Silja Greuner und ihr ungeborenes Kind sterben im UKE. Ehemann Joachim verklagt die Uniklinik Eppendorf – wegen falscher Behandlung.

  • Innerhalb weniger Stunden sterben Mutter und Kind im UKE
  • UKE-Arzt hielt Sepsis bei der Mutter für eine Sommergrippe
  • Der Staatsanwalt ermittelt nun wegen des Verdachts eines Behandlungsfehlers

Der Junge sollte Maxim heißen. Der Name stand fest, das Kinderzimmer war fertig gestrichen, das Babybett zusammengeschraubt. Gut vier Wochen, bevor ihr zweites Kind zur Welt kommen sollte, hatten Silja und Joachim Greuner alles vorbereitet für den voller Glück erwarteten Familienzuwachs. Ihr erster Sohn Niklas freute sich auf die Geburt seines Brüderchens. Sie wären dann als Familie zu viert gewesen, ein Kleeblatt.

Es kam alles ganz anders. Es gab eine Katastrophe. Anstatt ihr Neugeborenes in seine Wiege zu betten, musste Joachim Greuner plötzlich darüber entscheiden, wie er seinen jüngeren Sohn bestatten lassen wollte. Das Leben des Kindes war zu Ende, bevor es begonnen hatte. Und auch seine Frau hat Joachim Greuner an jenem schicksalhaften Tag verloren. Mutter und Kind starben innerhalb weniger Stunden im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).

Mutter und Baby sterben im UKE

Jetzt liegen beide gemeinsam in einem Ruheforst bei Kummerfeld, unter einem Baum. „Wenn ich mit meinem sechsjährigen Sohn Niklas zum Grab gehe, dann wirkt es eher, als würden wir im Wald spazieren gehen“, sagt Joachim Greuner. „Das nimmt dem Ganzen die Schwere. Es hat etwas Lebensbejahendes.“ Lebensbejahend zu sein, das ist seit dem 23. Mai 2019, als seine halbe Familie gestorben ist, ein Hauptthema für Joachim Greuner geworden. Der 40-Jährige will es für seinen Sohn schaffen, der nun kein Brüderchen hat – und vor allem keine Mutter mehr.

Das UKE wollte sich wegen des laufenden Verfahrens nicht öffentlich äußern.
Das UKE wollte sich wegen des laufenden Verfahrens nicht öffentlich äußern. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services

Dabei hatte bis dahin alles so vielversprechend ausgesehen. Bis die in der 36. Woche schwangere Silja Greuner am 22. Mai plötzlich Fieber und Schüttelfrost bekam. Ihr Frauenarzt, an den sie sich wandte, bemerkte bei dem ungeborenen Kind einen beschleunigten Puls. Auf Empfehlung des Mediziners fuhr das Ehepaar Greuner ins UKE. „Das UKE ist ein Top-Krankenhaus“, betont der Mann, der in Hamburg selber als Anwalt arbeitet.

Vater spricht von Verkettung von Fehlern

Die Qualitäten der Klinik sieht er noch heute, auch nachdem in ebenjenem Krankenhaus seine Frau und sein Kind gestorben sind. „Aber Fehler passieren auch hier, und insbesondere die Fehlerkultur ist zu beanstanden. Leider hält das Krankenhaus die Qualität nicht beim Umgang mit Fehlern.“ Deshalb ist er jetzt dabei, eine Klage gegen das UKE auf den Weg zu bringen.

Die Probleme in der Klinik hätten begonnen, so erzählt es Joachim Greuner im Gespräch mit dem Abendblatt, schon kurz nachdem das Paar im UKE ankam. „Dort waren damals Umbauarbeiten“, erinnert er sich. „Wir saßen teilweise auf Fenstersimsen. Und meiner Frau ging es überhaupt nicht gut.“ In einem Behandlungszimmer seien die Herztöne von Mutter und Kind abgehört worden, außerdem wurde bei Silja Greuner Fieber gemessen. Die Temperatur der 37-Jährigen lag bei über 40 Grad. „Und irgendwann kam dieser junge Arzt und leitete die fürchterliche Verkettung von Fehlern in die Wege“, meint Joachim Greuner.

Sepsis wurde im UKE für Influenza gehalten

Denn dieser Mediziner vermutete bei Silja Greuner offenbar eine Sommergrippe, machte einen Bluttest und einen Rachenabstrich, der als „Influenza-Schnelltest“ in der Patientenakte vermerkt ist. Zur Analyse ging dieser „Schnelltest“ ins Labor. Das Ergebnis sei erst fast 24 Stunden später gekommen, schildert Joachim Greuner. Zu spät? Definitiv, ist er überzeugt. Seiner Frau wurde inzwischen Paracetamol verabreicht. Später bekam sie auch Wadenwickel.

