Ampel grün?“, sagt Netzow. „Heute spielen die Kinder auf der Rückbank Videospiele.“ Und bekämen dann später beim Anblick der vielen Autos um sie herum regelrecht Panik.

Verkehr Hamburg: Selbstüberschätzung – und fehlende Sprachkenntnisse

Neben der Überforderung gibt es die Selbstüberschätzung. „Ich kann schon Autofahren“, diesen Satz hört Bettina Netzow regelmäßig. Vor allem von sogenannten Umschreibern, die ihren Führerschein in ihrem Heimatland gemacht haben und jetzt in Deutschland durch die Prüfung müssen. Doch ein Auto fahren zu können und im deutschen Straßenverkehr zurechtzukommen, sind zwei Paar Schuhe. „Die sagen bei der Anmeldung, sie bräuchten vielleicht noch zwei Fahrstunden und wollen nicht hören, dass es mit Sicherheit nicht so schnell gehen wird“, sagt Netzow. Mit ein Grund, warum sie Umschreiber derzeit nicht in ihrer Fahrschule aufnehme.

Ebenso wie diejenigen, die nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen. Viele glaubten zwar, sie verstünden genug, auch weil die Theorieprüfung mittlerweile in zwölf Sprachen abgelegt werden könne, so Netzow. Doch für eine praktische Prüfung, in der immer deutsch gesprochen werde, reiche es oft nicht. „Wir raten, erst mal zumindest einen B2-Sprachkurs zu machen, um die Bewerber davor zu schützen, immens viel Geld in einen Führerscheinerwerb zu stecken – und am Ende eventuell keinen aufgrund der Sprachprobleme zu erhalten.“

Kosten für den Führerschein: 3500 und 4600 Euro

Einen Führerschein zu machen kostet in Hamburg in der Regel zwischen 3500 und 4600 Euro, eine Fahrstunde liegt bei 55 bis 70 Euro. „Durch die Inflation steigen auch bei uns die laufenden Kosten“, sagt Bettina Netzow. „Dadurch haben wir die Preise gerade etwas erhöht.“ 63 Euro kostet bei ihr eine Pkw-Fahrstunde.

Für Bettina Netzow ist es selbstverständlich, mit jedem Bewerber ein persönliches Anmeldegespräch zu führen, um einschätzen zu können, ob eine Aufnahme Sinn ergibt. Gerade auch vor dem Hintergrund der angespannten Lage auf dem Fahrschulmarkt. Wie berichtet, gibt es in Hamburg in Folge von Corona derzeit einen Ansturm auf Fahrschulen und Technische Prüfstellen, Fahrlehrer und Prüftermine sind knapp und die Wartelisten lang. Die Fahrschule Fölck/Netzow hat insgesamt acht Fahrlehrer – und hätte gerne Unterstützung. „Wir sind eine Ausbildungsfahrschule und suchen einen Fahrlehreranwärter“, sagt die Leiterin, die einen immer größeren Teil ihrer Arbeitszeit mit Planung und Organisation verbringen muss, damit die Schüler nicht zu lange Wartezeiten haben. „Es ist aber sehr schwer, geeignete Bewerber zu finden.“

Verkehr Hamburg: Der Markt für Fahrlehrer ist leer

Dasselbe gelte für gute Fahrlehrer – der Markt sei leer. Abwerben finde regelmäßig statt. Sie sei dankbar, dass ihre Mitarbeiter schon lange bei ihr arbeiteten, so Netzow.

Dass es so schwierig ist, Fahrlehrernachwuchs zu finden, liegt auch daran, dass Anwärter mindestens 21 Jahre alt sein und bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem anerkannten Lehrberuf haben müssen. Es ist also kein direkter Ausbildungsberuf, Fahrlehrer sind häufig Quereinsteiger. Für Bettina Netzow fehle es den Kandidaten neben pädagogischem Geschick aber oft auch an einer Kernkompetenz: Einfühlungsvermögen.

Fahrlehrerinnen und -lehrer werden dringend gesucht

„Ohne Empathie geht das nicht“, sagt Bettina Netzow. Man müsse zuhören, sich auf unterschiedliche Mentalitäten einstellen und auch mal trösten können – gerade bei den etwas verschüchterten Kandidaten. „Wenn man da zu forsch rangeht, brechen die doch in Tränen aus.“ Die Beziehung mit dem Fahrlehrer müsse passen – und es dürfe nicht ständige Wechsel geben. Bettina Netzow zögert, eigentlich will sie nicht über Mitbewerber sprechen. Doch zu oft sitzen junge Menschen vor ihr, die an einer anderen Fahrschule nicht weitergekommen sind. Zum Beispiel, weil ihnen dort ein Intensivkurs angeboten wurde: praktische Prüfung nach 30 Stunden.