Tatsächlich allerdings litt die Patientin an einer Sepsis, also einer Blutvergiftung, ausgelöst durch Streptokokken. Das sei aber erst 15 Stunden später erkannt worden, sagt Greuner. Die Symptome einer Influenza und einer Sepsis ähneln sich, unter anderem reagiert der Körper mit hohem Fieber. Eine Sepsis kann zu einem Multiorganversagen führen; an ihr sterben allein in Deutschland jedes Jahr rund 75.000 Menschen. Es ist die dritthäufigste Todesursache.

Joachim Greuner kritisiert, dass die Mediziner im UKE sich auf den Verdacht, seine hochschwangere Frau leide an einer Grippe, festgelegt hätten – und nicht auch eine Sepsis in Betracht gezogen hätten. Er hat inzwischen viel über solche hochgefährlichen Entzündungen gelesen. „Streptokokken sind überall“, sagt er. „Und sie sprechen normalerweise gut auf Antibiotikum an.“

Hätte Antibiotikum die Hochschwangere und das Baby retten können?

Er moniert, dass seiner Frau kein Antibiotikum verabreicht worden sei, obwohl es ihr immer schlechter ging, das Fieber weiter stieg, sie unter Schüttelfrost, Schwächegefühl und immer stärkeren Schmerzen gelitten habe. Alles Symptome, die zwar auf eine Grippe, aber ebenso auf eine Sepsis hindeuten könnten.

Ob eine Therapie mit Antibiotika wirklich geholfen hätte, könne man schlecht beurteilen, sagt Joachim Greuner. Aber klar sei: „Behandelt man eine Sepsis nicht, führt sie zum Tod. Daher muss man sofort handeln. Das ist vergleichbar mit einem Zug, auf den man noch aufspringt. Aber im nächsten Moment wäre der Zug nicht mehr zu erreichen.“

Offenbar ist die Sepsis bei Silja Greuner mit Höchstgeschwindigkeit vorangeschritten. In einem Gutachten ist später, nach dem überraschenden Tod der Frau, von einem „fulminanten Krankheitsverlauf“ die Rede, was in der Medizin gleichbedeutend ist mit „plötzlich, schnell und schwerwiegend“.

Frau schickt letztes Video aus dem Krankenhaus

Doch diese Erkenntnis kommt erst hinterher. Zunächst wird Silja Greuner, so erzählt es ihr Mann, weiter mit Schmerzmitteln behandelt. Offenbar ohne durchschlagenden Erfolg. In einem Telefonat mit ihrem Mann erzählt sie, dass sie Schmerzen habe. Kurz danach schickt sie ihm aus dem Krankenhaus ein kurzes Video. Es ist ihr letztes. Darin versichert sie ihrer Familie: „Ich habe meine Schätze auch ganz doll lieb.“ Und sie hoffe, dass sie „ganz, ganz bald wieder bei euch bin“.

Wenige Stunden später ist für die Äußerung von Gefühlen keine Kraft mehr, und vor allem auch keine Zeit. „Komm schnell, sie holen ihn jetzt“, ruft die 37-Jährige am Morgen des 23. Mai 2019 hektisch ins Telefon. Die Ärzte im UKE haben sich mittlerweile entschieden, einen Eilkaiserschnitt vorzunehmen, um das Kind zu retten. Zuvor hat ein erneuter Bluttest nachgewiesen, dass eine Sepsis vorliege. Da war Silja Greuner bereits seit 17 Stunden in der Obhut des UKE.

In einem Gutachten heißt es später, der Zeitpunkt des Kaiserschnitts sei „angemessen“ gewesen. Greuner sieht das anders. „Der Eilkaiserschnitt war ein weiterer schwerer Fehler, der niemals hätte passieren dürfen“, meint er.

Das Baby verstarb schon im Bauch der Mutter

Greuner beruft sich auf ein weiteres Gutachten, das ergeben habe, sagt der 40-Jährige, dass die Ärzte die Herztöne des Kindes vor dem Notkaiserschnitt überprüft hätten. „Was sie hörten, waren laut Gutachten die Herztöne der Mutter. Das Kind war bereits verstorben“, so der Anwalt. Hat also eine Verwechslung der Herztöne vorgelegen?