„Man kann sich vorstellen, dass danach nicht jeder Bewerber für eine praktische Prüfung bereit und dadurch ein Durchfallen vorhersehbar ist“, sagt Netzow. Auch der weitere Verlauf könne sich schwierig gestalten, da es kaum ausreichende Fahrstunden und Prüftermine gebe. „Nicht jeder braucht 50 Fahrstunden, aber man muss bei jedem individuell gucken“, sagt Netzow, die betont, dass sie derzeit aber auch keine Fahrschulwechsler aufnehmen kann. Und manche Dinge bräuchten auch einfach Zeit – zum Beispiel, bis der Schulterblick zum Reflex werde.

Fehlende Rücksichtnahme der Hamburger Autofahrer

Der Fahrlehrerverband hatte im Abendblatt als einen Grund für die hohe Durchfallquote die Skrupellosigkeit und schwindende Rücksichtnahme der Hamburger Autofahrer genannt. Bettina Netzow und ihr Team können das bestätigen. „Selbst wenn ich privat mit einem unserer Fahrschulautos unterwegs bin und ganz normal fahre, werde ich ständig überholt“, sagt Bettina Netzows Tochter, Aline Hofmann – die dritte Generation im Familienbetrieb. „Die wollen mich einfach weghaben.“ Gerade jetzt, wo viele wieder ins Büro fahren würden, sei das Klima auf den Straßen rauer als noch vor Corona.

In den Fahrstunden hockten ihnen immer wieder Autofahrer regelrecht auf der Stoßstange – was die Fahrschüler natürlich extrem verunsichere. Auch einige Prüfer berichteten beispielsweise, wie Prüflinge einfach nicht die Spur wechseln konnten, weil sie schlicht niemand reingelassen habe.

"Vielen steht die Prüfung mehr bevor als das Abitur"

Überhaupt, die Prüfung. Da herrsche heute ein großer Druck, so Aline Hofmann. Von außen, aber auch von den Fahrschülern selbst. „Wir versuchen, sie runterzuholen, aber das ist nicht einfach“, sagt die 34-Jährige. Vielen stünde die Prüfung mehr bevor als das Abitur. Und der Prüfer wird zu einer regelrechten Angstfigur.

„Es reicht schon, wenn er eine altersbedingte Stirnfalte hat – dann ist der Fahrschüler direkt verunsichert, weil er meint, der Prüfer gucke ihn böse an“, sagt Bettina Netzow. Sie lacht – auch wenn sie mit ihren Schülern bei jeder Prüfung mitleide. „Du kennst deinen Fahrschüler mit seinen Stärken und Schwächen, aber du kennst nicht deinen Prüfling“, sagt sie. Neulich sei ein Prüfling, bei dem es eigentlich super lief, einfach plötzlich während einer Grundfahraufgabe stehen geblieben. Als der Prüfer gefragt habe, warum er das jetzt mache, habe er geantwortet: Sie haben mich so angeguckt, als ob ich etwas falsch gemacht hätte.

Verkehr Hamburg: Helfen könnte der Automatikführerschein

Etwas falsch zu machen, geht in einer Fahrprüfung schnell – einmal nicht richtig reagiert, und von einer auf die andere Sekunde ist es vorbei. Das kann jedem passieren. Trotzdem ist die Vorbereitung entscheidend. „Man muss einfach üben“, sagt Bettina Netzow, an deren Fahrschule die Durchfallquote unter dem Durchschnitt liege. „Ein Führerschein ist mit Arbeit verbunden.“ Sie wünscht sich, dass das auf mehr Akzeptanz stoße.

Helfen könnte laut Netzow künftig die Klasse B197, der Automatikführerschein. Der Schüler müsse sich in einem Wagen mit Automatikgetriebe nicht aufs Schalten konzentrieren und könne besser auf den Verkehr achten, vor allem auch in der praktischen Prüfung. Mit mindestens zehn zusätzlichen Stunden in einem Schaltwagen und einer 15-minütigen Testfahrt nur mit dem Fahrlehrer dürften dann beide Fahrzeugtypen gefahren werden. Für Bettina Netzow durchaus der bessere Weg: „Das sollten viel mehr nutzen.“

Ein weiterer Wunsch der Fahrschullehrerin: Die anderen Verkehrsteilnehmer sollten ein Vorbild sein. Viel zu oft höre sie von ihren Fahrschülern den Kommentar: „Und warum darf der einen Führerschein haben?“ Da hat dann Bettina Netzow mal keine Antwort.