Joachim Greuner setzt sich, als er von dem Eilkaiserschnitt erfährt, von seinem Zuhause in Ellerbek aus sofort ins Auto, ist etwa eine halbe Stunde später in der Klinik. Zu seiner Frau wird er erst mal nicht gelassen, „was mich gewundert hat“, sagt der Hamburger Rechtsanwalt. „Ich wollte ja bei der Geburt dabei sein.“ Später seien mehrere Ärzte zu ihm gekommen und hätten ihm mitgeteilt, dass sein Sohn tot sei. „Sie haben ihn mir in den Arm gedrückt“, erzählt Joachim Greuner.

Joachim Greuner nimmt Abschied von seiner Frau

In Bezug auf seine Frau hätten ihn die Ärzte „im Glauben gelassen, dass alles gut wird“. Doch schließlich seien mehrere Mediziner auf ihn zugekommen, einer dieser Ärzte sei der Chef der Abteilung für Geburtshilfe am UKE gewesen. Dieser habe ihm eröffnet, dass auch seine Frau tot sei. „Ich fragte: Wie kann es sein, dass beide sterben?“ Einer aus der Runde habe daraufhin geantwortet: „Sie stellen die richtigen Fragen.“

Joachim Greuner schildert weiter, dass er eine halbe Stunde nach der Todesnachricht von seiner Frau „Abschied nehmen durfte. In dem Abschiedsraum war ich allein bei ihr am Bett. Ich habe ihre Hand gehalten, geweint, mit ihr gesprochen.“ Schließlich habe er es „im Krankenhaus nicht mehr ausgehalten. Zu Hause sitzt man dann mit der Familie, mit Freunden und versucht, sein Leben irgendwie zu sortieren und die Frage zu klären: Wie geht es weiter?“

„Wie kann man so mit Angehörigen umgehen?"

Noch am selben Tag sei ihm klar gewesen, dass er die Art, wie man mit seiner Familie und ihm im UKE umgegangen sei, nicht einfach so hinnehmen werde. „Es ist ein unsäglicher Zustand, dass man mich nicht in Kenntnis gesetzt hat, wie schlecht es um meine Frau steht“, meint der 40-Jährige. „Wie kann man so mit Angehörigen umgehen? Ich hätte erwartet, dass man mich über den Gesundheitszustand meiner Frau vernünftig aufklärt.“ Und vor allem meint er: „Der Tod meiner Frau und meines Sohnes hätte aus meiner Sicht vermieden werden können.“ Vom UKE hieß es dazu auf Abendblatt-Anfrage lediglich, man äußere sich grundsätzlich nicht zu laufenden Verfahren.

Joachim Greuner ist überzeugt, dass es jedenfalls zwei Pflichtverletzungen gegeben habe — zunächst, als es versäumt worden sei, seiner Frau Antibiotika gegen eine mögliche Sepsis zu verabreichen. Und später, als man „fälschlicherweise glaubte, das ungeborene Kind lebe noch, und deshalb den Notkaiserschnitt vorgenommen hat. Dieser Eingriff hat Siljas Körper ex­trem belastet und zu hohem Blutverlust geführt. Das war nach meiner Überzeugung der Sargnagel für meine Frau.“

Beteiligte suchten nicht das Gespräch

Das Hauptargument des UKE ist laut Greuner heute, dass die Blutprobe, die bei der Aufnahme von Silja Greuner vorgenommen wurde, schon Werte angezeigt habe, nach denen sie nicht mehr zu retten gewesen sei. In einer Stellungnahme der Klinik hieß es entsprechend im Oktober 2019, die Patientin sei angemessen behandelt worden. „Unserer Einschätzung nach war dieser dramatische Verlauf für uns leider bei der Aufnahme in keiner Weise zu erwarten gewesen, sodass die von uns getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen nachvollziehbar werden.“ Der „dramatische Auflauf“ der Erkrankung sei „unumkehrbar“ gewesen, „nicht mehr aufzuhalten“.

Dies bezweifelt Greuner. „Wenn das so wäre, müsste man die Patientin doch gleich auf die Palliativ-Station verlegen oder versuchen, wenigstens das ungeborene Kind zu retten“, findet der 40-Jährige. „Und dann stellt sich die Frage, warum sie überhaupt zweimal operiert wurde und diese Einsicht, dass sie ohnehin nicht rettbar war, erst nach ihrem Tod festgestellt wurde.“ Er hätte sich „gewünscht“, betont der Anwalt, „dass einer der Beteiligten am UKE das Gespräch mit mir sucht“. Das sei nicht geschehen.

Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen wieder auf

Im Totenschein von Silja Greuner ist seitens des UKE vermerkt, dass es sich um einen natürlichen Tod gehandelt habe. Trotzdem solle eine rechtsmedizinische Obduktion erfolgen. Aus dieser hätten sich Zweifel an der angegebenen Todesart ergeben, notierte eine Mitarbeiterin. Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft parallel aufnahm, wurden eingestellt, dann aber auf Antrag von Greuner jüngst wieder aufgenommen.

Außerdem wurden weitere Gutachten erstellt, unter anderem von der Schlichtungsstelle Nord. „Ich hatte die Hoffnung, dass die Schlichtungsstelle, welche mittlerweile bei der Landesärztekammer angesiedelt ist, eine abschließende Stellungnahme geben würde“, sagt Joachim Greuner. „Aber dann hieß es, man werde ein weiteres Gutachten einholen. Da bin ich vom Glauben abgefallen. Man fragt sich: Was soll da noch rauskommen? Wenn Sie die Hälfte der Familie verlieren und hinterher in Stellungnahmen lesen, dass Frau und Kind angeblich ohnehin nicht zu retten waren, dann ist irgendwo der Punkt erreicht, wo ich mich wehren muss.“

Vater will wieder nach vorn blicken

Deshalb bereite er jetzt gegen die Klinik eine Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes vor. „Es geht mir aber nicht um Rache“, betont er. „Der Punkt, der mich eigentlich dazu bewegt hat, gegen das UKE vorzugehen: Ich glaube, dass es eine gewisse Hybris der Ärzte gibt und dazu eine Grundsatzeinstellung des UKE, nach der es einfach nicht zu Fehlern komme.“ Indem er jetzt rechtlich gegen das Krankenhaus vorgehe, werde er „das System nicht ändern“, fürchtet Greuner. Doch es gebe diverse Möglichkeiten, andere Patienten zu unterstützen, etwa, so schlägt er vor, indem in solchen Fällen mit möglichen ärztlichen Pflichtverletzungen die Verfahren beschleunigt werden.

„Für mich ist das Schlimmste das Warten. Dieses Nicht-abschließen-Können.“ Dabei sei genau dies wichtig: wieder in der Lage zu sein, nach vorn zu blicken. „Mein Eindruck ist, dass nicht alles mit dem nötigen Nachdruck verfolgt wird.“

Greuner fordert mehr Aufmerksamkeit für Sepsis

Greuner kritisiert zudem, dass die Schlichtungsstelle, die sich um solche Verfahren kümmert und Gutachter benennt, bei der Hamburger Ärztekammer angesiedelt sei. Damit gebe es eine ungute Nähe. „Ein Verbesserungsvorschlag wäre, dass Ärztekammern aus einem anderen Bundesland die Fälle beurteilen, weil es dann neutraler wäre. Oder dass die Schlichtungsstellen die Sachverständigen nicht benennen, sondern dass diese anonym bleiben und damit unbefangener ihre Gutachten erstellen.“ Zudem wünscht sich Greuner, dass bei der Arztausbildung ein stärkerer Fokus auf das Thema Sepsis gelegt werde. Immerhin handele es sich dabei um eine sehr häufige Todesursache.

Auffällig sei, dass er, nachdem „Der Spiegel“ zuerst über seinen Fall berichtet hatte, viele Zuschriften bekommen habe von Menschen, die „ebenfalls ungute Erfahrungen gemacht haben, und das auch am UKE“, erzählt Greuner. „Außerdem haben sich viele renommierte Professoren gemeldet und mir Unterstützung angeboten“, erzählt Greuner.

UKE-Fall schlägt Wellen bis New York

Er ist jetzt dabei, einen Verein für Betroffene zu gründen. Der Name steht schon fest: „Der Verein wird Mija e. V. heißen, nach den Vornamen meiner verstorbenen Frau und meines toten Sohnes.“ Und zuletzt habe sein Fall „Wellen geschlagen bis zum Gesundheitsamt von New York“, wo das Thema Sepsis sehr aufmerksam verfolgt werde. „Nach dem Tod eines Zwölfjährigen im Jahr 2012 wurden dort von den Behörden Notfallpläne in Bezug auf Sepsis geschaffen“, erklärt Joachim Greuner.

Jetzt wurde er außerdem zur Welt-Sepsis-Tagung eingeladen, die am 16. September in Berlin stattfindet. „Da soll ich eine kurze Rede halten. Als Betroffener. Ich hoffe, dass durch die Öffentlichkeitsarbeit die Missstände in deutschen Kliniken verbessert werden – und weniger Menschen an einer Blutvergiftung sterben müssen.“